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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

Wie immer, so entwickelten sich aber auch hier mit dem Guten und Wert¬
vollen zugleich Übelstände und Gefahren. Diese erweisen sich von verschiedner
Art, als subjektive, aus dem Material erwachsende, und als objektive, in der
Disziplin beruhende oder sich eindrängende, zwei treten von außen heran und
zwei wirken innerlich; es sind das: Philosophie und Naturwissenschaft, Spezia¬
lismus und Standpunkt.

Zunächst die erstem. Höhere Geschichte kann weder der Ergebnisse der Phi¬
losophie noch der der Naturwissenschaft entraten, doch gedeihen sie zur Gefahr,
wenn sie übermächtig werden, mit abweichenden System und andern Zielen die
Thatsachen beeinträchtigen, statt daß die Thatsachen sie lenken und beeinflussen.

Das Wesen der Geschichte ist das Werden. Aus ihm ergiebt sich eine
Doppelfrage: Wie geschieht die Entwicklung und wohin führt sie? Oder: Was
sind die Faktoren und welches ist ihr Ergebnis? Oder: Was sind die Ursachen
und was ist die Wirkung? Beides hat Herder in seinen "Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit" zusammengefaßt. Der Mensch gilt ihm als
dazu bestimmt, alles zu erreichen, wozu ihm die äußere Möglichkeit und die innere
Kraft und Anlage gegeben wurde. Während er darnach strebt, strebt er nach
Vervollkommnung, nach reinerer Ausprägung der Humanität, und in dieser
Entwicklung beruht sein Glück. Erscheint nun hier schon der Vordersatz be¬
denklich, so ist die Folgerung geradezu falsch, denn nur wenige streben nach
Vervollkommnung, das Ziel der Masse ist von vornherein das Glück oder rich¬
tiger das, was sie für Glück hält; der Trieb der Selbsterhaltung, der Kampf
ums Dasein beherrscht den Einzelnen, die Völker, die Menschheit. Legte man
der Geschichte also den Herderschen Satz zu Grunde, so trübte man sie in ihrem
Wesen.

Später wurden Ursache und Wirkung besser gesondert, diese vorzugsweise
in idealphilosophischer, jene in sozialistisch-naturwissenschaftlicher Richtung weiter
geführt, und zwar mit steigender Entfremdung vom mütterlichen Boden.

Als Hauptvertreter der idealphilosophischen Richtung gelten Kant, Fichte,
Schelling und Hegel. Der Nerv ihrer Betrachtung ist der, ob die Entwick¬
lung fortschreite, ob die Geschichte ein Wertergebnis biete, und welches. Sie
alle bejahen dies und erkennen als Wirkung den Staat. Nach Kant darf man
die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines ver¬
borgenen Planes der Natur ansehen, um eine innerlich und zu diesem Zwecke
auch äußerlich vollkommene Staatsverfassung zu stände zu bringen als einzigen
Zustand, in welchem sie alle Anlagen der Menschheit völlig entwickeln kann.
Bei Fichte vollzieht sich die Geschichte im Staat und durch den Staat, der,
ursprünglich ein egoistisches Werk der Not, doch zugleich durch eine Kunst der
Natur deren höhere Zwecke erfüllt. Schelling meint, in der Rechtsordnung des
Staates vollziehe sich die Vereinigung der subjektiven Freiheit mit der objektiven
Notwendigkeit des Gesetzes. Hegel sieht das Höchste in der sittlichen Freiheit der


Grenzboten III. 1838. 44
Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

Wie immer, so entwickelten sich aber auch hier mit dem Guten und Wert¬
vollen zugleich Übelstände und Gefahren. Diese erweisen sich von verschiedner
Art, als subjektive, aus dem Material erwachsende, und als objektive, in der
Disziplin beruhende oder sich eindrängende, zwei treten von außen heran und
zwei wirken innerlich; es sind das: Philosophie und Naturwissenschaft, Spezia¬
lismus und Standpunkt.

Zunächst die erstem. Höhere Geschichte kann weder der Ergebnisse der Phi¬
losophie noch der der Naturwissenschaft entraten, doch gedeihen sie zur Gefahr,
wenn sie übermächtig werden, mit abweichenden System und andern Zielen die
Thatsachen beeinträchtigen, statt daß die Thatsachen sie lenken und beeinflussen.

Das Wesen der Geschichte ist das Werden. Aus ihm ergiebt sich eine
Doppelfrage: Wie geschieht die Entwicklung und wohin führt sie? Oder: Was
sind die Faktoren und welches ist ihr Ergebnis? Oder: Was sind die Ursachen
und was ist die Wirkung? Beides hat Herder in seinen „Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit" zusammengefaßt. Der Mensch gilt ihm als
dazu bestimmt, alles zu erreichen, wozu ihm die äußere Möglichkeit und die innere
Kraft und Anlage gegeben wurde. Während er darnach strebt, strebt er nach
Vervollkommnung, nach reinerer Ausprägung der Humanität, und in dieser
Entwicklung beruht sein Glück. Erscheint nun hier schon der Vordersatz be¬
denklich, so ist die Folgerung geradezu falsch, denn nur wenige streben nach
Vervollkommnung, das Ziel der Masse ist von vornherein das Glück oder rich¬
tiger das, was sie für Glück hält; der Trieb der Selbsterhaltung, der Kampf
ums Dasein beherrscht den Einzelnen, die Völker, die Menschheit. Legte man
der Geschichte also den Herderschen Satz zu Grunde, so trübte man sie in ihrem
Wesen.

Später wurden Ursache und Wirkung besser gesondert, diese vorzugsweise
in idealphilosophischer, jene in sozialistisch-naturwissenschaftlicher Richtung weiter
geführt, und zwar mit steigender Entfremdung vom mütterlichen Boden.

Als Hauptvertreter der idealphilosophischen Richtung gelten Kant, Fichte,
Schelling und Hegel. Der Nerv ihrer Betrachtung ist der, ob die Entwick¬
lung fortschreite, ob die Geschichte ein Wertergebnis biete, und welches. Sie
alle bejahen dies und erkennen als Wirkung den Staat. Nach Kant darf man
die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines ver¬
borgenen Planes der Natur ansehen, um eine innerlich und zu diesem Zwecke
auch äußerlich vollkommene Staatsverfassung zu stände zu bringen als einzigen
Zustand, in welchem sie alle Anlagen der Menschheit völlig entwickeln kann.
Bei Fichte vollzieht sich die Geschichte im Staat und durch den Staat, der,
ursprünglich ein egoistisches Werk der Not, doch zugleich durch eine Kunst der
Natur deren höhere Zwecke erfüllt. Schelling meint, in der Rechtsordnung des
Staates vollziehe sich die Vereinigung der subjektiven Freiheit mit der objektiven
Notwendigkeit des Gesetzes. Hegel sieht das Höchste in der sittlichen Freiheit der


Grenzboten III. 1838. 44
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[0353] Gefahren in der Geschichtswissenschaft. Wie immer, so entwickelten sich aber auch hier mit dem Guten und Wert¬ vollen zugleich Übelstände und Gefahren. Diese erweisen sich von verschiedner Art, als subjektive, aus dem Material erwachsende, und als objektive, in der Disziplin beruhende oder sich eindrängende, zwei treten von außen heran und zwei wirken innerlich; es sind das: Philosophie und Naturwissenschaft, Spezia¬ lismus und Standpunkt. Zunächst die erstem. Höhere Geschichte kann weder der Ergebnisse der Phi¬ losophie noch der der Naturwissenschaft entraten, doch gedeihen sie zur Gefahr, wenn sie übermächtig werden, mit abweichenden System und andern Zielen die Thatsachen beeinträchtigen, statt daß die Thatsachen sie lenken und beeinflussen. Das Wesen der Geschichte ist das Werden. Aus ihm ergiebt sich eine Doppelfrage: Wie geschieht die Entwicklung und wohin führt sie? Oder: Was sind die Faktoren und welches ist ihr Ergebnis? Oder: Was sind die Ursachen und was ist die Wirkung? Beides hat Herder in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" zusammengefaßt. Der Mensch gilt ihm als dazu bestimmt, alles zu erreichen, wozu ihm die äußere Möglichkeit und die innere Kraft und Anlage gegeben wurde. Während er darnach strebt, strebt er nach Vervollkommnung, nach reinerer Ausprägung der Humanität, und in dieser Entwicklung beruht sein Glück. Erscheint nun hier schon der Vordersatz be¬ denklich, so ist die Folgerung geradezu falsch, denn nur wenige streben nach Vervollkommnung, das Ziel der Masse ist von vornherein das Glück oder rich¬ tiger das, was sie für Glück hält; der Trieb der Selbsterhaltung, der Kampf ums Dasein beherrscht den Einzelnen, die Völker, die Menschheit. Legte man der Geschichte also den Herderschen Satz zu Grunde, so trübte man sie in ihrem Wesen. Später wurden Ursache und Wirkung besser gesondert, diese vorzugsweise in idealphilosophischer, jene in sozialistisch-naturwissenschaftlicher Richtung weiter geführt, und zwar mit steigender Entfremdung vom mütterlichen Boden. Als Hauptvertreter der idealphilosophischen Richtung gelten Kant, Fichte, Schelling und Hegel. Der Nerv ihrer Betrachtung ist der, ob die Entwick¬ lung fortschreite, ob die Geschichte ein Wertergebnis biete, und welches. Sie alle bejahen dies und erkennen als Wirkung den Staat. Nach Kant darf man die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines ver¬ borgenen Planes der Natur ansehen, um eine innerlich und zu diesem Zwecke auch äußerlich vollkommene Staatsverfassung zu stände zu bringen als einzigen Zustand, in welchem sie alle Anlagen der Menschheit völlig entwickeln kann. Bei Fichte vollzieht sich die Geschichte im Staat und durch den Staat, der, ursprünglich ein egoistisches Werk der Not, doch zugleich durch eine Kunst der Natur deren höhere Zwecke erfüllt. Schelling meint, in der Rechtsordnung des Staates vollziehe sich die Vereinigung der subjektiven Freiheit mit der objektiven Notwendigkeit des Gesetzes. Hegel sieht das Höchste in der sittlichen Freiheit der Grenzboten III. 1838. 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/353>, abgerufen am 22.07.2024.