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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Der Reichskanzler und die Parteien.

ihrer doktrinären Vergangenheit zu erinnern, alle meinten Rücksicht auf ihre
Wähler nehmen zu müssen, von denen sie irrtümlich voraussetzten, daß sie der
Mehrzahl nach die alten Glaubensartikel des Liberalismus für unumstößliche
Regeln, für unantastbare Heiligtümer hielten. So wurde die Unterstützung des
leitenden Staatsmannes durch die Partei schon zu Beginn des zweiten Jahr¬
fünfts des deutschen Reiches fraglich und immer fraglicher. Allerdings führte
man sie noch im Programm, aber die Fälle, wo man sie gewährte, wurden
seltener. Man verfuhr zuerst zögernd, dann kühler, darauf abwehrend und
zuletzt angreifend. Man lieh dem Kanzler in den besten Fällen nur wider¬
willig und notgedrungen seine Mitwirkung bei der Verschärfung des von der
modischen Humanität stark beeinflußten Strafgesetzbuches, und die betreffende
Novelle ging aus den Verhandlungen des Reichstages verwässert und ver¬
stümmelt hervor. Bei den Justizgesetzen machte man zwar in dritter Lesung
erhebliche Zugeständnisse, aber vorher hatte man auch in dieser Angelegenheit
mit Eifer seinen doktrinären Liberalismus kund gegeben und in verdrießlichster
Weise gefeilscht, gemäkelt und abzuzwacken versucht. Die Partei, die vorher
bereitwillig bei den Reformen mitgezogen und -geschoben hatte, schickte sich
mehr und mehr an, ein Hemmschuh zu werden. Die Reichstagswahlen von
1877 zeigten ziemlich deutlich, daß die Führer derselben sich bei diesem Verhalten
mit der erwähnten Rücksicht auf die Wählerschaften getäuscht hatten. Ein be¬
trächtlicher Teil der letztern war einverstanden mit der Politik des Kanzlers,
und so kam es, daß eine nicht geringe Anzahl der bisherigen nationalliberalen
Abgeordneten den Kummer erleben mußte, ihr Mandat nicht erneuert zu sehen,
während die Fraktionen der Konservativen durch die Wahlen verstärkt wurden.

Ostern 1877 bat der Kanzler den Kaiser um seine Entlassung, worauf
im Sinne der ungeheuern Mehrheit des deutschen Volkes, soweit es an poli¬
tischen Dingen Interesse nimmt, mit dem bekannten "Niemals" geantwortet
wurde. Die Beweggründe zu dem Abschiedsgesuche waren hauptsächlich in Hof¬
kreisen zu suchen. Aber auch Verstimmung und Verdruß über die zunehmende
Opposition der stärksten Gruppe der Liberalen, die sich namentlich im Hinblick
auf die Feindschaft der Klerikalen und ihrer partikularistischen Bundesgenossen
gegen das Reich als Reichstreue ganz entschieden und unzweideutig auf die
Seite von dessen Schöpfer hätte stellen sollen, aber statt dessen, um den
Glanz liberaler Gesinnungstüchtigkeit hell zu bewahren, dem Kanzler jetzt fast
niemals ihren Beistand unverkürzt zu teil werden ließen, spielten dabei eine
Rolle. Die Herren vom linken Flügel der Nationalliberalen fühlten sich mehr
zu Kritikern als zu Mitarbeitern des Kanzlers berufen, und sie hatten sich all¬
mählich ganz zu ihrer vermeintlichen Hauptaufgabe, Wächter der angeblich von
ihm bedrohten Rechte und Freiheiten des Volkes zu sein, zurückgewöhne, sodaß
sie häufig von der fortschrittlichen Demokratie kaum noch zu unterscheiden
waren. Sie führten aber bei ihrer Rührigkeit und den nicht zu leugnenden


Der Reichskanzler und die Parteien.

ihrer doktrinären Vergangenheit zu erinnern, alle meinten Rücksicht auf ihre
Wähler nehmen zu müssen, von denen sie irrtümlich voraussetzten, daß sie der
Mehrzahl nach die alten Glaubensartikel des Liberalismus für unumstößliche
Regeln, für unantastbare Heiligtümer hielten. So wurde die Unterstützung des
leitenden Staatsmannes durch die Partei schon zu Beginn des zweiten Jahr¬
fünfts des deutschen Reiches fraglich und immer fraglicher. Allerdings führte
man sie noch im Programm, aber die Fälle, wo man sie gewährte, wurden
seltener. Man verfuhr zuerst zögernd, dann kühler, darauf abwehrend und
zuletzt angreifend. Man lieh dem Kanzler in den besten Fällen nur wider¬
willig und notgedrungen seine Mitwirkung bei der Verschärfung des von der
modischen Humanität stark beeinflußten Strafgesetzbuches, und die betreffende
Novelle ging aus den Verhandlungen des Reichstages verwässert und ver¬
stümmelt hervor. Bei den Justizgesetzen machte man zwar in dritter Lesung
erhebliche Zugeständnisse, aber vorher hatte man auch in dieser Angelegenheit
mit Eifer seinen doktrinären Liberalismus kund gegeben und in verdrießlichster
Weise gefeilscht, gemäkelt und abzuzwacken versucht. Die Partei, die vorher
bereitwillig bei den Reformen mitgezogen und -geschoben hatte, schickte sich
mehr und mehr an, ein Hemmschuh zu werden. Die Reichstagswahlen von
1877 zeigten ziemlich deutlich, daß die Führer derselben sich bei diesem Verhalten
mit der erwähnten Rücksicht auf die Wählerschaften getäuscht hatten. Ein be¬
trächtlicher Teil der letztern war einverstanden mit der Politik des Kanzlers,
und so kam es, daß eine nicht geringe Anzahl der bisherigen nationalliberalen
Abgeordneten den Kummer erleben mußte, ihr Mandat nicht erneuert zu sehen,
während die Fraktionen der Konservativen durch die Wahlen verstärkt wurden.

Ostern 1877 bat der Kanzler den Kaiser um seine Entlassung, worauf
im Sinne der ungeheuern Mehrheit des deutschen Volkes, soweit es an poli¬
tischen Dingen Interesse nimmt, mit dem bekannten „Niemals" geantwortet
wurde. Die Beweggründe zu dem Abschiedsgesuche waren hauptsächlich in Hof¬
kreisen zu suchen. Aber auch Verstimmung und Verdruß über die zunehmende
Opposition der stärksten Gruppe der Liberalen, die sich namentlich im Hinblick
auf die Feindschaft der Klerikalen und ihrer partikularistischen Bundesgenossen
gegen das Reich als Reichstreue ganz entschieden und unzweideutig auf die
Seite von dessen Schöpfer hätte stellen sollen, aber statt dessen, um den
Glanz liberaler Gesinnungstüchtigkeit hell zu bewahren, dem Kanzler jetzt fast
niemals ihren Beistand unverkürzt zu teil werden ließen, spielten dabei eine
Rolle. Die Herren vom linken Flügel der Nationalliberalen fühlten sich mehr
zu Kritikern als zu Mitarbeitern des Kanzlers berufen, und sie hatten sich all¬
mählich ganz zu ihrer vermeintlichen Hauptaufgabe, Wächter der angeblich von
ihm bedrohten Rechte und Freiheiten des Volkes zu sein, zurückgewöhne, sodaß
sie häufig von der fortschrittlichen Demokratie kaum noch zu unterscheiden
waren. Sie führten aber bei ihrer Rührigkeit und den nicht zu leugnenden


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[0349] Der Reichskanzler und die Parteien. ihrer doktrinären Vergangenheit zu erinnern, alle meinten Rücksicht auf ihre Wähler nehmen zu müssen, von denen sie irrtümlich voraussetzten, daß sie der Mehrzahl nach die alten Glaubensartikel des Liberalismus für unumstößliche Regeln, für unantastbare Heiligtümer hielten. So wurde die Unterstützung des leitenden Staatsmannes durch die Partei schon zu Beginn des zweiten Jahr¬ fünfts des deutschen Reiches fraglich und immer fraglicher. Allerdings führte man sie noch im Programm, aber die Fälle, wo man sie gewährte, wurden seltener. Man verfuhr zuerst zögernd, dann kühler, darauf abwehrend und zuletzt angreifend. Man lieh dem Kanzler in den besten Fällen nur wider¬ willig und notgedrungen seine Mitwirkung bei der Verschärfung des von der modischen Humanität stark beeinflußten Strafgesetzbuches, und die betreffende Novelle ging aus den Verhandlungen des Reichstages verwässert und ver¬ stümmelt hervor. Bei den Justizgesetzen machte man zwar in dritter Lesung erhebliche Zugeständnisse, aber vorher hatte man auch in dieser Angelegenheit mit Eifer seinen doktrinären Liberalismus kund gegeben und in verdrießlichster Weise gefeilscht, gemäkelt und abzuzwacken versucht. Die Partei, die vorher bereitwillig bei den Reformen mitgezogen und -geschoben hatte, schickte sich mehr und mehr an, ein Hemmschuh zu werden. Die Reichstagswahlen von 1877 zeigten ziemlich deutlich, daß die Führer derselben sich bei diesem Verhalten mit der erwähnten Rücksicht auf die Wählerschaften getäuscht hatten. Ein be¬ trächtlicher Teil der letztern war einverstanden mit der Politik des Kanzlers, und so kam es, daß eine nicht geringe Anzahl der bisherigen nationalliberalen Abgeordneten den Kummer erleben mußte, ihr Mandat nicht erneuert zu sehen, während die Fraktionen der Konservativen durch die Wahlen verstärkt wurden. Ostern 1877 bat der Kanzler den Kaiser um seine Entlassung, worauf im Sinne der ungeheuern Mehrheit des deutschen Volkes, soweit es an poli¬ tischen Dingen Interesse nimmt, mit dem bekannten „Niemals" geantwortet wurde. Die Beweggründe zu dem Abschiedsgesuche waren hauptsächlich in Hof¬ kreisen zu suchen. Aber auch Verstimmung und Verdruß über die zunehmende Opposition der stärksten Gruppe der Liberalen, die sich namentlich im Hinblick auf die Feindschaft der Klerikalen und ihrer partikularistischen Bundesgenossen gegen das Reich als Reichstreue ganz entschieden und unzweideutig auf die Seite von dessen Schöpfer hätte stellen sollen, aber statt dessen, um den Glanz liberaler Gesinnungstüchtigkeit hell zu bewahren, dem Kanzler jetzt fast niemals ihren Beistand unverkürzt zu teil werden ließen, spielten dabei eine Rolle. Die Herren vom linken Flügel der Nationalliberalen fühlten sich mehr zu Kritikern als zu Mitarbeitern des Kanzlers berufen, und sie hatten sich all¬ mählich ganz zu ihrer vermeintlichen Hauptaufgabe, Wächter der angeblich von ihm bedrohten Rechte und Freiheiten des Volkes zu sein, zurückgewöhne, sodaß sie häufig von der fortschrittlichen Demokratie kaum noch zu unterscheiden waren. Sie führten aber bei ihrer Rührigkeit und den nicht zu leugnenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/349>, abgerufen am 02.10.2024.