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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Der Gleichheitsgodanke als Rechtsprinzip.

dem Durchschnittsbedürfnis der Einzelnen, sondern in deren Rechtsanspruch,
von der Gesellschaft nach den persönlichen Fähigkeiten verwendet, nach den per¬
sönlichen Leistungen belohnt zu werden. Bei diesem Gedanken ist denn auch
Louis Blanc, welcher auf die Formulirung der sozialistischen Forderungen von
1848 den größten Einfluß geübt hat. im wesentlichen stehen geblieben. Die
Gleichheit, sagt Louis Blanc, ist nichts andres als die Verhältnismäßigkeit,
l'öMlitö u'oft Hus 1a xroxortionuMtv. Sie besteht in Wirklichkeit da, wo
jeder entsprechend dem von Gott selbst gewissermaßen in seine Organisation
eingeschriebenen Gesetze seinen Fähigkeiten gemäß produzirt, seinen Bedürfnissen
gemäß am Güterverbrauch teilnimmt. Also die wahre Gleichheit wäre nicht
zu suchen in einem gleich bemessenen Anteil an den Verbrauchsgütern, die der
Gesellschaft zur Verfügung stehen, die wahre Gleichheit wäre die Annahme des
für jeden gleichmäßig geltenden Grundsatzes, daß eine Verhältnismäßigkeit
stattfinden müsse zwischen Fähigkeiten und Leistung, zwischen Bedürfnis und
Genuß. Wie immer das Urteil ausfallen möge über die Berechtigung dieser
Wendung des Gleichheitsgedankens, so ist jedenfalls sicher, daß sie ganz un¬
geeignet ist, unmittelbar die praktische Norm abzugeben für eine Gestaltung der
Staats- und Gesellschaftsverhältnisse, woraus sich eine mehr oder minder be¬
friedigende Erfüllung jenes idealen Anspruches ergeben müßte. Auf der andern
Seite drängt sich aber auch sofort die Wahrnehmung auf, daß der Gesellschafts¬
zustand, wie er aus der großen Umwälzung der neunziger Jahre hervorgegangen
ist, in weit höherem Maße als irgend ein früherer den persönlichen Fähigkeiten
Spielraum, dem Genußbedürfnis des Einzelnen Mittel zur Befriedigung gewährt.
Wenn es sich also darum handelt, daß, nach dem Ausdruck der Saint-Simo-
nistischen Schule, "die Menschheit auf den Weg gebracht werde zu dem Ziele,
wo alle Einzelnen ihre Stellung in der Gesellschaft gemäß ihren Fähigkeiten,
ihre Belohnung gemäß ihren Leistungen" erhalten werden, so ist zu praktischen
Zwecken ein Kompromiß zwischen der idealen Ordnung der Gesellschaft, die dem
Samt-Simonistischen Gleichheitsprinzip am besten entsprechen würde, und der
Rechtsordnung der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft ein sehr nahe liegender
Gedanke. Das am 2S. Februar 1848 von der provisorischen Regierung zu
Paris anerkannte "Recht auf Arbeit" stellt einen solchen Kompromiß dar; seine
Ausführung hätte der Gedanke erhalten sollen in der von Louis Blanc beab¬
sichtigten "Organisation der Arbeit."

Zu einem aufrichtigen und ernsthaften Versuch mit dieser Organisation ist
es bekanntlich nie gekommen. Die für Paris und Umgegend geschaffenen Na¬
tionalwerkstätten sind gerade das Gegenteil von dem gewesen, was nach dem
Prinzip Louis Blancs und der Saint-Simonistischen Schule gefordert wurde.
Nicht nach seinen Fähigkeiten, zum größten Teil nicht einmal nach seinem Beruf
wurde hier der Arbeiter beschäftigt; der Zweck war, das Almosen durch Schein¬
arbeit anständig zu verhüllen. Zugleich bestand die Absicht, die Ideen Louis


Der Gleichheitsgodanke als Rechtsprinzip.

dem Durchschnittsbedürfnis der Einzelnen, sondern in deren Rechtsanspruch,
von der Gesellschaft nach den persönlichen Fähigkeiten verwendet, nach den per¬
sönlichen Leistungen belohnt zu werden. Bei diesem Gedanken ist denn auch
Louis Blanc, welcher auf die Formulirung der sozialistischen Forderungen von
1848 den größten Einfluß geübt hat. im wesentlichen stehen geblieben. Die
Gleichheit, sagt Louis Blanc, ist nichts andres als die Verhältnismäßigkeit,
l'öMlitö u'oft Hus 1a xroxortionuMtv. Sie besteht in Wirklichkeit da, wo
jeder entsprechend dem von Gott selbst gewissermaßen in seine Organisation
eingeschriebenen Gesetze seinen Fähigkeiten gemäß produzirt, seinen Bedürfnissen
gemäß am Güterverbrauch teilnimmt. Also die wahre Gleichheit wäre nicht
zu suchen in einem gleich bemessenen Anteil an den Verbrauchsgütern, die der
Gesellschaft zur Verfügung stehen, die wahre Gleichheit wäre die Annahme des
für jeden gleichmäßig geltenden Grundsatzes, daß eine Verhältnismäßigkeit
stattfinden müsse zwischen Fähigkeiten und Leistung, zwischen Bedürfnis und
Genuß. Wie immer das Urteil ausfallen möge über die Berechtigung dieser
Wendung des Gleichheitsgedankens, so ist jedenfalls sicher, daß sie ganz un¬
geeignet ist, unmittelbar die praktische Norm abzugeben für eine Gestaltung der
Staats- und Gesellschaftsverhältnisse, woraus sich eine mehr oder minder be¬
friedigende Erfüllung jenes idealen Anspruches ergeben müßte. Auf der andern
Seite drängt sich aber auch sofort die Wahrnehmung auf, daß der Gesellschafts¬
zustand, wie er aus der großen Umwälzung der neunziger Jahre hervorgegangen
ist, in weit höherem Maße als irgend ein früherer den persönlichen Fähigkeiten
Spielraum, dem Genußbedürfnis des Einzelnen Mittel zur Befriedigung gewährt.
Wenn es sich also darum handelt, daß, nach dem Ausdruck der Saint-Simo-
nistischen Schule, „die Menschheit auf den Weg gebracht werde zu dem Ziele,
wo alle Einzelnen ihre Stellung in der Gesellschaft gemäß ihren Fähigkeiten,
ihre Belohnung gemäß ihren Leistungen" erhalten werden, so ist zu praktischen
Zwecken ein Kompromiß zwischen der idealen Ordnung der Gesellschaft, die dem
Samt-Simonistischen Gleichheitsprinzip am besten entsprechen würde, und der
Rechtsordnung der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft ein sehr nahe liegender
Gedanke. Das am 2S. Februar 1848 von der provisorischen Regierung zu
Paris anerkannte „Recht auf Arbeit" stellt einen solchen Kompromiß dar; seine
Ausführung hätte der Gedanke erhalten sollen in der von Louis Blanc beab¬
sichtigten „Organisation der Arbeit."

Zu einem aufrichtigen und ernsthaften Versuch mit dieser Organisation ist
es bekanntlich nie gekommen. Die für Paris und Umgegend geschaffenen Na¬
tionalwerkstätten sind gerade das Gegenteil von dem gewesen, was nach dem
Prinzip Louis Blancs und der Saint-Simonistischen Schule gefordert wurde.
Nicht nach seinen Fähigkeiten, zum größten Teil nicht einmal nach seinem Beruf
wurde hier der Arbeiter beschäftigt; der Zweck war, das Almosen durch Schein¬
arbeit anständig zu verhüllen. Zugleich bestand die Absicht, die Ideen Louis


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[0453] Der Gleichheitsgodanke als Rechtsprinzip. dem Durchschnittsbedürfnis der Einzelnen, sondern in deren Rechtsanspruch, von der Gesellschaft nach den persönlichen Fähigkeiten verwendet, nach den per¬ sönlichen Leistungen belohnt zu werden. Bei diesem Gedanken ist denn auch Louis Blanc, welcher auf die Formulirung der sozialistischen Forderungen von 1848 den größten Einfluß geübt hat. im wesentlichen stehen geblieben. Die Gleichheit, sagt Louis Blanc, ist nichts andres als die Verhältnismäßigkeit, l'öMlitö u'oft Hus 1a xroxortionuMtv. Sie besteht in Wirklichkeit da, wo jeder entsprechend dem von Gott selbst gewissermaßen in seine Organisation eingeschriebenen Gesetze seinen Fähigkeiten gemäß produzirt, seinen Bedürfnissen gemäß am Güterverbrauch teilnimmt. Also die wahre Gleichheit wäre nicht zu suchen in einem gleich bemessenen Anteil an den Verbrauchsgütern, die der Gesellschaft zur Verfügung stehen, die wahre Gleichheit wäre die Annahme des für jeden gleichmäßig geltenden Grundsatzes, daß eine Verhältnismäßigkeit stattfinden müsse zwischen Fähigkeiten und Leistung, zwischen Bedürfnis und Genuß. Wie immer das Urteil ausfallen möge über die Berechtigung dieser Wendung des Gleichheitsgedankens, so ist jedenfalls sicher, daß sie ganz un¬ geeignet ist, unmittelbar die praktische Norm abzugeben für eine Gestaltung der Staats- und Gesellschaftsverhältnisse, woraus sich eine mehr oder minder be¬ friedigende Erfüllung jenes idealen Anspruches ergeben müßte. Auf der andern Seite drängt sich aber auch sofort die Wahrnehmung auf, daß der Gesellschafts¬ zustand, wie er aus der großen Umwälzung der neunziger Jahre hervorgegangen ist, in weit höherem Maße als irgend ein früherer den persönlichen Fähigkeiten Spielraum, dem Genußbedürfnis des Einzelnen Mittel zur Befriedigung gewährt. Wenn es sich also darum handelt, daß, nach dem Ausdruck der Saint-Simo- nistischen Schule, „die Menschheit auf den Weg gebracht werde zu dem Ziele, wo alle Einzelnen ihre Stellung in der Gesellschaft gemäß ihren Fähigkeiten, ihre Belohnung gemäß ihren Leistungen" erhalten werden, so ist zu praktischen Zwecken ein Kompromiß zwischen der idealen Ordnung der Gesellschaft, die dem Samt-Simonistischen Gleichheitsprinzip am besten entsprechen würde, und der Rechtsordnung der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft ein sehr nahe liegender Gedanke. Das am 2S. Februar 1848 von der provisorischen Regierung zu Paris anerkannte „Recht auf Arbeit" stellt einen solchen Kompromiß dar; seine Ausführung hätte der Gedanke erhalten sollen in der von Louis Blanc beab¬ sichtigten „Organisation der Arbeit." Zu einem aufrichtigen und ernsthaften Versuch mit dieser Organisation ist es bekanntlich nie gekommen. Die für Paris und Umgegend geschaffenen Na¬ tionalwerkstätten sind gerade das Gegenteil von dem gewesen, was nach dem Prinzip Louis Blancs und der Saint-Simonistischen Schule gefordert wurde. Nicht nach seinen Fähigkeiten, zum größten Teil nicht einmal nach seinem Beruf wurde hier der Arbeiter beschäftigt; der Zweck war, das Almosen durch Schein¬ arbeit anständig zu verhüllen. Zugleich bestand die Absicht, die Ideen Louis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/453>, abgerufen am 22.07.2024.