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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

Das Gesetz wegen Ausdehnung der Reichszuständigkeit wurde am 20. De¬
zember 1873 erlassen. Die Kommission zur Ausarbeitung eines Zivilgesetzbuches
wurde berufen, und zwar nach streng föderalistischen Grundsatze. Jeder größere
Staat war mindestens durch ein Mitglied darin vertreten. Anscheinend wurden
nach gleichem Grundsatze auch die Arbeiten darin verteilt. Von einem Vor-
schreiten mit Einzelgesetzen war nun nicht weiter die Rede. Das Wort Lasters
blieb völlig uncingelöst. Der Reichstag (und vielleicht auch der Bundesrat)
mochte im Stillen herzlich froh sein, der moralischen Verpflichtung, von dem so
dringend begehrten Zuständigkcitsgesctze auch Gebrauch zu machen, durch Ein¬
setzung der Kommission sich vorläufig überhoben erachten zu können. Denn
unsern Politikern sind alle Justizgesetze, wenn sie nicht einen politischen Bei¬
geschmack haben, im Grunde ihrer Seele ein Greuel. Die Kosten der eingesetzten
Kommission figurirten alljährlich auf dem Etat. Aber von den Arbeiten der¬
selben erfuhr man nichts. Sie wurden streng geheim gehalten.

Endlich im Jahre 1888 ist der Entwurf im ersten Abschluß -- unter
merklicher Überschreitung der von Laster für den letzten Abschluß als nötig
vorausgesagten fünf Jahre -- ans Licht getreten. Wie er seine weitern
Stadien -- die zweite Lesung, die Beschlußfassung des Bundesrates und des
Reichstages -- durchlaufen soll, ist eine Frage, die hier dahingestellt bleiben
mag. Es ist kaum zu denken, daß der Entwurf innerhalb absehbarer Zeit
Gesetz werden könnte, wenn nicht die Faktoren unsrer Gesetzgebung auf eine
sachliche Mitwirkung bei demselben zum wesentlichsten Teile verzichten sollten.
Umsomehr ist anzunehmen, daß der Entwurf, so wie er gegenwärtig vorliegt,
im wesentlichen unverändert erhalten bleiben wird, und wir können daher schon
jetzt die Frage stellen: Welchen Einfluß wird er auf das Rechtsleben des
deutschen Volkes üben?

Wenn manche heute noch den Glauben haben (den ja auch der große
Friedrich hegte), daß, sobald man nur ein deutsches Gesetzbuch schaffe, damit
dem Volke das Recht unmittelbar verständlich sein werde, so können sie sich
darüber, daß dies eine Täuschung ist, aus dem vorliegenden EntWurfe genügend
belehren. Ich bin persönlich der Ansicht, daß ein Gesetzbuch, welches den fein¬
gegliederten Organismus des Zivilrechts unserm Volke zur unmittelbaren An¬
schauung brächte, überhaupt nicht geschaffen werden kann. Jedenfalls aber ist
der vorliegende Entwurf nach seiner ganzen Sprachweise nicht dazu geeignet.
Es ist ja möglich, daß über die eine oder andre einfache Frage auch der ge¬
bildete Laie sich daraus unterrichten kann. Im großen und ganzen aber wird
das Recht des Entwurfes dem Laien gerade so unverständlich bleiben, wie das
des ^jures. Wer sich davon überzeugen will, braucht bloß einige Blätter
des Entwurfs zu lesen.

Eine weitere Täuschung würde es sein, wenn jemand glauben wollte, daß
durch den Entwurf, wenn er Gesetz würde, eine größere Sicherheit des Rechts


Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

Das Gesetz wegen Ausdehnung der Reichszuständigkeit wurde am 20. De¬
zember 1873 erlassen. Die Kommission zur Ausarbeitung eines Zivilgesetzbuches
wurde berufen, und zwar nach streng föderalistischen Grundsatze. Jeder größere
Staat war mindestens durch ein Mitglied darin vertreten. Anscheinend wurden
nach gleichem Grundsatze auch die Arbeiten darin verteilt. Von einem Vor-
schreiten mit Einzelgesetzen war nun nicht weiter die Rede. Das Wort Lasters
blieb völlig uncingelöst. Der Reichstag (und vielleicht auch der Bundesrat)
mochte im Stillen herzlich froh sein, der moralischen Verpflichtung, von dem so
dringend begehrten Zuständigkcitsgesctze auch Gebrauch zu machen, durch Ein¬
setzung der Kommission sich vorläufig überhoben erachten zu können. Denn
unsern Politikern sind alle Justizgesetze, wenn sie nicht einen politischen Bei¬
geschmack haben, im Grunde ihrer Seele ein Greuel. Die Kosten der eingesetzten
Kommission figurirten alljährlich auf dem Etat. Aber von den Arbeiten der¬
selben erfuhr man nichts. Sie wurden streng geheim gehalten.

Endlich im Jahre 1888 ist der Entwurf im ersten Abschluß — unter
merklicher Überschreitung der von Laster für den letzten Abschluß als nötig
vorausgesagten fünf Jahre — ans Licht getreten. Wie er seine weitern
Stadien — die zweite Lesung, die Beschlußfassung des Bundesrates und des
Reichstages — durchlaufen soll, ist eine Frage, die hier dahingestellt bleiben
mag. Es ist kaum zu denken, daß der Entwurf innerhalb absehbarer Zeit
Gesetz werden könnte, wenn nicht die Faktoren unsrer Gesetzgebung auf eine
sachliche Mitwirkung bei demselben zum wesentlichsten Teile verzichten sollten.
Umsomehr ist anzunehmen, daß der Entwurf, so wie er gegenwärtig vorliegt,
im wesentlichen unverändert erhalten bleiben wird, und wir können daher schon
jetzt die Frage stellen: Welchen Einfluß wird er auf das Rechtsleben des
deutschen Volkes üben?

Wenn manche heute noch den Glauben haben (den ja auch der große
Friedrich hegte), daß, sobald man nur ein deutsches Gesetzbuch schaffe, damit
dem Volke das Recht unmittelbar verständlich sein werde, so können sie sich
darüber, daß dies eine Täuschung ist, aus dem vorliegenden EntWurfe genügend
belehren. Ich bin persönlich der Ansicht, daß ein Gesetzbuch, welches den fein¬
gegliederten Organismus des Zivilrechts unserm Volke zur unmittelbaren An¬
schauung brächte, überhaupt nicht geschaffen werden kann. Jedenfalls aber ist
der vorliegende Entwurf nach seiner ganzen Sprachweise nicht dazu geeignet.
Es ist ja möglich, daß über die eine oder andre einfache Frage auch der ge¬
bildete Laie sich daraus unterrichten kann. Im großen und ganzen aber wird
das Recht des Entwurfes dem Laien gerade so unverständlich bleiben, wie das
des ^jures. Wer sich davon überzeugen will, braucht bloß einige Blätter
des Entwurfs zu lesen.

Eine weitere Täuschung würde es sein, wenn jemand glauben wollte, daß
durch den Entwurf, wenn er Gesetz würde, eine größere Sicherheit des Rechts


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[0406] Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung. Das Gesetz wegen Ausdehnung der Reichszuständigkeit wurde am 20. De¬ zember 1873 erlassen. Die Kommission zur Ausarbeitung eines Zivilgesetzbuches wurde berufen, und zwar nach streng föderalistischen Grundsatze. Jeder größere Staat war mindestens durch ein Mitglied darin vertreten. Anscheinend wurden nach gleichem Grundsatze auch die Arbeiten darin verteilt. Von einem Vor- schreiten mit Einzelgesetzen war nun nicht weiter die Rede. Das Wort Lasters blieb völlig uncingelöst. Der Reichstag (und vielleicht auch der Bundesrat) mochte im Stillen herzlich froh sein, der moralischen Verpflichtung, von dem so dringend begehrten Zuständigkcitsgesctze auch Gebrauch zu machen, durch Ein¬ setzung der Kommission sich vorläufig überhoben erachten zu können. Denn unsern Politikern sind alle Justizgesetze, wenn sie nicht einen politischen Bei¬ geschmack haben, im Grunde ihrer Seele ein Greuel. Die Kosten der eingesetzten Kommission figurirten alljährlich auf dem Etat. Aber von den Arbeiten der¬ selben erfuhr man nichts. Sie wurden streng geheim gehalten. Endlich im Jahre 1888 ist der Entwurf im ersten Abschluß — unter merklicher Überschreitung der von Laster für den letzten Abschluß als nötig vorausgesagten fünf Jahre — ans Licht getreten. Wie er seine weitern Stadien — die zweite Lesung, die Beschlußfassung des Bundesrates und des Reichstages — durchlaufen soll, ist eine Frage, die hier dahingestellt bleiben mag. Es ist kaum zu denken, daß der Entwurf innerhalb absehbarer Zeit Gesetz werden könnte, wenn nicht die Faktoren unsrer Gesetzgebung auf eine sachliche Mitwirkung bei demselben zum wesentlichsten Teile verzichten sollten. Umsomehr ist anzunehmen, daß der Entwurf, so wie er gegenwärtig vorliegt, im wesentlichen unverändert erhalten bleiben wird, und wir können daher schon jetzt die Frage stellen: Welchen Einfluß wird er auf das Rechtsleben des deutschen Volkes üben? Wenn manche heute noch den Glauben haben (den ja auch der große Friedrich hegte), daß, sobald man nur ein deutsches Gesetzbuch schaffe, damit dem Volke das Recht unmittelbar verständlich sein werde, so können sie sich darüber, daß dies eine Täuschung ist, aus dem vorliegenden EntWurfe genügend belehren. Ich bin persönlich der Ansicht, daß ein Gesetzbuch, welches den fein¬ gegliederten Organismus des Zivilrechts unserm Volke zur unmittelbaren An¬ schauung brächte, überhaupt nicht geschaffen werden kann. Jedenfalls aber ist der vorliegende Entwurf nach seiner ganzen Sprachweise nicht dazu geeignet. Es ist ja möglich, daß über die eine oder andre einfache Frage auch der ge¬ bildete Laie sich daraus unterrichten kann. Im großen und ganzen aber wird das Recht des Entwurfes dem Laien gerade so unverständlich bleiben, wie das des ^jures. Wer sich davon überzeugen will, braucht bloß einige Blätter des Entwurfs zu lesen. Eine weitere Täuschung würde es sein, wenn jemand glauben wollte, daß durch den Entwurf, wenn er Gesetz würde, eine größere Sicherheit des Rechts

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/406>, abgerufen am 22.07.2024.