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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

war nicht ihre Schuld, aber durch ihr Bewußtsein zuckte noch ein unsicher blen¬
dender Strahl von Liebesglück und Liebeslust, und starke, thörichte Wünsche
wollten sich vordrängen, sich nach einer Seligkeit des Vergessens sehnend oder
sich bemühend, mit krampfhaft wilden Griffen das rollende Rad der Begeben¬
heiten zurückzudrehen.

Aber das war bald vorüber. In dunkeln Scharen aus allen Ecken kamen
die finstern Gedanken geflogen gleich Raben, die der Leichnam ihres Glückes
herbeigelockt hatte, und die nun Schnabel neben Schnabel einhackten, während
die Lebenswärme den Körper noch nicht verlassen hatte. Und sie zerfetzten und
zerhackten ihn und machten ihn völlig unkenntlich, jeder Zug war entstellt und
verzerrt, bis das Ganze ein widriger Haufe, ein Gegenstand des Ekels und
Abscheus geworden war.

Sie erhob sich und ging umher, indem sie sich wie eine Kranke an Stühlen
und Tischen hielt, und sie blickte verzweifelt auf, als suchte sie ein Spinngewebe
von Hoffnung, nur einen Blick des Trostes, ein kleines Zeichen des Mitleids.
Aber ihr Auge begegnete nur den hellbeleuchteten Familienporträts, allen diesen
Fremden, die Zeugen ihres Falles und ihres Verbrechens gewesen waren;
schläfrige alte Herren waren es und gezierte Matronen, und dann dies unver¬
meidliche Gnomenkind, welches sie überall hatten, das Mädchen mit den großen
runden Augen und der aufgeschwollenen Stirn. An all dies fremde Eigentum
hatten sich allmählich Erinnerungen genug geknüpft, der Tisch dort, der Stuhl,
der Schemel mit dem schwarzen Pudel darauf und diese schlafrockscirtige Por¬
tiere, das alles hatte sie mit Erinnerungen gesättigt, mit buhlerischen Erinne¬
rungen, die es jetzt von sich spie und ihr nachwarf. O, es war unerträglich,
mit allen diesen Gespenstern der Sünde und mit sich selber obendrein hier ein¬
geschlossen zu sein; sie schauderte vor sich selber, sie drohte ihr, dieser ehrlosen
Fennimore, die sich zu ihren Füßen wand, sie entzog ihren flehenden Händen
den Saum ihres Kleides. Gnade! Nein, da war keine Gnade, wie konnte es
wohl Gnade geben vor jenen gebrochenen Augen in der fremden Stadt, die
jetzt, nachdem sie sich geschlossen hatten, sehen konnten, wie sie seine Ehre in
den Schmutz getreten, wie sie ihm ins Gesicht gelogen, wie sie sein Herz ver¬
raten hatte?

Sie konnte es fühlen, wie sie auf sie gerichtet waren, diese gebrochenen
Augen, sie wußte nicht, weswegen sie sich von ihnen wenden sollte, um ihrem
Blicke zu entgehen, aber sie folgten ihr unaufhörlich, wie zwei eiskalte Strahlen
über sie hingleitend; und während sie so niederstarrte und jeder Faden des
Teppichs, jeder Stich auf den Schemeln in der starken, scharfen Beleuchtung
unnatürlich deutlich vor ihren Augen ward, da merkte sie, wie es mit den.
Schritten eines Verstorbenen um sie herum ging, wie es ihr Kleid streifte,
sodaß sie entsetzt aufschrie und zur Seite wich; aber baun stand es vor ihr wie
mit Händen, und es waren doch auch wieder keine Hände, es war etwas, das


Ricks Lyhne.

war nicht ihre Schuld, aber durch ihr Bewußtsein zuckte noch ein unsicher blen¬
dender Strahl von Liebesglück und Liebeslust, und starke, thörichte Wünsche
wollten sich vordrängen, sich nach einer Seligkeit des Vergessens sehnend oder
sich bemühend, mit krampfhaft wilden Griffen das rollende Rad der Begeben¬
heiten zurückzudrehen.

Aber das war bald vorüber. In dunkeln Scharen aus allen Ecken kamen
die finstern Gedanken geflogen gleich Raben, die der Leichnam ihres Glückes
herbeigelockt hatte, und die nun Schnabel neben Schnabel einhackten, während
die Lebenswärme den Körper noch nicht verlassen hatte. Und sie zerfetzten und
zerhackten ihn und machten ihn völlig unkenntlich, jeder Zug war entstellt und
verzerrt, bis das Ganze ein widriger Haufe, ein Gegenstand des Ekels und
Abscheus geworden war.

Sie erhob sich und ging umher, indem sie sich wie eine Kranke an Stühlen
und Tischen hielt, und sie blickte verzweifelt auf, als suchte sie ein Spinngewebe
von Hoffnung, nur einen Blick des Trostes, ein kleines Zeichen des Mitleids.
Aber ihr Auge begegnete nur den hellbeleuchteten Familienporträts, allen diesen
Fremden, die Zeugen ihres Falles und ihres Verbrechens gewesen waren;
schläfrige alte Herren waren es und gezierte Matronen, und dann dies unver¬
meidliche Gnomenkind, welches sie überall hatten, das Mädchen mit den großen
runden Augen und der aufgeschwollenen Stirn. An all dies fremde Eigentum
hatten sich allmählich Erinnerungen genug geknüpft, der Tisch dort, der Stuhl,
der Schemel mit dem schwarzen Pudel darauf und diese schlafrockscirtige Por¬
tiere, das alles hatte sie mit Erinnerungen gesättigt, mit buhlerischen Erinne¬
rungen, die es jetzt von sich spie und ihr nachwarf. O, es war unerträglich,
mit allen diesen Gespenstern der Sünde und mit sich selber obendrein hier ein¬
geschlossen zu sein; sie schauderte vor sich selber, sie drohte ihr, dieser ehrlosen
Fennimore, die sich zu ihren Füßen wand, sie entzog ihren flehenden Händen
den Saum ihres Kleides. Gnade! Nein, da war keine Gnade, wie konnte es
wohl Gnade geben vor jenen gebrochenen Augen in der fremden Stadt, die
jetzt, nachdem sie sich geschlossen hatten, sehen konnten, wie sie seine Ehre in
den Schmutz getreten, wie sie ihm ins Gesicht gelogen, wie sie sein Herz ver¬
raten hatte?

Sie konnte es fühlen, wie sie auf sie gerichtet waren, diese gebrochenen
Augen, sie wußte nicht, weswegen sie sich von ihnen wenden sollte, um ihrem
Blicke zu entgehen, aber sie folgten ihr unaufhörlich, wie zwei eiskalte Strahlen
über sie hingleitend; und während sie so niederstarrte und jeder Faden des
Teppichs, jeder Stich auf den Schemeln in der starken, scharfen Beleuchtung
unnatürlich deutlich vor ihren Augen ward, da merkte sie, wie es mit den.
Schritten eines Verstorbenen um sie herum ging, wie es ihr Kleid streifte,
sodaß sie entsetzt aufschrie und zur Seite wich; aber baun stand es vor ihr wie
mit Händen, und es waren doch auch wieder keine Hände, es war etwas, das


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[0436] Ricks Lyhne. war nicht ihre Schuld, aber durch ihr Bewußtsein zuckte noch ein unsicher blen¬ dender Strahl von Liebesglück und Liebeslust, und starke, thörichte Wünsche wollten sich vordrängen, sich nach einer Seligkeit des Vergessens sehnend oder sich bemühend, mit krampfhaft wilden Griffen das rollende Rad der Begeben¬ heiten zurückzudrehen. Aber das war bald vorüber. In dunkeln Scharen aus allen Ecken kamen die finstern Gedanken geflogen gleich Raben, die der Leichnam ihres Glückes herbeigelockt hatte, und die nun Schnabel neben Schnabel einhackten, während die Lebenswärme den Körper noch nicht verlassen hatte. Und sie zerfetzten und zerhackten ihn und machten ihn völlig unkenntlich, jeder Zug war entstellt und verzerrt, bis das Ganze ein widriger Haufe, ein Gegenstand des Ekels und Abscheus geworden war. Sie erhob sich und ging umher, indem sie sich wie eine Kranke an Stühlen und Tischen hielt, und sie blickte verzweifelt auf, als suchte sie ein Spinngewebe von Hoffnung, nur einen Blick des Trostes, ein kleines Zeichen des Mitleids. Aber ihr Auge begegnete nur den hellbeleuchteten Familienporträts, allen diesen Fremden, die Zeugen ihres Falles und ihres Verbrechens gewesen waren; schläfrige alte Herren waren es und gezierte Matronen, und dann dies unver¬ meidliche Gnomenkind, welches sie überall hatten, das Mädchen mit den großen runden Augen und der aufgeschwollenen Stirn. An all dies fremde Eigentum hatten sich allmählich Erinnerungen genug geknüpft, der Tisch dort, der Stuhl, der Schemel mit dem schwarzen Pudel darauf und diese schlafrockscirtige Por¬ tiere, das alles hatte sie mit Erinnerungen gesättigt, mit buhlerischen Erinne¬ rungen, die es jetzt von sich spie und ihr nachwarf. O, es war unerträglich, mit allen diesen Gespenstern der Sünde und mit sich selber obendrein hier ein¬ geschlossen zu sein; sie schauderte vor sich selber, sie drohte ihr, dieser ehrlosen Fennimore, die sich zu ihren Füßen wand, sie entzog ihren flehenden Händen den Saum ihres Kleides. Gnade! Nein, da war keine Gnade, wie konnte es wohl Gnade geben vor jenen gebrochenen Augen in der fremden Stadt, die jetzt, nachdem sie sich geschlossen hatten, sehen konnten, wie sie seine Ehre in den Schmutz getreten, wie sie ihm ins Gesicht gelogen, wie sie sein Herz ver¬ raten hatte? Sie konnte es fühlen, wie sie auf sie gerichtet waren, diese gebrochenen Augen, sie wußte nicht, weswegen sie sich von ihnen wenden sollte, um ihrem Blicke zu entgehen, aber sie folgten ihr unaufhörlich, wie zwei eiskalte Strahlen über sie hingleitend; und während sie so niederstarrte und jeder Faden des Teppichs, jeder Stich auf den Schemeln in der starken, scharfen Beleuchtung unnatürlich deutlich vor ihren Augen ward, da merkte sie, wie es mit den. Schritten eines Verstorbenen um sie herum ging, wie es ihr Kleid streifte, sodaß sie entsetzt aufschrie und zur Seite wich; aber baun stand es vor ihr wie mit Händen, und es waren doch auch wieder keine Hände, es war etwas, das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/436>, abgerufen am 24.08.2024.