Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip. von Karl Trost.
le Väter des demokratischen Sozialismus der Gegenwart, Marx und Engels, treten bekanntlich mit dem Ansprüche auf, die sozia¬ listische Lehre von der Form und Hülle der Utopie befreit und auf die Höhe einer Wissenschaft erhoben zu haben. Ihren Jüngern wird daher auch nicht mehr gestattet sein, der Frage nach dem Hauptprinzip ihrer Lehre mit einer bequemen Ausflucht zu entgehen, wie sie dem letzten der bekannteren Utopisten noch offen stand. Als man Cabet den Vorwurf machte, daß seine "Reise nach Jkarien" keine zusammenhängende wissen¬ schaftliche Theorie des Sozialismus enthalte, gab er in seiner Monatsschrift Ils ?oxulM6 zur Antwort: "Wenn man uns fragt, was unsre Wissenschaft ist, so antworten wir: Die Brüderlichkeit! Was ist euer Prinzip? Die Brüder¬ lichkeit. Was ist eure Lehre? Die Brüderlichkeit. Welche Theorie habt ihr? Die Brüderlichkeit. Welches System? Die Brüderlichkeit." Sehr schön gesagt und auch völlig genügend, wenn es sich darum handelt, Phantasie und Gemüt müßiger Leser mit einem romanhaften Zukunftsbilde zu vergnügen, worin dar¬ gestellt wird, wie menschliches Zusammenleben sich ausnehmen könnte unter der Voraussetzung, daß alle Beteiligten von brüderlichen Gefühlen gegen einander beseelt wären. Bei sämtlichen sozialistischen Parteien handelt es sich aber um etwas ganz andres: um Einführung des Prinzips der Gleichheit und Brüder¬ lichkeit in die Rechtsordnung, nötigenfalls mit Gewalt. Dieses Verfahren hat mehr als fünfzig Jahre vor Cabet bereits Champfort kurz mit den Worten gekennzeichnet: "Sei mein Bruder, oder ich schlage dich tot."
Wer in dieser Weise zur Brüderlichkeit aufgefordert wird, dürfte doch wohl das Recht haben, vorher zu fragen: Aber, mein Lieber, der du mich im Nicht- Verbrüderungsfalle totschlagen willst, möchtest du mir nicht vorher genauer sagen, wozu mich die verlangte Brüderlichkeit verpflichtet und was ich, da es sich doch einmal um Pflicht und Recht handelt, unter dieser Forderung eigentlich zu ver¬ stehen habe? Jeder großen geschichtlichen Umwälzung liegt ein mystischer Zug zu Grunde, denn sie kann nur zu stände kommen, wo breite Volksmassen im tiefsten Innern ihres Gemütes von neuen Idealen ergriffen sind. Bis in diese
Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip. von Karl Trost.
le Väter des demokratischen Sozialismus der Gegenwart, Marx und Engels, treten bekanntlich mit dem Ansprüche auf, die sozia¬ listische Lehre von der Form und Hülle der Utopie befreit und auf die Höhe einer Wissenschaft erhoben zu haben. Ihren Jüngern wird daher auch nicht mehr gestattet sein, der Frage nach dem Hauptprinzip ihrer Lehre mit einer bequemen Ausflucht zu entgehen, wie sie dem letzten der bekannteren Utopisten noch offen stand. Als man Cabet den Vorwurf machte, daß seine „Reise nach Jkarien" keine zusammenhängende wissen¬ schaftliche Theorie des Sozialismus enthalte, gab er in seiner Monatsschrift Ils ?oxulM6 zur Antwort: „Wenn man uns fragt, was unsre Wissenschaft ist, so antworten wir: Die Brüderlichkeit! Was ist euer Prinzip? Die Brüder¬ lichkeit. Was ist eure Lehre? Die Brüderlichkeit. Welche Theorie habt ihr? Die Brüderlichkeit. Welches System? Die Brüderlichkeit." Sehr schön gesagt und auch völlig genügend, wenn es sich darum handelt, Phantasie und Gemüt müßiger Leser mit einem romanhaften Zukunftsbilde zu vergnügen, worin dar¬ gestellt wird, wie menschliches Zusammenleben sich ausnehmen könnte unter der Voraussetzung, daß alle Beteiligten von brüderlichen Gefühlen gegen einander beseelt wären. Bei sämtlichen sozialistischen Parteien handelt es sich aber um etwas ganz andres: um Einführung des Prinzips der Gleichheit und Brüder¬ lichkeit in die Rechtsordnung, nötigenfalls mit Gewalt. Dieses Verfahren hat mehr als fünfzig Jahre vor Cabet bereits Champfort kurz mit den Worten gekennzeichnet: „Sei mein Bruder, oder ich schlage dich tot."
Wer in dieser Weise zur Brüderlichkeit aufgefordert wird, dürfte doch wohl das Recht haben, vorher zu fragen: Aber, mein Lieber, der du mich im Nicht- Verbrüderungsfalle totschlagen willst, möchtest du mir nicht vorher genauer sagen, wozu mich die verlangte Brüderlichkeit verpflichtet und was ich, da es sich doch einmal um Pflicht und Recht handelt, unter dieser Forderung eigentlich zu ver¬ stehen habe? Jeder großen geschichtlichen Umwälzung liegt ein mystischer Zug zu Grunde, denn sie kann nur zu stände kommen, wo breite Volksmassen im tiefsten Innern ihres Gemütes von neuen Idealen ergriffen sind. Bis in diese
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Der Gleichheitsgedanke als Rechtsprinzip.
von Karl Trost.
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listische Lehre von der Form und Hülle der Utopie befreit und
auf die Höhe einer Wissenschaft erhoben zu haben. Ihren Jüngern
wird daher auch nicht mehr gestattet sein, der Frage nach dem
Hauptprinzip ihrer Lehre mit einer bequemen Ausflucht zu entgehen, wie sie
dem letzten der bekannteren Utopisten noch offen stand. Als man Cabet den
Vorwurf machte, daß seine „Reise nach Jkarien" keine zusammenhängende wissen¬
schaftliche Theorie des Sozialismus enthalte, gab er in seiner Monatsschrift
Ils ?oxulM6 zur Antwort: „Wenn man uns fragt, was unsre Wissenschaft ist,
so antworten wir: Die Brüderlichkeit! Was ist euer Prinzip? Die Brüder¬
lichkeit. Was ist eure Lehre? Die Brüderlichkeit. Welche Theorie habt ihr?
Die Brüderlichkeit. Welches System? Die Brüderlichkeit." Sehr schön gesagt
und auch völlig genügend, wenn es sich darum handelt, Phantasie und Gemüt
müßiger Leser mit einem romanhaften Zukunftsbilde zu vergnügen, worin dar¬
gestellt wird, wie menschliches Zusammenleben sich ausnehmen könnte unter der
Voraussetzung, daß alle Beteiligten von brüderlichen Gefühlen gegen einander
beseelt wären. Bei sämtlichen sozialistischen Parteien handelt es sich aber um
etwas ganz andres: um Einführung des Prinzips der Gleichheit und Brüder¬
lichkeit in die Rechtsordnung, nötigenfalls mit Gewalt. Dieses Verfahren hat
mehr als fünfzig Jahre vor Cabet bereits Champfort kurz mit den Worten
gekennzeichnet: „Sei mein Bruder, oder ich schlage dich tot."
Wer in dieser Weise zur Brüderlichkeit aufgefordert wird, dürfte doch wohl
das Recht haben, vorher zu fragen: Aber, mein Lieber, der du mich im Nicht-
Verbrüderungsfalle totschlagen willst, möchtest du mir nicht vorher genauer sagen,
wozu mich die verlangte Brüderlichkeit verpflichtet und was ich, da es sich doch
einmal um Pflicht und Recht handelt, unter dieser Forderung eigentlich zu ver¬
stehen habe? Jeder großen geschichtlichen Umwälzung liegt ein mystischer Zug
zu Grunde, denn sie kann nur zu stände kommen, wo breite Volksmassen im
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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/447>, abgerufen am 25.01.2025.
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