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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

Ranges berufen. Schon vor länger als siebzig Jahren schrieb Savigny*):
"Wir sollen uns in die alten Schriftsteller hineinlesen und denken, wie in andre
mit Sinn gelesene Schriftsteller, sollen ihnen ihre Weise ablernen und so dahin
kommen, in ihrer Art und von ihrem Standpunkte aus selbst zu erfinden und
so ihre unterbrochene Arbeit in gewissem Sinne fortzusetzen. Daß dies möglich
ist, gehört zu meinen lebendigsten Überzeugungen." Auch ich teile diese Über¬
zeugung und bin der Ansicht, daß in der That der bessere Teil der gemein¬
rechtlichen Theorie und Praxis, teilweise vielleicht nur unbewußt, dieser Richtung
folgt. Auf theoretischem Gebiete hat Savigny selbst in dem Werke seiner reifern
Jahre, dem "System," eine mustergiltige Leistung dieser Art geliefert. Auch
andre Theoretiker arbeiten in diesem Sinne, und ihnen sind vorzugsweise die
Fortschritte, die im Laufe dieses Jahrhunderts die Wissenschaft gemacht hat,
zu danken. Aber auch in der Praxis ist diese Richtung vielfach lebendig. Was
dem Praktiker dabei an theoretischer Kenntnis fehlt, das ersetzt er durch eine
andre Eigenschaft, die ihm über die Schwierigkeiten der Theorie vielfach hinweg¬
hilft und ihn nur selten ganz fehlgehen läßt, das ist sein praktischer Takt.
Hierdurch wird recht eigentlich der Wert unsrer Rechtsprechung getragen. Diese
Eigenschaft kann sich aber nur vollständig entwickeln, wo dem juristischen Denken
eine gewisse Freiheit bewahrt ist. In dieser geistigen Freiheit, die es der Recht¬
sprechung gewährt, liegt der große Vorzug des gemeinen Rechts.

Blicken wir nun auf den Rechtszustand in den Gebieten des kodifizirten Rechts,
vor allem des preußischen Landrechts, so ist ja nicht zu bezweifeln, daß unter
den dortigen Juristen gerade so gut gesunder Rechtssinn zu Hause ist, wie unter
den Juristen andrer Länder. Ich selbst habe mehrfach altpreußische Richter
kennen gelernt, die in ihren persönlichen Eigenschaften mir als Muster aller
richterlichen Tugenden vor Augen stehen. Auch ist der geistige Inhalt des
Landrechts durchaus nicht gering anzuschlagen. Seine Schöpfer waren geist¬
reiche Männer, mit einem hervorragenden gesunden Rechtssinn begabt. Dennoch
muß man sagen: auf die preußische Rechtswissenschaft ist ein Mehlthau gefallen.
Der preußische Jurist ist von vornherein auf den Standpunkt des gemeinrecht¬
lichen "Lehrbuchsjuristen" gestellt, nur daß sein Lehrbuch seit Ende des vorigen
Jahrhunderts preußisches Landrecht heißt. Wo er sich in freier, geistiger Thätig¬
keit ergehen, wo er in seinem natürlichen Rechtssinne die Glieder regen möchte,
da schlottern ihm stets die Paragraphen seines Landrechts um die Beine. Man
lese nur solche Rcchtserörterungen. Was sagt dieser Paragraph? Was jener?
Steht der und der Paragraph nicht im Wege? Das ist ihr regelmäßiger
Inhalt. Einer Entwicklung aus der Natur der Sache ist nirgends Raum ge¬
lassen. Die damit gegebene Geistesrichtung hat sich auch nicht etwa im Laufe
der Jahre gehoben. Sie ist naturgemäß fortgeschritten. Nach der Absicht der



*) Vom Berufe unsrer Zeit u. s. w., S. 120.
Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

Ranges berufen. Schon vor länger als siebzig Jahren schrieb Savigny*):
„Wir sollen uns in die alten Schriftsteller hineinlesen und denken, wie in andre
mit Sinn gelesene Schriftsteller, sollen ihnen ihre Weise ablernen und so dahin
kommen, in ihrer Art und von ihrem Standpunkte aus selbst zu erfinden und
so ihre unterbrochene Arbeit in gewissem Sinne fortzusetzen. Daß dies möglich
ist, gehört zu meinen lebendigsten Überzeugungen." Auch ich teile diese Über¬
zeugung und bin der Ansicht, daß in der That der bessere Teil der gemein¬
rechtlichen Theorie und Praxis, teilweise vielleicht nur unbewußt, dieser Richtung
folgt. Auf theoretischem Gebiete hat Savigny selbst in dem Werke seiner reifern
Jahre, dem „System," eine mustergiltige Leistung dieser Art geliefert. Auch
andre Theoretiker arbeiten in diesem Sinne, und ihnen sind vorzugsweise die
Fortschritte, die im Laufe dieses Jahrhunderts die Wissenschaft gemacht hat,
zu danken. Aber auch in der Praxis ist diese Richtung vielfach lebendig. Was
dem Praktiker dabei an theoretischer Kenntnis fehlt, das ersetzt er durch eine
andre Eigenschaft, die ihm über die Schwierigkeiten der Theorie vielfach hinweg¬
hilft und ihn nur selten ganz fehlgehen läßt, das ist sein praktischer Takt.
Hierdurch wird recht eigentlich der Wert unsrer Rechtsprechung getragen. Diese
Eigenschaft kann sich aber nur vollständig entwickeln, wo dem juristischen Denken
eine gewisse Freiheit bewahrt ist. In dieser geistigen Freiheit, die es der Recht¬
sprechung gewährt, liegt der große Vorzug des gemeinen Rechts.

Blicken wir nun auf den Rechtszustand in den Gebieten des kodifizirten Rechts,
vor allem des preußischen Landrechts, so ist ja nicht zu bezweifeln, daß unter
den dortigen Juristen gerade so gut gesunder Rechtssinn zu Hause ist, wie unter
den Juristen andrer Länder. Ich selbst habe mehrfach altpreußische Richter
kennen gelernt, die in ihren persönlichen Eigenschaften mir als Muster aller
richterlichen Tugenden vor Augen stehen. Auch ist der geistige Inhalt des
Landrechts durchaus nicht gering anzuschlagen. Seine Schöpfer waren geist¬
reiche Männer, mit einem hervorragenden gesunden Rechtssinn begabt. Dennoch
muß man sagen: auf die preußische Rechtswissenschaft ist ein Mehlthau gefallen.
Der preußische Jurist ist von vornherein auf den Standpunkt des gemeinrecht¬
lichen „Lehrbuchsjuristen" gestellt, nur daß sein Lehrbuch seit Ende des vorigen
Jahrhunderts preußisches Landrecht heißt. Wo er sich in freier, geistiger Thätig¬
keit ergehen, wo er in seinem natürlichen Rechtssinne die Glieder regen möchte,
da schlottern ihm stets die Paragraphen seines Landrechts um die Beine. Man
lese nur solche Rcchtserörterungen. Was sagt dieser Paragraph? Was jener?
Steht der und der Paragraph nicht im Wege? Das ist ihr regelmäßiger
Inhalt. Einer Entwicklung aus der Natur der Sache ist nirgends Raum ge¬
lassen. Die damit gegebene Geistesrichtung hat sich auch nicht etwa im Laufe
der Jahre gehoben. Sie ist naturgemäß fortgeschritten. Nach der Absicht der



*) Vom Berufe unsrer Zeit u. s. w., S. 120.
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[0462] Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung. Ranges berufen. Schon vor länger als siebzig Jahren schrieb Savigny*): „Wir sollen uns in die alten Schriftsteller hineinlesen und denken, wie in andre mit Sinn gelesene Schriftsteller, sollen ihnen ihre Weise ablernen und so dahin kommen, in ihrer Art und von ihrem Standpunkte aus selbst zu erfinden und so ihre unterbrochene Arbeit in gewissem Sinne fortzusetzen. Daß dies möglich ist, gehört zu meinen lebendigsten Überzeugungen." Auch ich teile diese Über¬ zeugung und bin der Ansicht, daß in der That der bessere Teil der gemein¬ rechtlichen Theorie und Praxis, teilweise vielleicht nur unbewußt, dieser Richtung folgt. Auf theoretischem Gebiete hat Savigny selbst in dem Werke seiner reifern Jahre, dem „System," eine mustergiltige Leistung dieser Art geliefert. Auch andre Theoretiker arbeiten in diesem Sinne, und ihnen sind vorzugsweise die Fortschritte, die im Laufe dieses Jahrhunderts die Wissenschaft gemacht hat, zu danken. Aber auch in der Praxis ist diese Richtung vielfach lebendig. Was dem Praktiker dabei an theoretischer Kenntnis fehlt, das ersetzt er durch eine andre Eigenschaft, die ihm über die Schwierigkeiten der Theorie vielfach hinweg¬ hilft und ihn nur selten ganz fehlgehen läßt, das ist sein praktischer Takt. Hierdurch wird recht eigentlich der Wert unsrer Rechtsprechung getragen. Diese Eigenschaft kann sich aber nur vollständig entwickeln, wo dem juristischen Denken eine gewisse Freiheit bewahrt ist. In dieser geistigen Freiheit, die es der Recht¬ sprechung gewährt, liegt der große Vorzug des gemeinen Rechts. Blicken wir nun auf den Rechtszustand in den Gebieten des kodifizirten Rechts, vor allem des preußischen Landrechts, so ist ja nicht zu bezweifeln, daß unter den dortigen Juristen gerade so gut gesunder Rechtssinn zu Hause ist, wie unter den Juristen andrer Länder. Ich selbst habe mehrfach altpreußische Richter kennen gelernt, die in ihren persönlichen Eigenschaften mir als Muster aller richterlichen Tugenden vor Augen stehen. Auch ist der geistige Inhalt des Landrechts durchaus nicht gering anzuschlagen. Seine Schöpfer waren geist¬ reiche Männer, mit einem hervorragenden gesunden Rechtssinn begabt. Dennoch muß man sagen: auf die preußische Rechtswissenschaft ist ein Mehlthau gefallen. Der preußische Jurist ist von vornherein auf den Standpunkt des gemeinrecht¬ lichen „Lehrbuchsjuristen" gestellt, nur daß sein Lehrbuch seit Ende des vorigen Jahrhunderts preußisches Landrecht heißt. Wo er sich in freier, geistiger Thätig¬ keit ergehen, wo er in seinem natürlichen Rechtssinne die Glieder regen möchte, da schlottern ihm stets die Paragraphen seines Landrechts um die Beine. Man lese nur solche Rcchtserörterungen. Was sagt dieser Paragraph? Was jener? Steht der und der Paragraph nicht im Wege? Das ist ihr regelmäßiger Inhalt. Einer Entwicklung aus der Natur der Sache ist nirgends Raum ge¬ lassen. Die damit gegebene Geistesrichtung hat sich auch nicht etwa im Laufe der Jahre gehoben. Sie ist naturgemäß fortgeschritten. Nach der Absicht der *) Vom Berufe unsrer Zeit u. s. w., S. 120.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/462>, abgerufen am 22.07.2024.