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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das biirgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

bewährtes Gesetzbuch ganz so, wie es ist, oder doch mit möglichst wenigen
Abänderungen auch bei uns einzuführen. Warum thut man denn das
nicht?

Natürlich hat auch die gemeinrechtliche Wissenschaft dadurch, daß ihr die
reichen Kräfte der preußischen Rechtsprechung entzogen wurden, schwere Einbuße
erlitten. Gleichwohl wird unbedenklich behauptet werden dürfen, daß das gesundeste
Leben der deutschen Rechtswissenschaft noch auf dem Gebiete des gemeinen Rechtes
liegt. Seinem Fortbestande ist es zu danken, daß auf den Universitäten allgemein
noch römisches Recht als Grundlage unsrer gesamten Rechtsbildung gelehrt wird
und damit der belebende Geist der römischen Rechtswissenschaft uns erhalten ge¬
blieben ist. Von der gemeinrechtlichen Wissenschaft sind alle Fortschritte aus¬
gegangen, die im Laufe dieses Jahrhunderts im Rechte gemacht worden sind.
Hie und da haben diese Fortschritte selbst bis in die Gebiete des kodifizirten
Rechtes ihre Wirkung geübt. Charakteristisch ist es, daß alle diejenigen, welche
in neuerer Zeit das preußische Landrecht wissenschaftlich bearbeiteten (Borne¬
mann, Förster, Ennius, Dernburg), eine gemeinrechtliche Schule durchgemacht
haben. Hat doch selbst das erste umfassende biographische Denkmal, das dem
Schöpfer des Landrechts, Svarcz, gesetzt worden ist, auf einen gemeinrechtlichen
Juristen (stützet) warten müssen. Das gemeine Recht ist bis auf den heutigen
Tag die Rechtsschule für ganz Deutschland geblieben.

Diese Rechtsschule wird, sobald Deutschland ein allgemeines Gesetzbuch er¬
hält, für immer geschlossen sein. Die Wirkung davon wird weit tiefer greifen,
als die bisherigen Beschränkungen des gemeinen Rechts auf engere Gebiete.
Es wird sich damit ähnlich verhalten wie bei einer Sonnenfinsternis, bei der
die tiefen Veränderungen in der Natur erst in dem Augenblicke eintreten, wo
die Sonne ganz den Blicken verschwindet. Alle übrigen juristischen Disziplinen
sind bereits kodifizirt. Wird nun auch das gesamte Zivilrecht unter den Bann
der Kodifikation gebracht, so hat das freie juristische Denken keine Stätte mehr.
Die Frage, ob etwas gerecht, ob es verständig sei, tritt fortan für den Juristen
ganz in den Hintergrund gegen die Fragen: Was steht geschrieben? Was mögen
diejenigen, die es geschrieben, wohl dabei gedacht haben? Auch wenn sie gar
nichts dabei gedacht haben sollten, muß doch das Gedachte herausgebracht
werden.

Es ist eigentümlich, daß jede Zeit auf die Schwächen früherer Zeiten mit¬
leidsvoll zurückblickt, aber selbst über solche erhaben zu sein glaubt. Wir erkennen
an, daß die früheren Kodifikationen keine gelungenen Werke seien. Wir erkennen
auch an, daß man im Jahre 1814 schwerlich ein gutes Zivilgesetzbuch geschaffen
haben würde. Aber heute-- heute sind wir dazu imstande! Auch darin
liegt eine Täuschung. Wir sind durchaus nicht so weit, daß wir die Rechts¬
wissenschaft vollkommen beherrschten. Unsre Theorien sind noch vielfach un¬
vollkommen und lückenhaft. Das wissen wir Praktiker am besten, die wir so


Das biirgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

bewährtes Gesetzbuch ganz so, wie es ist, oder doch mit möglichst wenigen
Abänderungen auch bei uns einzuführen. Warum thut man denn das
nicht?

Natürlich hat auch die gemeinrechtliche Wissenschaft dadurch, daß ihr die
reichen Kräfte der preußischen Rechtsprechung entzogen wurden, schwere Einbuße
erlitten. Gleichwohl wird unbedenklich behauptet werden dürfen, daß das gesundeste
Leben der deutschen Rechtswissenschaft noch auf dem Gebiete des gemeinen Rechtes
liegt. Seinem Fortbestande ist es zu danken, daß auf den Universitäten allgemein
noch römisches Recht als Grundlage unsrer gesamten Rechtsbildung gelehrt wird
und damit der belebende Geist der römischen Rechtswissenschaft uns erhalten ge¬
blieben ist. Von der gemeinrechtlichen Wissenschaft sind alle Fortschritte aus¬
gegangen, die im Laufe dieses Jahrhunderts im Rechte gemacht worden sind.
Hie und da haben diese Fortschritte selbst bis in die Gebiete des kodifizirten
Rechtes ihre Wirkung geübt. Charakteristisch ist es, daß alle diejenigen, welche
in neuerer Zeit das preußische Landrecht wissenschaftlich bearbeiteten (Borne¬
mann, Förster, Ennius, Dernburg), eine gemeinrechtliche Schule durchgemacht
haben. Hat doch selbst das erste umfassende biographische Denkmal, das dem
Schöpfer des Landrechts, Svarcz, gesetzt worden ist, auf einen gemeinrechtlichen
Juristen (stützet) warten müssen. Das gemeine Recht ist bis auf den heutigen
Tag die Rechtsschule für ganz Deutschland geblieben.

Diese Rechtsschule wird, sobald Deutschland ein allgemeines Gesetzbuch er¬
hält, für immer geschlossen sein. Die Wirkung davon wird weit tiefer greifen,
als die bisherigen Beschränkungen des gemeinen Rechts auf engere Gebiete.
Es wird sich damit ähnlich verhalten wie bei einer Sonnenfinsternis, bei der
die tiefen Veränderungen in der Natur erst in dem Augenblicke eintreten, wo
die Sonne ganz den Blicken verschwindet. Alle übrigen juristischen Disziplinen
sind bereits kodifizirt. Wird nun auch das gesamte Zivilrecht unter den Bann
der Kodifikation gebracht, so hat das freie juristische Denken keine Stätte mehr.
Die Frage, ob etwas gerecht, ob es verständig sei, tritt fortan für den Juristen
ganz in den Hintergrund gegen die Fragen: Was steht geschrieben? Was mögen
diejenigen, die es geschrieben, wohl dabei gedacht haben? Auch wenn sie gar
nichts dabei gedacht haben sollten, muß doch das Gedachte herausgebracht
werden.

Es ist eigentümlich, daß jede Zeit auf die Schwächen früherer Zeiten mit¬
leidsvoll zurückblickt, aber selbst über solche erhaben zu sein glaubt. Wir erkennen
an, daß die früheren Kodifikationen keine gelungenen Werke seien. Wir erkennen
auch an, daß man im Jahre 1814 schwerlich ein gutes Zivilgesetzbuch geschaffen
haben würde. Aber heute— heute sind wir dazu imstande! Auch darin
liegt eine Täuschung. Wir sind durchaus nicht so weit, daß wir die Rechts¬
wissenschaft vollkommen beherrschten. Unsre Theorien sind noch vielfach un¬
vollkommen und lückenhaft. Das wissen wir Praktiker am besten, die wir so


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[0464] Das biirgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung. bewährtes Gesetzbuch ganz so, wie es ist, oder doch mit möglichst wenigen Abänderungen auch bei uns einzuführen. Warum thut man denn das nicht? Natürlich hat auch die gemeinrechtliche Wissenschaft dadurch, daß ihr die reichen Kräfte der preußischen Rechtsprechung entzogen wurden, schwere Einbuße erlitten. Gleichwohl wird unbedenklich behauptet werden dürfen, daß das gesundeste Leben der deutschen Rechtswissenschaft noch auf dem Gebiete des gemeinen Rechtes liegt. Seinem Fortbestande ist es zu danken, daß auf den Universitäten allgemein noch römisches Recht als Grundlage unsrer gesamten Rechtsbildung gelehrt wird und damit der belebende Geist der römischen Rechtswissenschaft uns erhalten ge¬ blieben ist. Von der gemeinrechtlichen Wissenschaft sind alle Fortschritte aus¬ gegangen, die im Laufe dieses Jahrhunderts im Rechte gemacht worden sind. Hie und da haben diese Fortschritte selbst bis in die Gebiete des kodifizirten Rechtes ihre Wirkung geübt. Charakteristisch ist es, daß alle diejenigen, welche in neuerer Zeit das preußische Landrecht wissenschaftlich bearbeiteten (Borne¬ mann, Förster, Ennius, Dernburg), eine gemeinrechtliche Schule durchgemacht haben. Hat doch selbst das erste umfassende biographische Denkmal, das dem Schöpfer des Landrechts, Svarcz, gesetzt worden ist, auf einen gemeinrechtlichen Juristen (stützet) warten müssen. Das gemeine Recht ist bis auf den heutigen Tag die Rechtsschule für ganz Deutschland geblieben. Diese Rechtsschule wird, sobald Deutschland ein allgemeines Gesetzbuch er¬ hält, für immer geschlossen sein. Die Wirkung davon wird weit tiefer greifen, als die bisherigen Beschränkungen des gemeinen Rechts auf engere Gebiete. Es wird sich damit ähnlich verhalten wie bei einer Sonnenfinsternis, bei der die tiefen Veränderungen in der Natur erst in dem Augenblicke eintreten, wo die Sonne ganz den Blicken verschwindet. Alle übrigen juristischen Disziplinen sind bereits kodifizirt. Wird nun auch das gesamte Zivilrecht unter den Bann der Kodifikation gebracht, so hat das freie juristische Denken keine Stätte mehr. Die Frage, ob etwas gerecht, ob es verständig sei, tritt fortan für den Juristen ganz in den Hintergrund gegen die Fragen: Was steht geschrieben? Was mögen diejenigen, die es geschrieben, wohl dabei gedacht haben? Auch wenn sie gar nichts dabei gedacht haben sollten, muß doch das Gedachte herausgebracht werden. Es ist eigentümlich, daß jede Zeit auf die Schwächen früherer Zeiten mit¬ leidsvoll zurückblickt, aber selbst über solche erhaben zu sein glaubt. Wir erkennen an, daß die früheren Kodifikationen keine gelungenen Werke seien. Wir erkennen auch an, daß man im Jahre 1814 schwerlich ein gutes Zivilgesetzbuch geschaffen haben würde. Aber heute— heute sind wir dazu imstande! Auch darin liegt eine Täuschung. Wir sind durchaus nicht so weit, daß wir die Rechts¬ wissenschaft vollkommen beherrschten. Unsre Theorien sind noch vielfach un¬ vollkommen und lückenhaft. Das wissen wir Praktiker am besten, die wir so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/464>, abgerufen am 22.07.2024.