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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

schauungen, die ihre Magd teilweise kaum versteht; was jene als kostbares
Gut zu hüten sucht, giebt diese ohne Gewissensbisse hin. Visweilen, doch nicht
immer, hängt Moral mit Bildung zusammen, sie kann durch sie gestärkt und
geschwächt werden. Seinen gebildeten, aber entarteten Römern durfte Tacitus
den Spiegel der barbarischen Germanen vorhalten, wohl nie sind alle Bande
der Zucht so gelockert gewesen, wie in der geistig- hohen Renaissance und der
Aufklärungsperiode Ludwigs XV. Ein Zeitalter kann hochgebildet und doch
verwildert sein, und umgekehrt: unter einfachen Leuten kann reine Sittlichkeit
herrschen, freilich ebensogut volle Verrohung, Menschen und Völker handeln
eben oft nach irriger oder doch mangelhafter Erkenntnis. Mit einem Ka¬
non von Sittlichkeit kommen wir demnach nicht aus, ohne andern Geschöpfen
und Zeiten Gewalt anzuthun, wir müßten uns denn stets in die besondre
Sittlichkeit und Zeit versetzen, und dafür genügen meistens die Hilfsmittel
nicht, von andern? zu schweigen. Wie schnell hat sich der große historische
Moralist, hat sich Schlosser überlebt, wie viel Unrecht hat gerade er gethan,
der das lautere Recht zu vertreten glaubte! Etwas Richtiges ruht natür¬
lich in dem "Dcmtischen Elemente" der Geschichtschreibung; dies: daß Erben¬
größe nicht blenden darf, daß der König vor dem Richter der Vergangenheit
dasteht wie der Bettler, der Glückliche wie der Verfolgte mit gleichem Maße
gemessen wird. Man darf aber anch hier nicht zu weit gehen und muß stets
die Gesamtumstände vor Augen behalten, einen Despoten zur Zeit des Abso¬
lutismus z. B. anders beurteilen, als in der konstitutionellen Monarchie, einen
Mörder im frühern Neapel anders als im heutigen Basel, ein Mädchen, das
aus Not sündigt anders als eine Kaiserin Elisabeth von Rußland. Gar oft
läßt sich sagen, was besser und schlechter, aber selten, was gut und böse ist.

Noch handgreiflicher tritt uns das Mangelhafte eines Standpunktes in
andern, weniger zarten Fragen entgegen. Schon Raumer bemerkte, daß die
Italiener den lombardischen Städten Recht geben, die Deutschen ihren Kaisern.
Der Kommunist preist Se. Just und Robespierre, der Royalist schilt sie Ver¬
brecher, den Abschaum der Menschheit; der englisch-liberale Mcicaulay schilderte
Friedrich Wilhelm I. als einen halb Verrückten, der konservative preußische
Historiker erkennt einen tüchtigen Regenten in ihm; der italienische Novellist
Giraldi erzählte die Liebesgeschichten seiner Herzöge bei deren Lebzeiten in einer
Weise, die spätern Jahrhunderten als Gipfel aller Indiskretion, damals aber
als harmlose Verbindlichkeit erschien. Ungescheut besangen Dichter der Re¬
naissance die zarten Verhältnisse ihrer hohen rechtmäßig verheirateten Herren
und erwarben dafür Gunst und Lohn. Sugenheim läßt alles Schlechte mög¬
lichst durch Priester in die Welt gekommen sein, Gfrörer alles Gute; dem Kleri¬
kalen ist die katholische Kirche das Höchste, dem evangelischen Geschichtschreiber
der Staat; ein frommer Christ hält Muhammed, für einen Betrüger,
Christus als Gottmenschen, der Muhammedaner sieht in jenem den Propheten,


Grenzboten III. 1333. S1
Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

schauungen, die ihre Magd teilweise kaum versteht; was jene als kostbares
Gut zu hüten sucht, giebt diese ohne Gewissensbisse hin. Visweilen, doch nicht
immer, hängt Moral mit Bildung zusammen, sie kann durch sie gestärkt und
geschwächt werden. Seinen gebildeten, aber entarteten Römern durfte Tacitus
den Spiegel der barbarischen Germanen vorhalten, wohl nie sind alle Bande
der Zucht so gelockert gewesen, wie in der geistig- hohen Renaissance und der
Aufklärungsperiode Ludwigs XV. Ein Zeitalter kann hochgebildet und doch
verwildert sein, und umgekehrt: unter einfachen Leuten kann reine Sittlichkeit
herrschen, freilich ebensogut volle Verrohung, Menschen und Völker handeln
eben oft nach irriger oder doch mangelhafter Erkenntnis. Mit einem Ka¬
non von Sittlichkeit kommen wir demnach nicht aus, ohne andern Geschöpfen
und Zeiten Gewalt anzuthun, wir müßten uns denn stets in die besondre
Sittlichkeit und Zeit versetzen, und dafür genügen meistens die Hilfsmittel
nicht, von andern? zu schweigen. Wie schnell hat sich der große historische
Moralist, hat sich Schlosser überlebt, wie viel Unrecht hat gerade er gethan,
der das lautere Recht zu vertreten glaubte! Etwas Richtiges ruht natür¬
lich in dem „Dcmtischen Elemente" der Geschichtschreibung; dies: daß Erben¬
größe nicht blenden darf, daß der König vor dem Richter der Vergangenheit
dasteht wie der Bettler, der Glückliche wie der Verfolgte mit gleichem Maße
gemessen wird. Man darf aber anch hier nicht zu weit gehen und muß stets
die Gesamtumstände vor Augen behalten, einen Despoten zur Zeit des Abso¬
lutismus z. B. anders beurteilen, als in der konstitutionellen Monarchie, einen
Mörder im frühern Neapel anders als im heutigen Basel, ein Mädchen, das
aus Not sündigt anders als eine Kaiserin Elisabeth von Rußland. Gar oft
läßt sich sagen, was besser und schlechter, aber selten, was gut und böse ist.

Noch handgreiflicher tritt uns das Mangelhafte eines Standpunktes in
andern, weniger zarten Fragen entgegen. Schon Raumer bemerkte, daß die
Italiener den lombardischen Städten Recht geben, die Deutschen ihren Kaisern.
Der Kommunist preist Se. Just und Robespierre, der Royalist schilt sie Ver¬
brecher, den Abschaum der Menschheit; der englisch-liberale Mcicaulay schilderte
Friedrich Wilhelm I. als einen halb Verrückten, der konservative preußische
Historiker erkennt einen tüchtigen Regenten in ihm; der italienische Novellist
Giraldi erzählte die Liebesgeschichten seiner Herzöge bei deren Lebzeiten in einer
Weise, die spätern Jahrhunderten als Gipfel aller Indiskretion, damals aber
als harmlose Verbindlichkeit erschien. Ungescheut besangen Dichter der Re¬
naissance die zarten Verhältnisse ihrer hohen rechtmäßig verheirateten Herren
und erwarben dafür Gunst und Lohn. Sugenheim läßt alles Schlechte mög¬
lichst durch Priester in die Welt gekommen sein, Gfrörer alles Gute; dem Kleri¬
kalen ist die katholische Kirche das Höchste, dem evangelischen Geschichtschreiber
der Staat; ein frommer Christ hält Muhammed, für einen Betrüger,
Christus als Gottmenschen, der Muhammedaner sieht in jenem den Propheten,


Grenzboten III. 1333. S1
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[0409] Gefahren in der Geschichtswissenschaft. schauungen, die ihre Magd teilweise kaum versteht; was jene als kostbares Gut zu hüten sucht, giebt diese ohne Gewissensbisse hin. Visweilen, doch nicht immer, hängt Moral mit Bildung zusammen, sie kann durch sie gestärkt und geschwächt werden. Seinen gebildeten, aber entarteten Römern durfte Tacitus den Spiegel der barbarischen Germanen vorhalten, wohl nie sind alle Bande der Zucht so gelockert gewesen, wie in der geistig- hohen Renaissance und der Aufklärungsperiode Ludwigs XV. Ein Zeitalter kann hochgebildet und doch verwildert sein, und umgekehrt: unter einfachen Leuten kann reine Sittlichkeit herrschen, freilich ebensogut volle Verrohung, Menschen und Völker handeln eben oft nach irriger oder doch mangelhafter Erkenntnis. Mit einem Ka¬ non von Sittlichkeit kommen wir demnach nicht aus, ohne andern Geschöpfen und Zeiten Gewalt anzuthun, wir müßten uns denn stets in die besondre Sittlichkeit und Zeit versetzen, und dafür genügen meistens die Hilfsmittel nicht, von andern? zu schweigen. Wie schnell hat sich der große historische Moralist, hat sich Schlosser überlebt, wie viel Unrecht hat gerade er gethan, der das lautere Recht zu vertreten glaubte! Etwas Richtiges ruht natür¬ lich in dem „Dcmtischen Elemente" der Geschichtschreibung; dies: daß Erben¬ größe nicht blenden darf, daß der König vor dem Richter der Vergangenheit dasteht wie der Bettler, der Glückliche wie der Verfolgte mit gleichem Maße gemessen wird. Man darf aber anch hier nicht zu weit gehen und muß stets die Gesamtumstände vor Augen behalten, einen Despoten zur Zeit des Abso¬ lutismus z. B. anders beurteilen, als in der konstitutionellen Monarchie, einen Mörder im frühern Neapel anders als im heutigen Basel, ein Mädchen, das aus Not sündigt anders als eine Kaiserin Elisabeth von Rußland. Gar oft läßt sich sagen, was besser und schlechter, aber selten, was gut und böse ist. Noch handgreiflicher tritt uns das Mangelhafte eines Standpunktes in andern, weniger zarten Fragen entgegen. Schon Raumer bemerkte, daß die Italiener den lombardischen Städten Recht geben, die Deutschen ihren Kaisern. Der Kommunist preist Se. Just und Robespierre, der Royalist schilt sie Ver¬ brecher, den Abschaum der Menschheit; der englisch-liberale Mcicaulay schilderte Friedrich Wilhelm I. als einen halb Verrückten, der konservative preußische Historiker erkennt einen tüchtigen Regenten in ihm; der italienische Novellist Giraldi erzählte die Liebesgeschichten seiner Herzöge bei deren Lebzeiten in einer Weise, die spätern Jahrhunderten als Gipfel aller Indiskretion, damals aber als harmlose Verbindlichkeit erschien. Ungescheut besangen Dichter der Re¬ naissance die zarten Verhältnisse ihrer hohen rechtmäßig verheirateten Herren und erwarben dafür Gunst und Lohn. Sugenheim läßt alles Schlechte mög¬ lichst durch Priester in die Welt gekommen sein, Gfrörer alles Gute; dem Kleri¬ kalen ist die katholische Kirche das Höchste, dem evangelischen Geschichtschreiber der Staat; ein frommer Christ hält Muhammed, für einen Betrüger, Christus als Gottmenschen, der Muhammedaner sieht in jenem den Propheten, Grenzboten III. 1333. S1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/409>, abgerufen am 22.07.2024.