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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

persönlich ihren Anhang und setzt die Reklame in Bewegung, der Jüngere ge¬
winnt die Gunst des Mächtigen und mit ihr über kurz oder lang ein Ämtchen.
Wagt jemand außerhalb des Ringes zu arbeiten, so kann er sicher sein, daß
dieser ihn ebenso behandelt und ebenso niederzuschlagen sucht, wie der Gro߬
industrielle seinen Konkurrenten. Man sieht, wie jedes Geschäft seine Technik
erzeugt: Zuckerbäcker und Bücherschreiben.

Bedroht der Spezialismus zunächst den Forscher, so gilt die Gefahr
des vorgefaßten Standpunktes mehr dem Darsteller. Wir meinen, daß jemand
die Geschichte in bestimmter Weise auffaßt, sie in gewisser Art beleuchtet und
färbt. Die "schönen Geister" des vorigen Jahrhunderts schrieben vom Stand¬
punkte der Aufklärung, Rotteck von dem der Freiheit, Janssen von dem des Ka¬
tholizismus, Treitschke von dem des evangelisch-preußischen Staates, Dahlmann
mehrfach von dem der konstitutionellen Rechtschaffenheit, und so weiter. Als
höchster und reinster erscheint wohl der der Sittlichkeit, und doch birgt er die¬
selben Unzulänglichkeiten wie die andern.

Betrachten wir ihn näher. Zunächst ist Sittlichkeit kein absoluter, sondern
ein historischer und sozialer Begriff. Wohl kann man philosophisch ein Ideal
von Sittlichkeit gestalten, nach dem sich abmessen läßt, wie weit die einzelnen
Menschen davon entfernt geblieben sind, aber erstens würde das Ideal schwerlich
in allen Köpfen gleich ausfallen, und zweitens wäre die Thätigkeit eine philo¬
sophisch-moralische, keine historische. Gewisse sittliche Grundsätze mögen bei
allen Kulturvölker" und in allen Jahrhunderten ziemlich gleich gewesen sein,
aber auch nicht mehr. Zu verschiednen Zeiten hielt man verschiedne Dinge
für erlaubt, ja zu ein- und derselben Zeit erachtete man bei verschiednen Völkern
und in verschiednen Volksklassen auch Verschiednes für sittlich und unsittlich;
und noch mehr: einzelnen Menschen erscheinen ihrem Naturell und ihrer Er¬
ziehung uach Sachen zulässig, die der abweichend geartete glaubt verdammen
zu müssen. Sicher dünkt uns unmoralisch, wenn Kimvn seine Halbschwester
freite, wenn man zur Zeit des dreißigjährigen Krieges Gebäck von unzüchtigen
Formen auf die Tafel setzte, oder wenn ein bluträchender Germane den Mörder
seines Bruders rücklings niederstieß, wenn einem Menschen der Renaissance
nur das Streben nach Ruhm und Größe heilig war, jedes Mittel dazu erlaubt
schien, wenn im Mittelalter mit Heiligengebeinen frommer Betrug getrieben
wurde, man sie nicht nur fälschte, sondern sogar ack rng-MSin äei ZIorig.ro. stahl
und sich dessen rühmte ?c. Und doch, zu den betreffenden Zeiten sah man
nichts Anstößiges darin. Dinge, die ein Romane für zulässig erachtet, er¬
scheinen dem Deutschen verwerflich, und umgekehrt; ist dieser gegen Trunkenheit
nachsichtig, so jener in Frauenliebe. Sachen, die der Offizier einer Großstadt
treibt, dünken dem Kaufmanne einer Kleinstadt vielleicht haarsträubend, und was
der letztere als selbstverständlich, als Geschäftssache thut, geht dem Offizier
wider die Ehre; ein wohl erzogenes Mädchen besserer Stände lebt in An-


Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

persönlich ihren Anhang und setzt die Reklame in Bewegung, der Jüngere ge¬
winnt die Gunst des Mächtigen und mit ihr über kurz oder lang ein Ämtchen.
Wagt jemand außerhalb des Ringes zu arbeiten, so kann er sicher sein, daß
dieser ihn ebenso behandelt und ebenso niederzuschlagen sucht, wie der Gro߬
industrielle seinen Konkurrenten. Man sieht, wie jedes Geschäft seine Technik
erzeugt: Zuckerbäcker und Bücherschreiben.

Bedroht der Spezialismus zunächst den Forscher, so gilt die Gefahr
des vorgefaßten Standpunktes mehr dem Darsteller. Wir meinen, daß jemand
die Geschichte in bestimmter Weise auffaßt, sie in gewisser Art beleuchtet und
färbt. Die „schönen Geister" des vorigen Jahrhunderts schrieben vom Stand¬
punkte der Aufklärung, Rotteck von dem der Freiheit, Janssen von dem des Ka¬
tholizismus, Treitschke von dem des evangelisch-preußischen Staates, Dahlmann
mehrfach von dem der konstitutionellen Rechtschaffenheit, und so weiter. Als
höchster und reinster erscheint wohl der der Sittlichkeit, und doch birgt er die¬
selben Unzulänglichkeiten wie die andern.

Betrachten wir ihn näher. Zunächst ist Sittlichkeit kein absoluter, sondern
ein historischer und sozialer Begriff. Wohl kann man philosophisch ein Ideal
von Sittlichkeit gestalten, nach dem sich abmessen läßt, wie weit die einzelnen
Menschen davon entfernt geblieben sind, aber erstens würde das Ideal schwerlich
in allen Köpfen gleich ausfallen, und zweitens wäre die Thätigkeit eine philo¬
sophisch-moralische, keine historische. Gewisse sittliche Grundsätze mögen bei
allen Kulturvölker» und in allen Jahrhunderten ziemlich gleich gewesen sein,
aber auch nicht mehr. Zu verschiednen Zeiten hielt man verschiedne Dinge
für erlaubt, ja zu ein- und derselben Zeit erachtete man bei verschiednen Völkern
und in verschiednen Volksklassen auch Verschiednes für sittlich und unsittlich;
und noch mehr: einzelnen Menschen erscheinen ihrem Naturell und ihrer Er¬
ziehung uach Sachen zulässig, die der abweichend geartete glaubt verdammen
zu müssen. Sicher dünkt uns unmoralisch, wenn Kimvn seine Halbschwester
freite, wenn man zur Zeit des dreißigjährigen Krieges Gebäck von unzüchtigen
Formen auf die Tafel setzte, oder wenn ein bluträchender Germane den Mörder
seines Bruders rücklings niederstieß, wenn einem Menschen der Renaissance
nur das Streben nach Ruhm und Größe heilig war, jedes Mittel dazu erlaubt
schien, wenn im Mittelalter mit Heiligengebeinen frommer Betrug getrieben
wurde, man sie nicht nur fälschte, sondern sogar ack rng-MSin äei ZIorig.ro. stahl
und sich dessen rühmte ?c. Und doch, zu den betreffenden Zeiten sah man
nichts Anstößiges darin. Dinge, die ein Romane für zulässig erachtet, er¬
scheinen dem Deutschen verwerflich, und umgekehrt; ist dieser gegen Trunkenheit
nachsichtig, so jener in Frauenliebe. Sachen, die der Offizier einer Großstadt
treibt, dünken dem Kaufmanne einer Kleinstadt vielleicht haarsträubend, und was
der letztere als selbstverständlich, als Geschäftssache thut, geht dem Offizier
wider die Ehre; ein wohl erzogenes Mädchen besserer Stände lebt in An-


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[0408] Gefahren in der Geschichtswissenschaft. persönlich ihren Anhang und setzt die Reklame in Bewegung, der Jüngere ge¬ winnt die Gunst des Mächtigen und mit ihr über kurz oder lang ein Ämtchen. Wagt jemand außerhalb des Ringes zu arbeiten, so kann er sicher sein, daß dieser ihn ebenso behandelt und ebenso niederzuschlagen sucht, wie der Gro߬ industrielle seinen Konkurrenten. Man sieht, wie jedes Geschäft seine Technik erzeugt: Zuckerbäcker und Bücherschreiben. Bedroht der Spezialismus zunächst den Forscher, so gilt die Gefahr des vorgefaßten Standpunktes mehr dem Darsteller. Wir meinen, daß jemand die Geschichte in bestimmter Weise auffaßt, sie in gewisser Art beleuchtet und färbt. Die „schönen Geister" des vorigen Jahrhunderts schrieben vom Stand¬ punkte der Aufklärung, Rotteck von dem der Freiheit, Janssen von dem des Ka¬ tholizismus, Treitschke von dem des evangelisch-preußischen Staates, Dahlmann mehrfach von dem der konstitutionellen Rechtschaffenheit, und so weiter. Als höchster und reinster erscheint wohl der der Sittlichkeit, und doch birgt er die¬ selben Unzulänglichkeiten wie die andern. Betrachten wir ihn näher. Zunächst ist Sittlichkeit kein absoluter, sondern ein historischer und sozialer Begriff. Wohl kann man philosophisch ein Ideal von Sittlichkeit gestalten, nach dem sich abmessen läßt, wie weit die einzelnen Menschen davon entfernt geblieben sind, aber erstens würde das Ideal schwerlich in allen Köpfen gleich ausfallen, und zweitens wäre die Thätigkeit eine philo¬ sophisch-moralische, keine historische. Gewisse sittliche Grundsätze mögen bei allen Kulturvölker» und in allen Jahrhunderten ziemlich gleich gewesen sein, aber auch nicht mehr. Zu verschiednen Zeiten hielt man verschiedne Dinge für erlaubt, ja zu ein- und derselben Zeit erachtete man bei verschiednen Völkern und in verschiednen Volksklassen auch Verschiednes für sittlich und unsittlich; und noch mehr: einzelnen Menschen erscheinen ihrem Naturell und ihrer Er¬ ziehung uach Sachen zulässig, die der abweichend geartete glaubt verdammen zu müssen. Sicher dünkt uns unmoralisch, wenn Kimvn seine Halbschwester freite, wenn man zur Zeit des dreißigjährigen Krieges Gebäck von unzüchtigen Formen auf die Tafel setzte, oder wenn ein bluträchender Germane den Mörder seines Bruders rücklings niederstieß, wenn einem Menschen der Renaissance nur das Streben nach Ruhm und Größe heilig war, jedes Mittel dazu erlaubt schien, wenn im Mittelalter mit Heiligengebeinen frommer Betrug getrieben wurde, man sie nicht nur fälschte, sondern sogar ack rng-MSin äei ZIorig.ro. stahl und sich dessen rühmte ?c. Und doch, zu den betreffenden Zeiten sah man nichts Anstößiges darin. Dinge, die ein Romane für zulässig erachtet, er¬ scheinen dem Deutschen verwerflich, und umgekehrt; ist dieser gegen Trunkenheit nachsichtig, so jener in Frauenliebe. Sachen, die der Offizier einer Großstadt treibt, dünken dem Kaufmanne einer Kleinstadt vielleicht haarsträubend, und was der letztere als selbstverständlich, als Geschäftssache thut, geht dem Offizier wider die Ehre; ein wohl erzogenes Mädchen besserer Stände lebt in An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/408>, abgerufen am 24.08.2024.