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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

viel weniger sicher läßt sich mit ihnen rechnen! Es versagt eine Hauptstütze der
Naturwissenschaft: das Experiment. Man muß deshalb auch den abweichend
gearteten Gegenstand in der ihm entsprechenden Weise behandeln und kann nicht
schematisch die Art einer Wissenschaft für eine fremde verwenden. Von Herodot
bis heute hat die Geschichte den Einfluß der Natur auf die Menschen beachtet,
allerdings ohne den Mut, ihn der Zahl zu unterwerfen, denn sie wußte, daß
unter den Trieben, Bedingungen und Bedürfnissen des Tages noch Ideen vor¬
handen sind, die das Leben der Einzelnen und der Völker durchgeistigen, umso
stärker, je höher entwickelt diese sind. Betrachtet der naturforschende Historiker
nur die große Masse, fragt er nur nach dem Untergrunde, nicht auch nach
Türmen und Bauten, die sich emporheben, überträgt er seine Methode des
Durchschnittsverhältnisses auf die Geschichte, so trägt er eine einseitige und
damit falsche Methode in sie hinein, genau wie in andrer Richtung der Ideal-
Philosoph. Führte diese einseitig alle Erscheinung auf das Walten höherer
Ideen zurück, so der Naturphilosoph auf das Wirken materieller Gesetze; ihm
gilt bloß Kulturgeschichte als würdiger Gegenstand, jenem bloß politische.

Es darf nicht Wunder nehmen, daß beide die Geschichtswissenschaft be¬
reichert haben und in gewissem Umfange lebenskräftig und anregend geworden
sind, aber bei dem Abstände von Wirklichkeit und Bemühen ist kaum faßlich,
wie sie bedeutenden Einfluß erlangen, ja gär zur Mode werden konnten.
H. Ulrici kommt in seinem an sich trefflichen Werke "Charakteristik der antiken
Historiographie" zu dem Ergebnis: "Wir wünschen, daß unsre Untersuchung
etwas dazu beitrage" möge, die Meinung sicher zu stellen, daß der modernen
Historiographie einzig und allein die philosophische Behandlung der Geschichte
gezieme." Das Buch erschien 1833; fünfzig Jahre später ging mir I. Lippert,
Kulturgeschichte der Menschheit, zu, in dessen Prospekt es hieß: "Unter dein
Nachweise des Verfassers wird die gemeine Lebenssorge zur Schöpferin aller
weitern Fortschritte bis hinüber in das Gebiet der geistigen Kultur." Dort
haben wir den Ideal-, hier den Naturphilosophen.

Daß der gesunde Sinn namhafter Historiker sich nicht oder nicht mehr als
dienlich beeinflussen ließ, ist selbstverständlich, schon deshalb, weil er aus den
Quellen schöpfte, die den Weg von selber wiesen; es waren mehr die Geschichts-
popularisirer, welche sich Hingaben, aber gerade dadurch gelangten solche Lehren
vor einen größern Leserkreis, der sich durch scheinbar überlegene Gedankentiefe
und Beobachtung täuschen läßt.

Für die eigentlichen Forscher sind zwei andre Klippen gefährlich geworden:
es sind das Spezialismus und Standpunkt.

Die Spezialisirung beruht auf dem modernen Gedanken der Arbeitsteilung,
sie wurde notwendig durch Massenhaftigkeit und die verfeinerte Behandlung des
Materials, denen ein Einzelner nicht mehr gerecht zu werden vermochte. In
einer Fabrik schaffen Dutzende von Maschinen je einen Teil, und wenn sämtliche


Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

viel weniger sicher läßt sich mit ihnen rechnen! Es versagt eine Hauptstütze der
Naturwissenschaft: das Experiment. Man muß deshalb auch den abweichend
gearteten Gegenstand in der ihm entsprechenden Weise behandeln und kann nicht
schematisch die Art einer Wissenschaft für eine fremde verwenden. Von Herodot
bis heute hat die Geschichte den Einfluß der Natur auf die Menschen beachtet,
allerdings ohne den Mut, ihn der Zahl zu unterwerfen, denn sie wußte, daß
unter den Trieben, Bedingungen und Bedürfnissen des Tages noch Ideen vor¬
handen sind, die das Leben der Einzelnen und der Völker durchgeistigen, umso
stärker, je höher entwickelt diese sind. Betrachtet der naturforschende Historiker
nur die große Masse, fragt er nur nach dem Untergrunde, nicht auch nach
Türmen und Bauten, die sich emporheben, überträgt er seine Methode des
Durchschnittsverhältnisses auf die Geschichte, so trägt er eine einseitige und
damit falsche Methode in sie hinein, genau wie in andrer Richtung der Ideal-
Philosoph. Führte diese einseitig alle Erscheinung auf das Walten höherer
Ideen zurück, so der Naturphilosoph auf das Wirken materieller Gesetze; ihm
gilt bloß Kulturgeschichte als würdiger Gegenstand, jenem bloß politische.

Es darf nicht Wunder nehmen, daß beide die Geschichtswissenschaft be¬
reichert haben und in gewissem Umfange lebenskräftig und anregend geworden
sind, aber bei dem Abstände von Wirklichkeit und Bemühen ist kaum faßlich,
wie sie bedeutenden Einfluß erlangen, ja gär zur Mode werden konnten.
H. Ulrici kommt in seinem an sich trefflichen Werke „Charakteristik der antiken
Historiographie" zu dem Ergebnis: „Wir wünschen, daß unsre Untersuchung
etwas dazu beitrage» möge, die Meinung sicher zu stellen, daß der modernen
Historiographie einzig und allein die philosophische Behandlung der Geschichte
gezieme." Das Buch erschien 1833; fünfzig Jahre später ging mir I. Lippert,
Kulturgeschichte der Menschheit, zu, in dessen Prospekt es hieß: „Unter dein
Nachweise des Verfassers wird die gemeine Lebenssorge zur Schöpferin aller
weitern Fortschritte bis hinüber in das Gebiet der geistigen Kultur." Dort
haben wir den Ideal-, hier den Naturphilosophen.

Daß der gesunde Sinn namhafter Historiker sich nicht oder nicht mehr als
dienlich beeinflussen ließ, ist selbstverständlich, schon deshalb, weil er aus den
Quellen schöpfte, die den Weg von selber wiesen; es waren mehr die Geschichts-
popularisirer, welche sich Hingaben, aber gerade dadurch gelangten solche Lehren
vor einen größern Leserkreis, der sich durch scheinbar überlegene Gedankentiefe
und Beobachtung täuschen läßt.

Für die eigentlichen Forscher sind zwei andre Klippen gefährlich geworden:
es sind das Spezialismus und Standpunkt.

Die Spezialisirung beruht auf dem modernen Gedanken der Arbeitsteilung,
sie wurde notwendig durch Massenhaftigkeit und die verfeinerte Behandlung des
Materials, denen ein Einzelner nicht mehr gerecht zu werden vermochte. In
einer Fabrik schaffen Dutzende von Maschinen je einen Teil, und wenn sämtliche


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[0357] Gefahren in der Geschichtswissenschaft. viel weniger sicher läßt sich mit ihnen rechnen! Es versagt eine Hauptstütze der Naturwissenschaft: das Experiment. Man muß deshalb auch den abweichend gearteten Gegenstand in der ihm entsprechenden Weise behandeln und kann nicht schematisch die Art einer Wissenschaft für eine fremde verwenden. Von Herodot bis heute hat die Geschichte den Einfluß der Natur auf die Menschen beachtet, allerdings ohne den Mut, ihn der Zahl zu unterwerfen, denn sie wußte, daß unter den Trieben, Bedingungen und Bedürfnissen des Tages noch Ideen vor¬ handen sind, die das Leben der Einzelnen und der Völker durchgeistigen, umso stärker, je höher entwickelt diese sind. Betrachtet der naturforschende Historiker nur die große Masse, fragt er nur nach dem Untergrunde, nicht auch nach Türmen und Bauten, die sich emporheben, überträgt er seine Methode des Durchschnittsverhältnisses auf die Geschichte, so trägt er eine einseitige und damit falsche Methode in sie hinein, genau wie in andrer Richtung der Ideal- Philosoph. Führte diese einseitig alle Erscheinung auf das Walten höherer Ideen zurück, so der Naturphilosoph auf das Wirken materieller Gesetze; ihm gilt bloß Kulturgeschichte als würdiger Gegenstand, jenem bloß politische. Es darf nicht Wunder nehmen, daß beide die Geschichtswissenschaft be¬ reichert haben und in gewissem Umfange lebenskräftig und anregend geworden sind, aber bei dem Abstände von Wirklichkeit und Bemühen ist kaum faßlich, wie sie bedeutenden Einfluß erlangen, ja gär zur Mode werden konnten. H. Ulrici kommt in seinem an sich trefflichen Werke „Charakteristik der antiken Historiographie" zu dem Ergebnis: „Wir wünschen, daß unsre Untersuchung etwas dazu beitrage» möge, die Meinung sicher zu stellen, daß der modernen Historiographie einzig und allein die philosophische Behandlung der Geschichte gezieme." Das Buch erschien 1833; fünfzig Jahre später ging mir I. Lippert, Kulturgeschichte der Menschheit, zu, in dessen Prospekt es hieß: „Unter dein Nachweise des Verfassers wird die gemeine Lebenssorge zur Schöpferin aller weitern Fortschritte bis hinüber in das Gebiet der geistigen Kultur." Dort haben wir den Ideal-, hier den Naturphilosophen. Daß der gesunde Sinn namhafter Historiker sich nicht oder nicht mehr als dienlich beeinflussen ließ, ist selbstverständlich, schon deshalb, weil er aus den Quellen schöpfte, die den Weg von selber wiesen; es waren mehr die Geschichts- popularisirer, welche sich Hingaben, aber gerade dadurch gelangten solche Lehren vor einen größern Leserkreis, der sich durch scheinbar überlegene Gedankentiefe und Beobachtung täuschen läßt. Für die eigentlichen Forscher sind zwei andre Klippen gefährlich geworden: es sind das Spezialismus und Standpunkt. Die Spezialisirung beruht auf dem modernen Gedanken der Arbeitsteilung, sie wurde notwendig durch Massenhaftigkeit und die verfeinerte Behandlung des Materials, denen ein Einzelner nicht mehr gerecht zu werden vermochte. In einer Fabrik schaffen Dutzende von Maschinen je einen Teil, und wenn sämtliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/357>, abgerufen am 22.07.2024.