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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.

eine Menge wirtschaftlicher Fragen in Betracht. Aber es ist ganz augenfällig,
daß die Sozialdemokratie selbst -- und in ihr allein haben wir einen Sozia¬
lismus, der nicht gänzlich mit der Stange im Nebel herumfährt --, es ist
augenfällig, daß die Sozialdemokratie sich um den allergelehrtesten Professoren¬
streit über die größeren oder geringeren Aussichten der Kollektivproduktion nichts,
aber auch rein gar nichts kümmert. Warum? Einfach deshalb, weil der Kern
der sozialdemokratischen Bestrebungen von dieser ökonomischen "Quintessenz"
ganz unberührt bleibt. Dieser Kern aber ist ein rein politischer, der Besitz der
Staatsgewalt, um nach irgendeinem Maßstabe oder allgemeinen Gesichtspunkte
-- der wird sich dann schon finden! -- die thatsächliche Gleichheit zum Vorteil,
wenigstens zum augenblicklichen Vorteil des Proletariats durchzuführen. Und
die Sozialdemokraten haben Humor genug, auf alle Einwendungen gegen die
angeblich von ihnen vertretenen Wirtschaftsprinzipien zu antworten: Laßt uns
nur erst wirtschaften! Wie wirs dann treiben, ist unsre Sache. Sollten wir
ja bankerott machen, so bezahlt doch ihr die Zeche, nicht wir, die wir nichts
haben!

Es ist es eine schmerzliche Genugthuung für uns Deutsche, daß wir selbst
in unsern Verkehrtheiten den andern Nationen voraus sind. Wie überlegen an
Geist und wissenschaftlicher Einsicht steht Lassalle da im Vergleich mit den
gedankenreichsten unter den sozialistischen Schriftstellern Englands oder Frank¬
reichs! Keinen Augenblick hält er sich auf mit naturrechtlichen Doktorfragen:
ob wir ein Recht haben aufs Leben? ob nicht die Erde, wie Luft und Sonnen¬
licht, eigentlich allen zu gleichem Genuß zustehen muß u. dergl. Von ver¬
zehrenden Ehrgeiz beseelt, ist er entschlossen, eine Arbeiterbewegung ins Leben
zu rufen, sich von ihr emportragen zu lassen. Mit genialen Instinkt erspäht
er den Punkt, wo eine Agitation einzusetzen hat, um möglichst wirksam zu
werden. Er erhebt sich gegen das "eherne Lohngesetz," verspricht der Lohn¬
sklaverei ein Ende zu machen und das arbeitslose Einkommen, diesen Dorn im
Auge des Proletariats, aus der Welt zu schaffen. Bei utopischen Schilderungen
des zu erstrebenden Gesellschaftszustandes zu verweilen, ist auch nicht seine Sache.
Wenn erst die Kugel ins Rollen gekommen ist, wenn, unter zweckbewußter
Führung weiter schreitend, das Proletariat dem Endziel, der Herrschaft über
Staat und Gesellschaft, näher kommt, wird sich aus der Entwicklung der Dinge
das Mögliche und Notwendige von selbst ergeben. Den beiden Hauptformen,
unter denen sich das sozialistische Gleichheitsstreben Geltung zu verschaffen
sucht, dem Recht der Existenz und den. Recht auf den vollen Arbeitsertrag, hat
Lassalle in gleichem Maße Rechnung getragen. Der volle Arbeitsertrag für
den Arbeiter, ohne Abzug für den Kapitalisten und Unternehmer, sollte erreicht
werden durch die Produktivgenossenschaft; die Forderungen des Existenzrechtes
waren mit inbegriffen in dem Agitationsprogramm, welches Verbesserung der
Lage der untern Klassen als Zweck aussprach.


Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.

eine Menge wirtschaftlicher Fragen in Betracht. Aber es ist ganz augenfällig,
daß die Sozialdemokratie selbst — und in ihr allein haben wir einen Sozia¬
lismus, der nicht gänzlich mit der Stange im Nebel herumfährt —, es ist
augenfällig, daß die Sozialdemokratie sich um den allergelehrtesten Professoren¬
streit über die größeren oder geringeren Aussichten der Kollektivproduktion nichts,
aber auch rein gar nichts kümmert. Warum? Einfach deshalb, weil der Kern
der sozialdemokratischen Bestrebungen von dieser ökonomischen „Quintessenz"
ganz unberührt bleibt. Dieser Kern aber ist ein rein politischer, der Besitz der
Staatsgewalt, um nach irgendeinem Maßstabe oder allgemeinen Gesichtspunkte
— der wird sich dann schon finden! — die thatsächliche Gleichheit zum Vorteil,
wenigstens zum augenblicklichen Vorteil des Proletariats durchzuführen. Und
die Sozialdemokraten haben Humor genug, auf alle Einwendungen gegen die
angeblich von ihnen vertretenen Wirtschaftsprinzipien zu antworten: Laßt uns
nur erst wirtschaften! Wie wirs dann treiben, ist unsre Sache. Sollten wir
ja bankerott machen, so bezahlt doch ihr die Zeche, nicht wir, die wir nichts
haben!

Es ist es eine schmerzliche Genugthuung für uns Deutsche, daß wir selbst
in unsern Verkehrtheiten den andern Nationen voraus sind. Wie überlegen an
Geist und wissenschaftlicher Einsicht steht Lassalle da im Vergleich mit den
gedankenreichsten unter den sozialistischen Schriftstellern Englands oder Frank¬
reichs! Keinen Augenblick hält er sich auf mit naturrechtlichen Doktorfragen:
ob wir ein Recht haben aufs Leben? ob nicht die Erde, wie Luft und Sonnen¬
licht, eigentlich allen zu gleichem Genuß zustehen muß u. dergl. Von ver¬
zehrenden Ehrgeiz beseelt, ist er entschlossen, eine Arbeiterbewegung ins Leben
zu rufen, sich von ihr emportragen zu lassen. Mit genialen Instinkt erspäht
er den Punkt, wo eine Agitation einzusetzen hat, um möglichst wirksam zu
werden. Er erhebt sich gegen das „eherne Lohngesetz," verspricht der Lohn¬
sklaverei ein Ende zu machen und das arbeitslose Einkommen, diesen Dorn im
Auge des Proletariats, aus der Welt zu schaffen. Bei utopischen Schilderungen
des zu erstrebenden Gesellschaftszustandes zu verweilen, ist auch nicht seine Sache.
Wenn erst die Kugel ins Rollen gekommen ist, wenn, unter zweckbewußter
Führung weiter schreitend, das Proletariat dem Endziel, der Herrschaft über
Staat und Gesellschaft, näher kommt, wird sich aus der Entwicklung der Dinge
das Mögliche und Notwendige von selbst ergeben. Den beiden Hauptformen,
unter denen sich das sozialistische Gleichheitsstreben Geltung zu verschaffen
sucht, dem Recht der Existenz und den. Recht auf den vollen Arbeitsertrag, hat
Lassalle in gleichem Maße Rechnung getragen. Der volle Arbeitsertrag für
den Arbeiter, ohne Abzug für den Kapitalisten und Unternehmer, sollte erreicht
werden durch die Produktivgenossenschaft; die Forderungen des Existenzrechtes
waren mit inbegriffen in dem Agitationsprogramm, welches Verbesserung der
Lage der untern Klassen als Zweck aussprach.


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[0456] Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip. eine Menge wirtschaftlicher Fragen in Betracht. Aber es ist ganz augenfällig, daß die Sozialdemokratie selbst — und in ihr allein haben wir einen Sozia¬ lismus, der nicht gänzlich mit der Stange im Nebel herumfährt —, es ist augenfällig, daß die Sozialdemokratie sich um den allergelehrtesten Professoren¬ streit über die größeren oder geringeren Aussichten der Kollektivproduktion nichts, aber auch rein gar nichts kümmert. Warum? Einfach deshalb, weil der Kern der sozialdemokratischen Bestrebungen von dieser ökonomischen „Quintessenz" ganz unberührt bleibt. Dieser Kern aber ist ein rein politischer, der Besitz der Staatsgewalt, um nach irgendeinem Maßstabe oder allgemeinen Gesichtspunkte — der wird sich dann schon finden! — die thatsächliche Gleichheit zum Vorteil, wenigstens zum augenblicklichen Vorteil des Proletariats durchzuführen. Und die Sozialdemokraten haben Humor genug, auf alle Einwendungen gegen die angeblich von ihnen vertretenen Wirtschaftsprinzipien zu antworten: Laßt uns nur erst wirtschaften! Wie wirs dann treiben, ist unsre Sache. Sollten wir ja bankerott machen, so bezahlt doch ihr die Zeche, nicht wir, die wir nichts haben! Es ist es eine schmerzliche Genugthuung für uns Deutsche, daß wir selbst in unsern Verkehrtheiten den andern Nationen voraus sind. Wie überlegen an Geist und wissenschaftlicher Einsicht steht Lassalle da im Vergleich mit den gedankenreichsten unter den sozialistischen Schriftstellern Englands oder Frank¬ reichs! Keinen Augenblick hält er sich auf mit naturrechtlichen Doktorfragen: ob wir ein Recht haben aufs Leben? ob nicht die Erde, wie Luft und Sonnen¬ licht, eigentlich allen zu gleichem Genuß zustehen muß u. dergl. Von ver¬ zehrenden Ehrgeiz beseelt, ist er entschlossen, eine Arbeiterbewegung ins Leben zu rufen, sich von ihr emportragen zu lassen. Mit genialen Instinkt erspäht er den Punkt, wo eine Agitation einzusetzen hat, um möglichst wirksam zu werden. Er erhebt sich gegen das „eherne Lohngesetz," verspricht der Lohn¬ sklaverei ein Ende zu machen und das arbeitslose Einkommen, diesen Dorn im Auge des Proletariats, aus der Welt zu schaffen. Bei utopischen Schilderungen des zu erstrebenden Gesellschaftszustandes zu verweilen, ist auch nicht seine Sache. Wenn erst die Kugel ins Rollen gekommen ist, wenn, unter zweckbewußter Führung weiter schreitend, das Proletariat dem Endziel, der Herrschaft über Staat und Gesellschaft, näher kommt, wird sich aus der Entwicklung der Dinge das Mögliche und Notwendige von selbst ergeben. Den beiden Hauptformen, unter denen sich das sozialistische Gleichheitsstreben Geltung zu verschaffen sucht, dem Recht der Existenz und den. Recht auf den vollen Arbeitsertrag, hat Lassalle in gleichem Maße Rechnung getragen. Der volle Arbeitsertrag für den Arbeiter, ohne Abzug für den Kapitalisten und Unternehmer, sollte erreicht werden durch die Produktivgenossenschaft; die Forderungen des Existenzrechtes waren mit inbegriffen in dem Agitationsprogramm, welches Verbesserung der Lage der untern Klassen als Zweck aussprach.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/456>, abgerufen am 22.07.2024.