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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

der geistigen und sittlichen Fähigkeiten des Menschen, als für die andern Be¬
thätigungen der Natur? Nicht auf den Einzelnen blickte er, nur auf Zustände
und Bewegung der Menge, die ihm als Geschichte erschienen.

Die hier betonte Beobachtung der Massenentwicklung führte Comte zur
Aufstellung einer dreistufigen Doppelreihe, nämlich: 1. die Stufe theologischer
Denkart oder die der Phantasie, hier herrscht Militarismus und Absolutismus;
2. die der metaphysischen oder absoluten Denkart, ihr sind Übergangszustände
eigen; 3. die der wissenschaftlichen oder positiven Denkart mit Herrschaft der
Arbeit, der wissenschaftlichen und politischen Einsicht. Die Anlagen des Menschen
scheinen Comte nicht sonderlich von denen höherer Tiere verschieden, nur sind
seine Triebe weniger, seine geistigen Fähigkeiten mehr ausgebildet. Während
nun der Mensch obige Stufenfolge durchlebt, treten Leidenschaften und Triebe
vor Verstand und Vernunft allmählich zurück, und das ist der Fortschritt
der Kultur. Die Entwicklung der Menschheit hing ihm ab von den unver¬
änderlichen Gesetzen der Natur; Wille und That des Einzelnen vermögen darin
nicht wesentlich einzugreifen. Die Fragen nach Willensfreiheit und geschicht¬
lichem Wertergebnis sind ihm gleichgiltig.

Noch weiter ging Buckle. Er suchte die Naturwissenschaft und ihre Methode
in der Geschichte zur allgemeinen Geltung zu bringen, sie, wie er meinte, zum
Range einer Wissenschaft zu erheben, indem er ihre Gesetze erforschte. Diese er¬
gaben sich ihm aus der Statistik, welche die Gesetzmäßigkeit aller menschlichen
Handlungen beweise. Es gelte deshalb nur, die Beobachtung weit genug aus¬
zudehnen, um die Regeln, die im einzelnen Falle nicht hervortreten, an der
Masse von Fällen zu erkennen. Da zeige sich, daß jegliches abhänge von
der Einwirkung äußerer Erscheinungen auf deu Geist und der des Geistes auf
die Erscheinungen. Der Sieg des Geistes über die Außenwelt biete das Maß
der Zivilisation, jeder Fortschritt hier sei der Aufklärung des Wissens zu danken,
woraus sich in weiterer Folge ergebe, daß der Fortschritt der Kultur durch
die Herrschaft der geistigen über die sittlichen Gesetze bezeichnet werde. Buckle
gilt Sittlichkeit als Privatsache, Psychologie und Eigenart als unwissenschaft¬
licher Ballast, die Thaten des Genies als sich ausgleichende Unregelmäßigkeiten;
Religion, Kunst, Litteratur und Staat, alles erscheint ihm wertlos vor der
exakt-wissenschaftlichen Aufklärung.

Und doch war es noch nicht genug damit. Du Bois-Reymond faßte die
Naturwissenschaft als absolutes Organ der Kultur, somit Geschichte der Natur¬
wissenschaft, beziehentlich Kulturgeschichte, als die Geschichte der Menschheit; sie
ist ihm die wahre Geschichte im Gegensatze zur sogenannten bürgerlichen; die
steigende und fallende Kenntnis der Natur das einzig sichere Barometer für
den Stand der Gesittung. Die Vergangenheit faßt er praktisch auf, sie lebt
ihm nur, soweit sie nutzbares Material bietet. Die Welt betrachtet er aus der
"archimedischen Perspektive," indem er geistig einen Standpunkt außerhalb


Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

der geistigen und sittlichen Fähigkeiten des Menschen, als für die andern Be¬
thätigungen der Natur? Nicht auf den Einzelnen blickte er, nur auf Zustände
und Bewegung der Menge, die ihm als Geschichte erschienen.

Die hier betonte Beobachtung der Massenentwicklung führte Comte zur
Aufstellung einer dreistufigen Doppelreihe, nämlich: 1. die Stufe theologischer
Denkart oder die der Phantasie, hier herrscht Militarismus und Absolutismus;
2. die der metaphysischen oder absoluten Denkart, ihr sind Übergangszustände
eigen; 3. die der wissenschaftlichen oder positiven Denkart mit Herrschaft der
Arbeit, der wissenschaftlichen und politischen Einsicht. Die Anlagen des Menschen
scheinen Comte nicht sonderlich von denen höherer Tiere verschieden, nur sind
seine Triebe weniger, seine geistigen Fähigkeiten mehr ausgebildet. Während
nun der Mensch obige Stufenfolge durchlebt, treten Leidenschaften und Triebe
vor Verstand und Vernunft allmählich zurück, und das ist der Fortschritt
der Kultur. Die Entwicklung der Menschheit hing ihm ab von den unver¬
änderlichen Gesetzen der Natur; Wille und That des Einzelnen vermögen darin
nicht wesentlich einzugreifen. Die Fragen nach Willensfreiheit und geschicht¬
lichem Wertergebnis sind ihm gleichgiltig.

Noch weiter ging Buckle. Er suchte die Naturwissenschaft und ihre Methode
in der Geschichte zur allgemeinen Geltung zu bringen, sie, wie er meinte, zum
Range einer Wissenschaft zu erheben, indem er ihre Gesetze erforschte. Diese er¬
gaben sich ihm aus der Statistik, welche die Gesetzmäßigkeit aller menschlichen
Handlungen beweise. Es gelte deshalb nur, die Beobachtung weit genug aus¬
zudehnen, um die Regeln, die im einzelnen Falle nicht hervortreten, an der
Masse von Fällen zu erkennen. Da zeige sich, daß jegliches abhänge von
der Einwirkung äußerer Erscheinungen auf deu Geist und der des Geistes auf
die Erscheinungen. Der Sieg des Geistes über die Außenwelt biete das Maß
der Zivilisation, jeder Fortschritt hier sei der Aufklärung des Wissens zu danken,
woraus sich in weiterer Folge ergebe, daß der Fortschritt der Kultur durch
die Herrschaft der geistigen über die sittlichen Gesetze bezeichnet werde. Buckle
gilt Sittlichkeit als Privatsache, Psychologie und Eigenart als unwissenschaft¬
licher Ballast, die Thaten des Genies als sich ausgleichende Unregelmäßigkeiten;
Religion, Kunst, Litteratur und Staat, alles erscheint ihm wertlos vor der
exakt-wissenschaftlichen Aufklärung.

Und doch war es noch nicht genug damit. Du Bois-Reymond faßte die
Naturwissenschaft als absolutes Organ der Kultur, somit Geschichte der Natur¬
wissenschaft, beziehentlich Kulturgeschichte, als die Geschichte der Menschheit; sie
ist ihm die wahre Geschichte im Gegensatze zur sogenannten bürgerlichen; die
steigende und fallende Kenntnis der Natur das einzig sichere Barometer für
den Stand der Gesittung. Die Vergangenheit faßt er praktisch auf, sie lebt
ihm nur, soweit sie nutzbares Material bietet. Die Welt betrachtet er aus der
„archimedischen Perspektive," indem er geistig einen Standpunkt außerhalb


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[0355] Gefahren in der Geschichtswissenschaft. der geistigen und sittlichen Fähigkeiten des Menschen, als für die andern Be¬ thätigungen der Natur? Nicht auf den Einzelnen blickte er, nur auf Zustände und Bewegung der Menge, die ihm als Geschichte erschienen. Die hier betonte Beobachtung der Massenentwicklung führte Comte zur Aufstellung einer dreistufigen Doppelreihe, nämlich: 1. die Stufe theologischer Denkart oder die der Phantasie, hier herrscht Militarismus und Absolutismus; 2. die der metaphysischen oder absoluten Denkart, ihr sind Übergangszustände eigen; 3. die der wissenschaftlichen oder positiven Denkart mit Herrschaft der Arbeit, der wissenschaftlichen und politischen Einsicht. Die Anlagen des Menschen scheinen Comte nicht sonderlich von denen höherer Tiere verschieden, nur sind seine Triebe weniger, seine geistigen Fähigkeiten mehr ausgebildet. Während nun der Mensch obige Stufenfolge durchlebt, treten Leidenschaften und Triebe vor Verstand und Vernunft allmählich zurück, und das ist der Fortschritt der Kultur. Die Entwicklung der Menschheit hing ihm ab von den unver¬ änderlichen Gesetzen der Natur; Wille und That des Einzelnen vermögen darin nicht wesentlich einzugreifen. Die Fragen nach Willensfreiheit und geschicht¬ lichem Wertergebnis sind ihm gleichgiltig. Noch weiter ging Buckle. Er suchte die Naturwissenschaft und ihre Methode in der Geschichte zur allgemeinen Geltung zu bringen, sie, wie er meinte, zum Range einer Wissenschaft zu erheben, indem er ihre Gesetze erforschte. Diese er¬ gaben sich ihm aus der Statistik, welche die Gesetzmäßigkeit aller menschlichen Handlungen beweise. Es gelte deshalb nur, die Beobachtung weit genug aus¬ zudehnen, um die Regeln, die im einzelnen Falle nicht hervortreten, an der Masse von Fällen zu erkennen. Da zeige sich, daß jegliches abhänge von der Einwirkung äußerer Erscheinungen auf deu Geist und der des Geistes auf die Erscheinungen. Der Sieg des Geistes über die Außenwelt biete das Maß der Zivilisation, jeder Fortschritt hier sei der Aufklärung des Wissens zu danken, woraus sich in weiterer Folge ergebe, daß der Fortschritt der Kultur durch die Herrschaft der geistigen über die sittlichen Gesetze bezeichnet werde. Buckle gilt Sittlichkeit als Privatsache, Psychologie und Eigenart als unwissenschaft¬ licher Ballast, die Thaten des Genies als sich ausgleichende Unregelmäßigkeiten; Religion, Kunst, Litteratur und Staat, alles erscheint ihm wertlos vor der exakt-wissenschaftlichen Aufklärung. Und doch war es noch nicht genug damit. Du Bois-Reymond faßte die Naturwissenschaft als absolutes Organ der Kultur, somit Geschichte der Natur¬ wissenschaft, beziehentlich Kulturgeschichte, als die Geschichte der Menschheit; sie ist ihm die wahre Geschichte im Gegensatze zur sogenannten bürgerlichen; die steigende und fallende Kenntnis der Natur das einzig sichere Barometer für den Stand der Gesittung. Die Vergangenheit faßt er praktisch auf, sie lebt ihm nur, soweit sie nutzbares Material bietet. Die Welt betrachtet er aus der „archimedischen Perspektive," indem er geistig einen Standpunkt außerhalb

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/355>, abgerufen am 22.07.2024.