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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.

Blaues durch die Mißerfolge, die eine verkehrte Anwendung rasch herbeiführen
mußte, um den Kredit zu bringen. Die französische Nationalversammlung be¬
schäftigte sich in ihren Sitzungen vom 12. bis zum 16. September und am
2. November 1848 mit dem "Recht auf Arbeit," und die Verhandlung drehte
sich namentlich um die Frage, ob ein dem Staat gegenüber zu bestimmten For¬
derungen berechtigendes äroit, an travail oder nur das Recht auf Unterstützung
anzuerkennen sei. Thatsächlich hat dann die Verfassung vom 4. November 1848,
ähnlich wie die Konstitution von 1793, nur das Recht auf Unterstützung, etroit
a 1'g,88i8t>g,n<zö, gewährleistet.

Als zu Anfang der sechziger Jahre für Deutschland Ferdinand Lassalle
den Anstoß zu einer sozialistischen Bewegung gab, bezeichnete er den 24. Fe¬
bruar 1848 als den Ausgangspunkt für einen neuen Abschnitt der Kultur¬
entwicklung. Mit diesem Tage sei an die Stelle der Privilegienherrschaft, der
des Feudalismus sowohl als des Bourgeviskapitals, die Herrschaft des vierten
Standes getreten, der an sich kein Privileg mehr kenne und der dieses Prinzip
der absoluten Privilegienlosigkeit, des Wegfalls jeder Bevorzugung rechtlicher
oder thatsächlicher Art, durch die Einrichtungen der Gesellschaft hindurch führen
werde. Obwohl dieses "Arbeiterprogramm" in seiner Abstraktheit so dehnbar
ist, daß sogar der Zweifel entstehen kaun, ob damit in der That die Aufhebung
der bisherigen auf dem Privateigentum ruhenden Rechtsordnung verkündet sein
soll, so hat es doch vor den bis dahin in England und Frankreich aufgestellten
den großen Vorzug, daß es nicht an naturrechtliche, also willkürliche Voraus¬
setzungen anknüpft, sondern mit einer ohne Frage sehr scharfsinnig durchgeführten
geschichtsphilosvphischen Begründung auftritt. In drei großen Kulturperioden
löse" sich Grundbesitz, Kapital, Arbeit in der Herrschaft ab, jedes dieser drei
Prinzipien drückt dem Gesellschaftszustande, dessen leitende Idee es bildet, das
Gepräge auf. Der Übergang von dem einen zum andern ist Revolution im
geschichtlichen Sinne. Die Revolution wird niemals gemacht, sie vollzieht sich
selbst im Innern der Gesellschaft; der große Staatsmann erkennt den Augen¬
blick, wo die Geburt einer neuen Zeit sich vollziehen muß, er verkündet im
Gesetz, daß das neue Prinzip Leben gewonnen habe, und daß sich fortan die
ganze Entwicklung ihm untergeordnet habe. Dieses Vorwalten der geschichts¬
philosvphischen Betrachtungsweise unterscheidet die Gleichheitslehre Lassalles auch
durchaus von der sozialistischen Agitation, wie sie nach seinem Tode sich in
Deutschland gestaltet hat. Diese schloß sich mehr an Marx an, der in charak¬
teristischem Gegensatze zu Lassalle sein erstes publizistisches Auftreten damit
gekennzeichnet hatte, daß er mit beinahe närrischer Wut jede geschichtliche Auf¬
fassung des Staatslebens bekämpfte.

Wie bereits angedeutet, muß dahingestellt bleiben, ob Lassalle, wenn er
als Ergebnis weiterer Entwicklung in Aussicht nahm, daß das zur Herrschaft
gelangte Prinzip des Arbeiterstandes jede rechtliche und thatsächliche Bevor-


Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.

Blaues durch die Mißerfolge, die eine verkehrte Anwendung rasch herbeiführen
mußte, um den Kredit zu bringen. Die französische Nationalversammlung be¬
schäftigte sich in ihren Sitzungen vom 12. bis zum 16. September und am
2. November 1848 mit dem „Recht auf Arbeit," und die Verhandlung drehte
sich namentlich um die Frage, ob ein dem Staat gegenüber zu bestimmten For¬
derungen berechtigendes äroit, an travail oder nur das Recht auf Unterstützung
anzuerkennen sei. Thatsächlich hat dann die Verfassung vom 4. November 1848,
ähnlich wie die Konstitution von 1793, nur das Recht auf Unterstützung, etroit
a 1'g,88i8t>g,n<zö, gewährleistet.

Als zu Anfang der sechziger Jahre für Deutschland Ferdinand Lassalle
den Anstoß zu einer sozialistischen Bewegung gab, bezeichnete er den 24. Fe¬
bruar 1848 als den Ausgangspunkt für einen neuen Abschnitt der Kultur¬
entwicklung. Mit diesem Tage sei an die Stelle der Privilegienherrschaft, der
des Feudalismus sowohl als des Bourgeviskapitals, die Herrschaft des vierten
Standes getreten, der an sich kein Privileg mehr kenne und der dieses Prinzip
der absoluten Privilegienlosigkeit, des Wegfalls jeder Bevorzugung rechtlicher
oder thatsächlicher Art, durch die Einrichtungen der Gesellschaft hindurch führen
werde. Obwohl dieses „Arbeiterprogramm" in seiner Abstraktheit so dehnbar
ist, daß sogar der Zweifel entstehen kaun, ob damit in der That die Aufhebung
der bisherigen auf dem Privateigentum ruhenden Rechtsordnung verkündet sein
soll, so hat es doch vor den bis dahin in England und Frankreich aufgestellten
den großen Vorzug, daß es nicht an naturrechtliche, also willkürliche Voraus¬
setzungen anknüpft, sondern mit einer ohne Frage sehr scharfsinnig durchgeführten
geschichtsphilosvphischen Begründung auftritt. In drei großen Kulturperioden
löse» sich Grundbesitz, Kapital, Arbeit in der Herrschaft ab, jedes dieser drei
Prinzipien drückt dem Gesellschaftszustande, dessen leitende Idee es bildet, das
Gepräge auf. Der Übergang von dem einen zum andern ist Revolution im
geschichtlichen Sinne. Die Revolution wird niemals gemacht, sie vollzieht sich
selbst im Innern der Gesellschaft; der große Staatsmann erkennt den Augen¬
blick, wo die Geburt einer neuen Zeit sich vollziehen muß, er verkündet im
Gesetz, daß das neue Prinzip Leben gewonnen habe, und daß sich fortan die
ganze Entwicklung ihm untergeordnet habe. Dieses Vorwalten der geschichts¬
philosvphischen Betrachtungsweise unterscheidet die Gleichheitslehre Lassalles auch
durchaus von der sozialistischen Agitation, wie sie nach seinem Tode sich in
Deutschland gestaltet hat. Diese schloß sich mehr an Marx an, der in charak¬
teristischem Gegensatze zu Lassalle sein erstes publizistisches Auftreten damit
gekennzeichnet hatte, daß er mit beinahe närrischer Wut jede geschichtliche Auf¬
fassung des Staatslebens bekämpfte.

Wie bereits angedeutet, muß dahingestellt bleiben, ob Lassalle, wenn er
als Ergebnis weiterer Entwicklung in Aussicht nahm, daß das zur Herrschaft
gelangte Prinzip des Arbeiterstandes jede rechtliche und thatsächliche Bevor-


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[0454] Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip. Blaues durch die Mißerfolge, die eine verkehrte Anwendung rasch herbeiführen mußte, um den Kredit zu bringen. Die französische Nationalversammlung be¬ schäftigte sich in ihren Sitzungen vom 12. bis zum 16. September und am 2. November 1848 mit dem „Recht auf Arbeit," und die Verhandlung drehte sich namentlich um die Frage, ob ein dem Staat gegenüber zu bestimmten For¬ derungen berechtigendes äroit, an travail oder nur das Recht auf Unterstützung anzuerkennen sei. Thatsächlich hat dann die Verfassung vom 4. November 1848, ähnlich wie die Konstitution von 1793, nur das Recht auf Unterstützung, etroit a 1'g,88i8t>g,n<zö, gewährleistet. Als zu Anfang der sechziger Jahre für Deutschland Ferdinand Lassalle den Anstoß zu einer sozialistischen Bewegung gab, bezeichnete er den 24. Fe¬ bruar 1848 als den Ausgangspunkt für einen neuen Abschnitt der Kultur¬ entwicklung. Mit diesem Tage sei an die Stelle der Privilegienherrschaft, der des Feudalismus sowohl als des Bourgeviskapitals, die Herrschaft des vierten Standes getreten, der an sich kein Privileg mehr kenne und der dieses Prinzip der absoluten Privilegienlosigkeit, des Wegfalls jeder Bevorzugung rechtlicher oder thatsächlicher Art, durch die Einrichtungen der Gesellschaft hindurch führen werde. Obwohl dieses „Arbeiterprogramm" in seiner Abstraktheit so dehnbar ist, daß sogar der Zweifel entstehen kaun, ob damit in der That die Aufhebung der bisherigen auf dem Privateigentum ruhenden Rechtsordnung verkündet sein soll, so hat es doch vor den bis dahin in England und Frankreich aufgestellten den großen Vorzug, daß es nicht an naturrechtliche, also willkürliche Voraus¬ setzungen anknüpft, sondern mit einer ohne Frage sehr scharfsinnig durchgeführten geschichtsphilosvphischen Begründung auftritt. In drei großen Kulturperioden löse» sich Grundbesitz, Kapital, Arbeit in der Herrschaft ab, jedes dieser drei Prinzipien drückt dem Gesellschaftszustande, dessen leitende Idee es bildet, das Gepräge auf. Der Übergang von dem einen zum andern ist Revolution im geschichtlichen Sinne. Die Revolution wird niemals gemacht, sie vollzieht sich selbst im Innern der Gesellschaft; der große Staatsmann erkennt den Augen¬ blick, wo die Geburt einer neuen Zeit sich vollziehen muß, er verkündet im Gesetz, daß das neue Prinzip Leben gewonnen habe, und daß sich fortan die ganze Entwicklung ihm untergeordnet habe. Dieses Vorwalten der geschichts¬ philosvphischen Betrachtungsweise unterscheidet die Gleichheitslehre Lassalles auch durchaus von der sozialistischen Agitation, wie sie nach seinem Tode sich in Deutschland gestaltet hat. Diese schloß sich mehr an Marx an, der in charak¬ teristischem Gegensatze zu Lassalle sein erstes publizistisches Auftreten damit gekennzeichnet hatte, daß er mit beinahe närrischer Wut jede geschichtliche Auf¬ fassung des Staatslebens bekämpfte. Wie bereits angedeutet, muß dahingestellt bleiben, ob Lassalle, wenn er als Ergebnis weiterer Entwicklung in Aussicht nahm, daß das zur Herrschaft gelangte Prinzip des Arbeiterstandes jede rechtliche und thatsächliche Bevor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/454>, abgerufen am 22.07.2024.