Stücke vorliegen, setzt man sie zusammen zum Ganzen. Jeder Arbeiter treibt nur seine Sache, und alles weitere kümmert ihn wenig. Wäre die Wissenschaft reine Mechanik, wo ein Rad in das andre greift, so ließe sich nichts gegen dieselbe Art einwenden, aber sie ist es eben nicht, und deshalb entstehen schwere Unzuträglichkeiten, als deren augenfälligste die Einseitigkeit angesehen werden muß. Wir begegnen ihr vom Kleinsten bis zum Größten, von kurzen Quellen- untersuchungen bis zu ganzen Zweigen des betreffenden Faches. Der eine er¬ forscht die Urkunden eines Kaisers, aber nur eines, und wenn er es auf deren drei gebracht hat, so scheint Welterschütterndes von ihm geleistet zu sein. Über Tacitus' Akimauig. sind dicke Bücher geschrieben worden; meines Wissens wurden aber nie oder doch nur unzureichend die antiquarischen Funde herangezogen, welche vielfach geradezu das Kontrolmaterial bieten, und warum? weil sie für den Tacitusfachmann noch nicht vorhanden sind. Altertumskundige eröffneten Tausende und Abertausende von Gräbern und verwerteten die gemachten Funde mit ungenügender Kenntnis der erzählenden Quellen, Inschriften und Münzen. Ganze Kulturperioden hat man aus den erzählenden Quellen zusammengestellt, ohne den dafür wichtigsten Stoff, die Altertümer, zu berücksichtigen. Für mittelalterliches Kirchenrecht ruhen umfassende Mitteilungen in den Papst¬ urkunden; statt sie dort zu heben, streitet man sich herum, was unter römischem Rechte eines Klosters zu verstehen sei. Dieselben Schriftstücke bieten reiche Ausbeute für Papstpolitik, man muß sie nur herausschälen und sich nicht mit unmittelbar eingreifenden Briefen begnügen. Noch ganz neuerdings konnte der Vorwurf erhoben werden, daß Tausende von Urkunden mit ungeheurer Mühe bloß auf äußere Kennzeichen durchgesehen würden, und dabei die innere Or¬ ganisation der Kanzlei, welcher doch die Erlasse ihr Dasein verdanken, vernach¬ lässigt würde, daß so vieles seine Geschichte besitze, aber nicht das öffentliche Rats- und Regierungswesen. (Neudegger.)
Diese Einseitigkeit wurde dadurch gefördert, daß die technisch-kritische, be¬ ziehungsweise untersuchende Seite bevorzugt, die kombinirende Thätigkeit oft mißtrauisch angesehen oder gar verpönt wurde. Die Wissenschaft erhielt damit einen pedantisch-philiströsen Beigeschmack, denn ein gutes Kombiniren erfordert Geist, Phantasie, Genialität, eine Quellen- oder Ereignisuntersuchung bisweilen Scharfsinn, gewöhnlich Fleiß, vor allem Methode; diese kann man lernen, Geist nicht. Bevorzugung artete aus in Überschätzung, in Überschätzung der Thätig¬ keit sowohl als der Fähigkeiten, auf denen sie beruht. Die Beschränkung erst verlieh das Siegel der Meisterschaft, die Technik wurde das Höchste, das Zitat der Gott. Man vereinzelte und verzettelte sich in Veröffentlichungen, Unter¬ suchungen und Kritik, gar oft ohne jegliche Frucht. Ein Buch konnte als gut gelobt werden, das zwar sehr methodisch und sehr gelehrt war, aber keinen einzigen Gedanken enthielt und worin bei aller Arbeit eigentlich nichts heraus¬ gekommen war; dagegen genügten einige fehlende Zitate, um ein tüchtiges Werk
Gefahren in der Geschichtswissenschaft.
Stücke vorliegen, setzt man sie zusammen zum Ganzen. Jeder Arbeiter treibt nur seine Sache, und alles weitere kümmert ihn wenig. Wäre die Wissenschaft reine Mechanik, wo ein Rad in das andre greift, so ließe sich nichts gegen dieselbe Art einwenden, aber sie ist es eben nicht, und deshalb entstehen schwere Unzuträglichkeiten, als deren augenfälligste die Einseitigkeit angesehen werden muß. Wir begegnen ihr vom Kleinsten bis zum Größten, von kurzen Quellen- untersuchungen bis zu ganzen Zweigen des betreffenden Faches. Der eine er¬ forscht die Urkunden eines Kaisers, aber nur eines, und wenn er es auf deren drei gebracht hat, so scheint Welterschütterndes von ihm geleistet zu sein. Über Tacitus' Akimauig. sind dicke Bücher geschrieben worden; meines Wissens wurden aber nie oder doch nur unzureichend die antiquarischen Funde herangezogen, welche vielfach geradezu das Kontrolmaterial bieten, und warum? weil sie für den Tacitusfachmann noch nicht vorhanden sind. Altertumskundige eröffneten Tausende und Abertausende von Gräbern und verwerteten die gemachten Funde mit ungenügender Kenntnis der erzählenden Quellen, Inschriften und Münzen. Ganze Kulturperioden hat man aus den erzählenden Quellen zusammengestellt, ohne den dafür wichtigsten Stoff, die Altertümer, zu berücksichtigen. Für mittelalterliches Kirchenrecht ruhen umfassende Mitteilungen in den Papst¬ urkunden; statt sie dort zu heben, streitet man sich herum, was unter römischem Rechte eines Klosters zu verstehen sei. Dieselben Schriftstücke bieten reiche Ausbeute für Papstpolitik, man muß sie nur herausschälen und sich nicht mit unmittelbar eingreifenden Briefen begnügen. Noch ganz neuerdings konnte der Vorwurf erhoben werden, daß Tausende von Urkunden mit ungeheurer Mühe bloß auf äußere Kennzeichen durchgesehen würden, und dabei die innere Or¬ ganisation der Kanzlei, welcher doch die Erlasse ihr Dasein verdanken, vernach¬ lässigt würde, daß so vieles seine Geschichte besitze, aber nicht das öffentliche Rats- und Regierungswesen. (Neudegger.)
Diese Einseitigkeit wurde dadurch gefördert, daß die technisch-kritische, be¬ ziehungsweise untersuchende Seite bevorzugt, die kombinirende Thätigkeit oft mißtrauisch angesehen oder gar verpönt wurde. Die Wissenschaft erhielt damit einen pedantisch-philiströsen Beigeschmack, denn ein gutes Kombiniren erfordert Geist, Phantasie, Genialität, eine Quellen- oder Ereignisuntersuchung bisweilen Scharfsinn, gewöhnlich Fleiß, vor allem Methode; diese kann man lernen, Geist nicht. Bevorzugung artete aus in Überschätzung, in Überschätzung der Thätig¬ keit sowohl als der Fähigkeiten, auf denen sie beruht. Die Beschränkung erst verlieh das Siegel der Meisterschaft, die Technik wurde das Höchste, das Zitat der Gott. Man vereinzelte und verzettelte sich in Veröffentlichungen, Unter¬ suchungen und Kritik, gar oft ohne jegliche Frucht. Ein Buch konnte als gut gelobt werden, das zwar sehr methodisch und sehr gelehrt war, aber keinen einzigen Gedanken enthielt und worin bei aller Arbeit eigentlich nichts heraus¬ gekommen war; dagegen genügten einige fehlende Zitate, um ein tüchtiges Werk
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Gefahren in der Geschichtswissenschaft.
Stücke vorliegen, setzt man sie zusammen zum Ganzen. Jeder Arbeiter treibt
nur seine Sache, und alles weitere kümmert ihn wenig. Wäre die Wissenschaft
reine Mechanik, wo ein Rad in das andre greift, so ließe sich nichts gegen
dieselbe Art einwenden, aber sie ist es eben nicht, und deshalb entstehen schwere
Unzuträglichkeiten, als deren augenfälligste die Einseitigkeit angesehen werden
muß. Wir begegnen ihr vom Kleinsten bis zum Größten, von kurzen Quellen-
untersuchungen bis zu ganzen Zweigen des betreffenden Faches. Der eine er¬
forscht die Urkunden eines Kaisers, aber nur eines, und wenn er es auf deren
drei gebracht hat, so scheint Welterschütterndes von ihm geleistet zu sein. Über
Tacitus' Akimauig. sind dicke Bücher geschrieben worden; meines Wissens wurden
aber nie oder doch nur unzureichend die antiquarischen Funde herangezogen,
welche vielfach geradezu das Kontrolmaterial bieten, und warum? weil sie für
den Tacitusfachmann noch nicht vorhanden sind. Altertumskundige eröffneten
Tausende und Abertausende von Gräbern und verwerteten die gemachten Funde
mit ungenügender Kenntnis der erzählenden Quellen, Inschriften und Münzen.
Ganze Kulturperioden hat man aus den erzählenden Quellen zusammengestellt,
ohne den dafür wichtigsten Stoff, die Altertümer, zu berücksichtigen. Für
mittelalterliches Kirchenrecht ruhen umfassende Mitteilungen in den Papst¬
urkunden; statt sie dort zu heben, streitet man sich herum, was unter römischem
Rechte eines Klosters zu verstehen sei. Dieselben Schriftstücke bieten reiche
Ausbeute für Papstpolitik, man muß sie nur herausschälen und sich nicht mit
unmittelbar eingreifenden Briefen begnügen. Noch ganz neuerdings konnte der
Vorwurf erhoben werden, daß Tausende von Urkunden mit ungeheurer Mühe
bloß auf äußere Kennzeichen durchgesehen würden, und dabei die innere Or¬
ganisation der Kanzlei, welcher doch die Erlasse ihr Dasein verdanken, vernach¬
lässigt würde, daß so vieles seine Geschichte besitze, aber nicht das öffentliche
Rats- und Regierungswesen. (Neudegger.)
Diese Einseitigkeit wurde dadurch gefördert, daß die technisch-kritische, be¬
ziehungsweise untersuchende Seite bevorzugt, die kombinirende Thätigkeit oft
mißtrauisch angesehen oder gar verpönt wurde. Die Wissenschaft erhielt damit
einen pedantisch-philiströsen Beigeschmack, denn ein gutes Kombiniren erfordert
Geist, Phantasie, Genialität, eine Quellen- oder Ereignisuntersuchung bisweilen
Scharfsinn, gewöhnlich Fleiß, vor allem Methode; diese kann man lernen, Geist
nicht. Bevorzugung artete aus in Überschätzung, in Überschätzung der Thätig¬
keit sowohl als der Fähigkeiten, auf denen sie beruht. Die Beschränkung erst
verlieh das Siegel der Meisterschaft, die Technik wurde das Höchste, das Zitat
der Gott. Man vereinzelte und verzettelte sich in Veröffentlichungen, Unter¬
suchungen und Kritik, gar oft ohne jegliche Frucht. Ein Buch konnte als gut
gelobt werden, das zwar sehr methodisch und sehr gelehrt war, aber keinen
einzigen Gedanken enthielt und worin bei aller Arbeit eigentlich nichts heraus¬
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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/358>, abgerufen am 28.01.2025.
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