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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

jeder in den Augen des andern unwissend stellte; diese mußten sie jetzt teilen,
denn Erik war keine verschämte Natur, und es konnte ihm oft in den Sinn
kommen, in Ricks' Gegenwart zärtlich gegen seine Frau zu sein, sie zu küssen,
sie auf den Schoß zu nehmen, sie zu umarmen, und Fennimore durfte diese
Liebkosungen nicht abweisen, wie früher, oder es fehlte ihr vielmehr der Mut
dazu; das Bewußtsein ihrer Schuld machte sie unsicher und bange.

So sank das hohe Schloß ihrer Liebe mehr und mehr herab, das Schloß,
von dessen Zinnen herab sie so erhaben über die Welt hinausgeschaut und
worin sie sich so stolz und groß gefühlt hatten.

Aber sie waren glücklich zwischen den Ruinen.

Wenn sie jetzt im Walde spazieren gingen, so geschah es meist an dunkeln
Tagen, wo der Nebel in den braunen Zweigen hing und sich zwischen den
nassen Stämmen verdickte, sodaß sie niemand sehen konnte, wenn sie sich hier
küßten und sich dort umarmten, und niemand sie hören konnte, wenn ihre
leichtsinnige Rede in ausgelassenem Gelächter erklang.

Das Gepräge der Ewigkeitsmelancholie, das über ihrer Liebe gelegen hatte,
war verlöscht; eitel Lachen und Scherzen herrschte jetzt zwischen ihnen, und es
war eine wahre Fieberhast über sie gekommen, eine Gier nach den eilenden
Sekunden des Glückes, als müßten sie sich beeilen mit ihrer Liebe, als hätten
sie nicht das ganze Leben mehr vor sich.

Es änderte nichts in ihrem Verhältnis, daß Erik nach Verlauf eines
Monats seiner Idee müde ward und von neuem seine Fahrten begann, und
zwar mit einem solchen Eifer, daß er nur selten zwei Tage hinter einander zu
Hause blieb. Wohin sie im Laufe der Zeit gesunken waren, dort blieben sie.
Vielleicht daß sie hin und wieder in einsamen Stunden mit Wehmut zu der
Höhe hinaufstarrten, von der sie herabgestürzt waren, vielleicht daß sie sich
auch nur wunderten, wie anstrengend es doch gewesen sein müsse, sich dort oben
festzuhalten, daß sie sich sicherer da gebettet fühlten, wo sie jetzt waren. Es
trat keine Veränderung ein. Nicht in Bezug auf die alten Tage, sondern in
Bezug auf die schlaffe Gemeinheit, die darin bestand, daß sie weiter lebten, wie
sie sonst gelebt hatten, ohne doch mit einander fortzulaufen -- dies ward ihnen
mehr und mehr fühlbar, und verkettete sie enger und tiefer mit einander in
dem gemeinsamen Gefühl ihrer Schuld. Denn keines von ihnen wünschte die
Dinge anders, als sie waren; auch verbargen sie es nicht vor einander, denn
es war eine cynische Vertraulichkeit zwischen ihnen entstanden, wie sie gewöhnlich
zwischen Mitschuldigen zu entstehen pflegt, und da war nichts in ihrem Ver¬
hältnis, was sie sich gescheut hätten mit Worten zu berühren. Sie nannten
die Dinge mit einem traurigen Mut beim rechten Namen und sahen ihnen in
die Augen, so wie sie einmal waren.

Es hatte im Februar den Anschein gehabt, als sollte der Winter schon
ein Ende nehmen. Dann aber kam der März mit seinem weißen Mantel und


Ricks Lyhne.

jeder in den Augen des andern unwissend stellte; diese mußten sie jetzt teilen,
denn Erik war keine verschämte Natur, und es konnte ihm oft in den Sinn
kommen, in Ricks' Gegenwart zärtlich gegen seine Frau zu sein, sie zu küssen,
sie auf den Schoß zu nehmen, sie zu umarmen, und Fennimore durfte diese
Liebkosungen nicht abweisen, wie früher, oder es fehlte ihr vielmehr der Mut
dazu; das Bewußtsein ihrer Schuld machte sie unsicher und bange.

So sank das hohe Schloß ihrer Liebe mehr und mehr herab, das Schloß,
von dessen Zinnen herab sie so erhaben über die Welt hinausgeschaut und
worin sie sich so stolz und groß gefühlt hatten.

Aber sie waren glücklich zwischen den Ruinen.

Wenn sie jetzt im Walde spazieren gingen, so geschah es meist an dunkeln
Tagen, wo der Nebel in den braunen Zweigen hing und sich zwischen den
nassen Stämmen verdickte, sodaß sie niemand sehen konnte, wenn sie sich hier
küßten und sich dort umarmten, und niemand sie hören konnte, wenn ihre
leichtsinnige Rede in ausgelassenem Gelächter erklang.

Das Gepräge der Ewigkeitsmelancholie, das über ihrer Liebe gelegen hatte,
war verlöscht; eitel Lachen und Scherzen herrschte jetzt zwischen ihnen, und es
war eine wahre Fieberhast über sie gekommen, eine Gier nach den eilenden
Sekunden des Glückes, als müßten sie sich beeilen mit ihrer Liebe, als hätten
sie nicht das ganze Leben mehr vor sich.

Es änderte nichts in ihrem Verhältnis, daß Erik nach Verlauf eines
Monats seiner Idee müde ward und von neuem seine Fahrten begann, und
zwar mit einem solchen Eifer, daß er nur selten zwei Tage hinter einander zu
Hause blieb. Wohin sie im Laufe der Zeit gesunken waren, dort blieben sie.
Vielleicht daß sie hin und wieder in einsamen Stunden mit Wehmut zu der
Höhe hinaufstarrten, von der sie herabgestürzt waren, vielleicht daß sie sich
auch nur wunderten, wie anstrengend es doch gewesen sein müsse, sich dort oben
festzuhalten, daß sie sich sicherer da gebettet fühlten, wo sie jetzt waren. Es
trat keine Veränderung ein. Nicht in Bezug auf die alten Tage, sondern in
Bezug auf die schlaffe Gemeinheit, die darin bestand, daß sie weiter lebten, wie
sie sonst gelebt hatten, ohne doch mit einander fortzulaufen — dies ward ihnen
mehr und mehr fühlbar, und verkettete sie enger und tiefer mit einander in
dem gemeinsamen Gefühl ihrer Schuld. Denn keines von ihnen wünschte die
Dinge anders, als sie waren; auch verbargen sie es nicht vor einander, denn
es war eine cynische Vertraulichkeit zwischen ihnen entstanden, wie sie gewöhnlich
zwischen Mitschuldigen zu entstehen pflegt, und da war nichts in ihrem Ver¬
hältnis, was sie sich gescheut hätten mit Worten zu berühren. Sie nannten
die Dinge mit einem traurigen Mut beim rechten Namen und sahen ihnen in
die Augen, so wie sie einmal waren.

Es hatte im Februar den Anschein gehabt, als sollte der Winter schon
ein Ende nehmen. Dann aber kam der März mit seinem weißen Mantel und


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[0432] Ricks Lyhne. jeder in den Augen des andern unwissend stellte; diese mußten sie jetzt teilen, denn Erik war keine verschämte Natur, und es konnte ihm oft in den Sinn kommen, in Ricks' Gegenwart zärtlich gegen seine Frau zu sein, sie zu küssen, sie auf den Schoß zu nehmen, sie zu umarmen, und Fennimore durfte diese Liebkosungen nicht abweisen, wie früher, oder es fehlte ihr vielmehr der Mut dazu; das Bewußtsein ihrer Schuld machte sie unsicher und bange. So sank das hohe Schloß ihrer Liebe mehr und mehr herab, das Schloß, von dessen Zinnen herab sie so erhaben über die Welt hinausgeschaut und worin sie sich so stolz und groß gefühlt hatten. Aber sie waren glücklich zwischen den Ruinen. Wenn sie jetzt im Walde spazieren gingen, so geschah es meist an dunkeln Tagen, wo der Nebel in den braunen Zweigen hing und sich zwischen den nassen Stämmen verdickte, sodaß sie niemand sehen konnte, wenn sie sich hier küßten und sich dort umarmten, und niemand sie hören konnte, wenn ihre leichtsinnige Rede in ausgelassenem Gelächter erklang. Das Gepräge der Ewigkeitsmelancholie, das über ihrer Liebe gelegen hatte, war verlöscht; eitel Lachen und Scherzen herrschte jetzt zwischen ihnen, und es war eine wahre Fieberhast über sie gekommen, eine Gier nach den eilenden Sekunden des Glückes, als müßten sie sich beeilen mit ihrer Liebe, als hätten sie nicht das ganze Leben mehr vor sich. Es änderte nichts in ihrem Verhältnis, daß Erik nach Verlauf eines Monats seiner Idee müde ward und von neuem seine Fahrten begann, und zwar mit einem solchen Eifer, daß er nur selten zwei Tage hinter einander zu Hause blieb. Wohin sie im Laufe der Zeit gesunken waren, dort blieben sie. Vielleicht daß sie hin und wieder in einsamen Stunden mit Wehmut zu der Höhe hinaufstarrten, von der sie herabgestürzt waren, vielleicht daß sie sich auch nur wunderten, wie anstrengend es doch gewesen sein müsse, sich dort oben festzuhalten, daß sie sich sicherer da gebettet fühlten, wo sie jetzt waren. Es trat keine Veränderung ein. Nicht in Bezug auf die alten Tage, sondern in Bezug auf die schlaffe Gemeinheit, die darin bestand, daß sie weiter lebten, wie sie sonst gelebt hatten, ohne doch mit einander fortzulaufen — dies ward ihnen mehr und mehr fühlbar, und verkettete sie enger und tiefer mit einander in dem gemeinsamen Gefühl ihrer Schuld. Denn keines von ihnen wünschte die Dinge anders, als sie waren; auch verbargen sie es nicht vor einander, denn es war eine cynische Vertraulichkeit zwischen ihnen entstanden, wie sie gewöhnlich zwischen Mitschuldigen zu entstehen pflegt, und da war nichts in ihrem Ver¬ hältnis, was sie sich gescheut hätten mit Worten zu berühren. Sie nannten die Dinge mit einem traurigen Mut beim rechten Namen und sahen ihnen in die Augen, so wie sie einmal waren. Es hatte im Februar den Anschein gehabt, als sollte der Winter schon ein Ende nehmen. Dann aber kam der März mit seinem weißen Mantel und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/432>, abgerufen am 22.07.2024.