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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Der Reichskanzler und die Parteien.

Zweckes eingedenk, gefällig erwies, an einem Punkte hörte dies auf: das An¬
sehen und die Befugnis, welche die Verfassung der Krone lieferte, ließ er nicht
schmälern.

Der Liberalismus strebte nach einem Zustande, wie er in England, Frank¬
reich und Belgien Herkommen war, und bei dem die Minister nur mit der
Mehrheit der Volksvertretung regieren konnten und, wo ihnen diese fehlte,
sofort zurückzutreten und einem Kabinet Platz zu machen hatten, das der
Monarch oder Präsident aus der Mehrheit zu wählen verpflichtet war. Bis
1866 hatte Bismarck dieses Streben und die ihm zu gründe liegende Doktrin
für unzulässig in Preußen, weil nicht in dessen Verfassung begründet, erklärt
und 1863 zur Vermeidung von Konflikten auf die Politik der Kompromisse
hingewiesen. Diese wurde damals abgelehnt. Jetzt, nach Gründung des Nord¬
deutschen Bundes, vom Kanzler wieder aufgenommen und im deutschen Reiche
fortgesetzt, hatte sie bessern Erfolg. Die Nationalliberalen gingen gleich andern
Gemäßigten in den meisten Fällen auf sie ein. Ferner suchte der Kanzler den
Aberglauben der Liberalen zu widerlegen und zu beseitigen, der einen Gegensatz
zwischen Regierung und Volksvertretung als selbstverständlich und unter allen
Umständen wirksam ansah und als oberste Pflicht der Volksvertretung wach¬
sames Mißtrauen in Betreff der Pläne und Vorschläge der Regierung betrachtete,
die nächstwichtige aber in dem Bestreben der Parlamente sah, die angeblich er¬
folgte Übervorteilung der Regierten durch die Regierenden jetzt, nachdem die
nationalen Ziele in der Hauptsache erreicht worden, wettzumachen, die vermeint¬
lichen Rechte des Volkes, Menschenrechte, Grundrechte u. dergl. allmählich
zurückzuerobern und die Staatsbürger, die nunmehr politische Bildung genug
besäßen, um sich selbst zu regieren, von der "Bevormundung" durch die Staats¬
behörde zu befreien. Die Bemühungen Bismarcks, die Nationalliberalen von
der Verkehrtheit dieser von 1848 her überlieferten Ansichten zu überzeugen,
waren eine Zeit lang, wie es schien, nicht erfolglos, sodaß sich im großen und
ganzen zwischen ihm und der bedeutendsten Fraktion der Liberalen ein recht be¬
friedigendes Verhältnis ausbildete, bei dem diese mancherlei Zugeständnisse
von der Negierung erlangten. So auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Inter¬
essen, in der Frage der Verwaltungsreform und bei dem Kampfe mit den
Ultramontanen, so ferner bei der Justizreform und dem Militärorganisations¬
gesetze. Immer erreichte der Kanzler hier im wesentlichen seinen Zweck, indem
er auf liberale Forderungen, die sich gewähren ließen, einging, also auf dem
Wege von Vereinbarungen nach dem Grundsatze av ut ass.

Bei der Raschheit, womit der innere Ausbau des deutschen Staates in¬
folge dieses praktischen Verfahrens fortschritt, konnte es nicht fehlen, daß sich,
als man Zeit zu genauerer Betrachtung fand, Mängel am Werke herausstellten,
deren Beseitigung sich nicht aufschieben ließ. Ein Teil der Nationalliberalen
erkannte dies an, ein andrer nicht. Alle fingen mehr oder minder an, sich


Der Reichskanzler und die Parteien.

Zweckes eingedenk, gefällig erwies, an einem Punkte hörte dies auf: das An¬
sehen und die Befugnis, welche die Verfassung der Krone lieferte, ließ er nicht
schmälern.

Der Liberalismus strebte nach einem Zustande, wie er in England, Frank¬
reich und Belgien Herkommen war, und bei dem die Minister nur mit der
Mehrheit der Volksvertretung regieren konnten und, wo ihnen diese fehlte,
sofort zurückzutreten und einem Kabinet Platz zu machen hatten, das der
Monarch oder Präsident aus der Mehrheit zu wählen verpflichtet war. Bis
1866 hatte Bismarck dieses Streben und die ihm zu gründe liegende Doktrin
für unzulässig in Preußen, weil nicht in dessen Verfassung begründet, erklärt
und 1863 zur Vermeidung von Konflikten auf die Politik der Kompromisse
hingewiesen. Diese wurde damals abgelehnt. Jetzt, nach Gründung des Nord¬
deutschen Bundes, vom Kanzler wieder aufgenommen und im deutschen Reiche
fortgesetzt, hatte sie bessern Erfolg. Die Nationalliberalen gingen gleich andern
Gemäßigten in den meisten Fällen auf sie ein. Ferner suchte der Kanzler den
Aberglauben der Liberalen zu widerlegen und zu beseitigen, der einen Gegensatz
zwischen Regierung und Volksvertretung als selbstverständlich und unter allen
Umständen wirksam ansah und als oberste Pflicht der Volksvertretung wach¬
sames Mißtrauen in Betreff der Pläne und Vorschläge der Regierung betrachtete,
die nächstwichtige aber in dem Bestreben der Parlamente sah, die angeblich er¬
folgte Übervorteilung der Regierten durch die Regierenden jetzt, nachdem die
nationalen Ziele in der Hauptsache erreicht worden, wettzumachen, die vermeint¬
lichen Rechte des Volkes, Menschenrechte, Grundrechte u. dergl. allmählich
zurückzuerobern und die Staatsbürger, die nunmehr politische Bildung genug
besäßen, um sich selbst zu regieren, von der „Bevormundung" durch die Staats¬
behörde zu befreien. Die Bemühungen Bismarcks, die Nationalliberalen von
der Verkehrtheit dieser von 1848 her überlieferten Ansichten zu überzeugen,
waren eine Zeit lang, wie es schien, nicht erfolglos, sodaß sich im großen und
ganzen zwischen ihm und der bedeutendsten Fraktion der Liberalen ein recht be¬
friedigendes Verhältnis ausbildete, bei dem diese mancherlei Zugeständnisse
von der Negierung erlangten. So auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Inter¬
essen, in der Frage der Verwaltungsreform und bei dem Kampfe mit den
Ultramontanen, so ferner bei der Justizreform und dem Militärorganisations¬
gesetze. Immer erreichte der Kanzler hier im wesentlichen seinen Zweck, indem
er auf liberale Forderungen, die sich gewähren ließen, einging, also auf dem
Wege von Vereinbarungen nach dem Grundsatze av ut ass.

Bei der Raschheit, womit der innere Ausbau des deutschen Staates in¬
folge dieses praktischen Verfahrens fortschritt, konnte es nicht fehlen, daß sich,
als man Zeit zu genauerer Betrachtung fand, Mängel am Werke herausstellten,
deren Beseitigung sich nicht aufschieben ließ. Ein Teil der Nationalliberalen
erkannte dies an, ein andrer nicht. Alle fingen mehr oder minder an, sich


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[0348] Der Reichskanzler und die Parteien. Zweckes eingedenk, gefällig erwies, an einem Punkte hörte dies auf: das An¬ sehen und die Befugnis, welche die Verfassung der Krone lieferte, ließ er nicht schmälern. Der Liberalismus strebte nach einem Zustande, wie er in England, Frank¬ reich und Belgien Herkommen war, und bei dem die Minister nur mit der Mehrheit der Volksvertretung regieren konnten und, wo ihnen diese fehlte, sofort zurückzutreten und einem Kabinet Platz zu machen hatten, das der Monarch oder Präsident aus der Mehrheit zu wählen verpflichtet war. Bis 1866 hatte Bismarck dieses Streben und die ihm zu gründe liegende Doktrin für unzulässig in Preußen, weil nicht in dessen Verfassung begründet, erklärt und 1863 zur Vermeidung von Konflikten auf die Politik der Kompromisse hingewiesen. Diese wurde damals abgelehnt. Jetzt, nach Gründung des Nord¬ deutschen Bundes, vom Kanzler wieder aufgenommen und im deutschen Reiche fortgesetzt, hatte sie bessern Erfolg. Die Nationalliberalen gingen gleich andern Gemäßigten in den meisten Fällen auf sie ein. Ferner suchte der Kanzler den Aberglauben der Liberalen zu widerlegen und zu beseitigen, der einen Gegensatz zwischen Regierung und Volksvertretung als selbstverständlich und unter allen Umständen wirksam ansah und als oberste Pflicht der Volksvertretung wach¬ sames Mißtrauen in Betreff der Pläne und Vorschläge der Regierung betrachtete, die nächstwichtige aber in dem Bestreben der Parlamente sah, die angeblich er¬ folgte Übervorteilung der Regierten durch die Regierenden jetzt, nachdem die nationalen Ziele in der Hauptsache erreicht worden, wettzumachen, die vermeint¬ lichen Rechte des Volkes, Menschenrechte, Grundrechte u. dergl. allmählich zurückzuerobern und die Staatsbürger, die nunmehr politische Bildung genug besäßen, um sich selbst zu regieren, von der „Bevormundung" durch die Staats¬ behörde zu befreien. Die Bemühungen Bismarcks, die Nationalliberalen von der Verkehrtheit dieser von 1848 her überlieferten Ansichten zu überzeugen, waren eine Zeit lang, wie es schien, nicht erfolglos, sodaß sich im großen und ganzen zwischen ihm und der bedeutendsten Fraktion der Liberalen ein recht be¬ friedigendes Verhältnis ausbildete, bei dem diese mancherlei Zugeständnisse von der Negierung erlangten. So auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Inter¬ essen, in der Frage der Verwaltungsreform und bei dem Kampfe mit den Ultramontanen, so ferner bei der Justizreform und dem Militärorganisations¬ gesetze. Immer erreichte der Kanzler hier im wesentlichen seinen Zweck, indem er auf liberale Forderungen, die sich gewähren ließen, einging, also auf dem Wege von Vereinbarungen nach dem Grundsatze av ut ass. Bei der Raschheit, womit der innere Ausbau des deutschen Staates in¬ folge dieses praktischen Verfahrens fortschritt, konnte es nicht fehlen, daß sich, als man Zeit zu genauerer Betrachtung fand, Mängel am Werke herausstellten, deren Beseitigung sich nicht aufschieben ließ. Ein Teil der Nationalliberalen erkannte dies an, ein andrer nicht. Alle fingen mehr oder minder an, sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/348>, abgerufen am 22.07.2024.