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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.

heutigen sozialistischen Forderungen ausgelegt werden dürsten, noch weit über
das hinausgehen würden, was die provisorische Regierung Frankreichs im
Jahre 1848 zugestanden hat. Aber eine derartige Auslegung ist eben ganz
und gar unstatthaft, da der unbefangene Gebrauch von Wendungen, die an
sozialrevolutionäre Formeln einer viel späteren Zeit anklingen, gerade den
Beweis liefert, wie fern dem Gesichtskreise der preußischen Gesetzgeber alle die
Gedanken lagen, die sich uns aufdrängen, wenn von mangelnden Produktions¬
mitteln oder von einer den "Kräften und Fähigkeiten des Individuums an¬
gemessenen" Arbeitsgewährung die Rede ist. Die Berufung auf das preußische
Landrecht benimmt auch einer bekannten Äußerung des Fürsten Bismarck in
der Sitzung des deutschen Reichstages vom 9. Mai 1884 jede Tragweite im
Sinne eines Zugeständnisses an sozialistische Rechtsforderungen. Der Reichs¬
kanzler sagte: "Ja, ich erkenne ein Recht ans Arbeit unbedingt an und stehe
dafür ein, so lange ich auf diesem Platze sein werde. Ich befinde mich dabei
nicht auf dem Boden des Sozialismus, der erst mit dem Ministerium Bismarck
seinen Anfang genommen haben soll, sondern auf dem Boden des preußischen
Laudrechts." Aus den folgenden Worten des Fürsten Bismarck geht hervor,
daß er nicht einmal so weit gehen will, als der Wortlaut des preußischen
Landrechts reicht. "Wenn ähnliche Notstände eintreten, wie im Jahre 1848...,
so läßt der Staat Aufgaben ausführen, die sonst aus finanziellen Bedenklich¬
keiten vielleicht nicht ausgeführt werden würden; ich will sagen, große Kanal¬
bauten, oder was dem analog ist." Das sozialistische Verlangen nach Recht
auf Arbeit ist auf etwas ganz andres gerichtet, nämlich auf Staatsbürgschaft
für Beschäftigung des Arbeiters in seinem Berufszweige oder wenigstens auf
Gewährleistung eines Arbeitslohnes, welcher dem in der Berufsarbeit zu er¬
reichenden entspricht. Das preußische Landrecht, und also auch Fürst Bismarck,
der sich ausdrücklich ihm anschließt, haben nur Armenpflege im Auge. Von
hier aber zum "Recht auf Arbeit" im sozialistischen Sinne ist ein weiter Sprung.
Nach sozialistischer Auffassung hat dieses Recht den Charakter einer vermögens¬
rechtlichen Verbindlichkeit des Staates; daher wird dem Staat auch keinerlei
Dank geschuldet für Mildthätigkeit oder "praktisches Christentum." Der Staat
hätte ganz einfach den Arbeiter zu bezahlen, wie er jetzt seine Beamten bezahlt,
für Leistung, nicht um Gotteslohn. Somit müßte auch jede Rücksicht auf be¬
sondre Dürftigkeit des Berechtigten in Wegfall kommen. Ebensowenig dürfte
die Erfüllung des Anspruches, der das Recht auf Arbeit gewährt, irgendwie
unter verletzenden Formen stattfinden, wie solche bei der Armenunterstützung
herkömmlich sind, oder gar mit Rechtsnachteilen verknüpft sein, wie Entziehung
des Wahlrechts und dergleichen.

Herstellung thatsächlicher Gleichheit war das Losungswort gewesen für die
Verschwörung des Babeuf. Welcher Fortschritt zur Klärung der Idee oder
zur Ausgestaltung derselben in praktisch durchführbarer Form ist nun bis zum


Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.

heutigen sozialistischen Forderungen ausgelegt werden dürsten, noch weit über
das hinausgehen würden, was die provisorische Regierung Frankreichs im
Jahre 1848 zugestanden hat. Aber eine derartige Auslegung ist eben ganz
und gar unstatthaft, da der unbefangene Gebrauch von Wendungen, die an
sozialrevolutionäre Formeln einer viel späteren Zeit anklingen, gerade den
Beweis liefert, wie fern dem Gesichtskreise der preußischen Gesetzgeber alle die
Gedanken lagen, die sich uns aufdrängen, wenn von mangelnden Produktions¬
mitteln oder von einer den „Kräften und Fähigkeiten des Individuums an¬
gemessenen" Arbeitsgewährung die Rede ist. Die Berufung auf das preußische
Landrecht benimmt auch einer bekannten Äußerung des Fürsten Bismarck in
der Sitzung des deutschen Reichstages vom 9. Mai 1884 jede Tragweite im
Sinne eines Zugeständnisses an sozialistische Rechtsforderungen. Der Reichs¬
kanzler sagte: „Ja, ich erkenne ein Recht ans Arbeit unbedingt an und stehe
dafür ein, so lange ich auf diesem Platze sein werde. Ich befinde mich dabei
nicht auf dem Boden des Sozialismus, der erst mit dem Ministerium Bismarck
seinen Anfang genommen haben soll, sondern auf dem Boden des preußischen
Laudrechts." Aus den folgenden Worten des Fürsten Bismarck geht hervor,
daß er nicht einmal so weit gehen will, als der Wortlaut des preußischen
Landrechts reicht. „Wenn ähnliche Notstände eintreten, wie im Jahre 1848...,
so läßt der Staat Aufgaben ausführen, die sonst aus finanziellen Bedenklich¬
keiten vielleicht nicht ausgeführt werden würden; ich will sagen, große Kanal¬
bauten, oder was dem analog ist." Das sozialistische Verlangen nach Recht
auf Arbeit ist auf etwas ganz andres gerichtet, nämlich auf Staatsbürgschaft
für Beschäftigung des Arbeiters in seinem Berufszweige oder wenigstens auf
Gewährleistung eines Arbeitslohnes, welcher dem in der Berufsarbeit zu er¬
reichenden entspricht. Das preußische Landrecht, und also auch Fürst Bismarck,
der sich ausdrücklich ihm anschließt, haben nur Armenpflege im Auge. Von
hier aber zum „Recht auf Arbeit" im sozialistischen Sinne ist ein weiter Sprung.
Nach sozialistischer Auffassung hat dieses Recht den Charakter einer vermögens¬
rechtlichen Verbindlichkeit des Staates; daher wird dem Staat auch keinerlei
Dank geschuldet für Mildthätigkeit oder „praktisches Christentum." Der Staat
hätte ganz einfach den Arbeiter zu bezahlen, wie er jetzt seine Beamten bezahlt,
für Leistung, nicht um Gotteslohn. Somit müßte auch jede Rücksicht auf be¬
sondre Dürftigkeit des Berechtigten in Wegfall kommen. Ebensowenig dürfte
die Erfüllung des Anspruches, der das Recht auf Arbeit gewährt, irgendwie
unter verletzenden Formen stattfinden, wie solche bei der Armenunterstützung
herkömmlich sind, oder gar mit Rechtsnachteilen verknüpft sein, wie Entziehung
des Wahlrechts und dergleichen.

Herstellung thatsächlicher Gleichheit war das Losungswort gewesen für die
Verschwörung des Babeuf. Welcher Fortschritt zur Klärung der Idee oder
zur Ausgestaltung derselben in praktisch durchführbarer Form ist nun bis zum


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[0451] Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip. heutigen sozialistischen Forderungen ausgelegt werden dürsten, noch weit über das hinausgehen würden, was die provisorische Regierung Frankreichs im Jahre 1848 zugestanden hat. Aber eine derartige Auslegung ist eben ganz und gar unstatthaft, da der unbefangene Gebrauch von Wendungen, die an sozialrevolutionäre Formeln einer viel späteren Zeit anklingen, gerade den Beweis liefert, wie fern dem Gesichtskreise der preußischen Gesetzgeber alle die Gedanken lagen, die sich uns aufdrängen, wenn von mangelnden Produktions¬ mitteln oder von einer den „Kräften und Fähigkeiten des Individuums an¬ gemessenen" Arbeitsgewährung die Rede ist. Die Berufung auf das preußische Landrecht benimmt auch einer bekannten Äußerung des Fürsten Bismarck in der Sitzung des deutschen Reichstages vom 9. Mai 1884 jede Tragweite im Sinne eines Zugeständnisses an sozialistische Rechtsforderungen. Der Reichs¬ kanzler sagte: „Ja, ich erkenne ein Recht ans Arbeit unbedingt an und stehe dafür ein, so lange ich auf diesem Platze sein werde. Ich befinde mich dabei nicht auf dem Boden des Sozialismus, der erst mit dem Ministerium Bismarck seinen Anfang genommen haben soll, sondern auf dem Boden des preußischen Laudrechts." Aus den folgenden Worten des Fürsten Bismarck geht hervor, daß er nicht einmal so weit gehen will, als der Wortlaut des preußischen Landrechts reicht. „Wenn ähnliche Notstände eintreten, wie im Jahre 1848..., so läßt der Staat Aufgaben ausführen, die sonst aus finanziellen Bedenklich¬ keiten vielleicht nicht ausgeführt werden würden; ich will sagen, große Kanal¬ bauten, oder was dem analog ist." Das sozialistische Verlangen nach Recht auf Arbeit ist auf etwas ganz andres gerichtet, nämlich auf Staatsbürgschaft für Beschäftigung des Arbeiters in seinem Berufszweige oder wenigstens auf Gewährleistung eines Arbeitslohnes, welcher dem in der Berufsarbeit zu er¬ reichenden entspricht. Das preußische Landrecht, und also auch Fürst Bismarck, der sich ausdrücklich ihm anschließt, haben nur Armenpflege im Auge. Von hier aber zum „Recht auf Arbeit" im sozialistischen Sinne ist ein weiter Sprung. Nach sozialistischer Auffassung hat dieses Recht den Charakter einer vermögens¬ rechtlichen Verbindlichkeit des Staates; daher wird dem Staat auch keinerlei Dank geschuldet für Mildthätigkeit oder „praktisches Christentum." Der Staat hätte ganz einfach den Arbeiter zu bezahlen, wie er jetzt seine Beamten bezahlt, für Leistung, nicht um Gotteslohn. Somit müßte auch jede Rücksicht auf be¬ sondre Dürftigkeit des Berechtigten in Wegfall kommen. Ebensowenig dürfte die Erfüllung des Anspruches, der das Recht auf Arbeit gewährt, irgendwie unter verletzenden Formen stattfinden, wie solche bei der Armenunterstützung herkömmlich sind, oder gar mit Rechtsnachteilen verknüpft sein, wie Entziehung des Wahlrechts und dergleichen. Herstellung thatsächlicher Gleichheit war das Losungswort gewesen für die Verschwörung des Babeuf. Welcher Fortschritt zur Klärung der Idee oder zur Ausgestaltung derselben in praktisch durchführbarer Form ist nun bis zum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/451>, abgerufen am 22.07.2024.