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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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I-'Immoi'tel.

Astier. Dem schmucken Paul gelingt es allmählich, sich ins Herz Colettcns
einzustehlen. Interessant ist dieses Wiederwachen der Lebenslust und des Liebc-
bedürfnisses in der jungen Witwe dargestellt. Paul ist ihr Architekt für das
Mausoleum des Betrauerten. Und schließlich geschieht es, daß er auf dem
Grabe des Gatten selbst die Witwe zum Geständnis ihrer Liebe bringt, ganz
nach dem Muster der Matrone von Ephesus. Inzwischen hat aber Madame
Astier Colettcns Auge auf den Grafen Athis gelenkt. Ohne von den Be¬
mühungen ihres Sohnes um die Gunst der Witwe etwas zu wissen, hat die
Mutter ungeschickterweise ihm das Spiel verdorben. Denn Colette, dem Leben
wiedergewonnen, will nicht durch eine Verbindung mit dem simpel bürgerlichen
Architekten den Fürstentitel verlieren, und obwohl sie Paul liebt, zieht sie vor,
Athis des Titels und seiner Stellung wegen zu heiraten. Es verschlägt nichts,
daß Athis einer der erbärmlichsten Gesellen ist und Nang, Geld, Stellung der
Herzogin Padovani zu verdanken hat, die ihn liebt und mit Sicherheit darauf
rechnet, daß er sie nach dem täglich erwarteten Tode ihres getrennt von ihr
lebenden Gatten heiraten werde. Auch diese Herzogin ist ein satirisches Original.
Sie ist nicht mehr jung, aber noch immer eine schöne Frau. Ihr Reichtum
schafft ihr Macht und Einfluß: sie herrscht auch über die Akademie. In ihrem
gastfreien Hause kommt die ganze Gesellschaft zusammen. Sie unterstützt Madame
Astier dadurch, daß sie ihr von Zeit zu Zeit einen neuen Hut oder ein ele¬
gantes Kleid schenkt, das diese sich selbst nicht gönnen darf. Und doch ist Frau
Astier so bodenlos perfid, aus Eigennutz ihr den Grafen Athis abspenstig zu
machen und mit Colette zu verbinden, denn sie erwartet ein fürstliches Ehe¬
vermittlungsgeschenk dafür. Als ihr der Streich gelungen ist, entdeckt sie zu
spät, daß sie auch den eignen Sohn getroffen hat. Paul in seiner Wut fordert
Athis, und die Ironie des Schicksals will es, daß Paul, der berühmte Fechter,
von dem Stümper schwer verwundet wird. Aber so viel Geistesgegenwart hat
Paul noch, vom Kampfplatze aus einen raffinirt verlogenen Zettel an die Her¬
zogin zu schreiben: er habe sie rächen wollen, und es sei mißlungen. Bei der
alten Koketten gewinnt er dadurch sein Spiel, und schließlich heiratet er sie mit
ihrem großen Vermögen, so viel auch der alte Leonard Astier dagegen wettern mag.

Um diese Haupthandlung reiht sich noch eine Menge episodischer Neben¬
figuren, die jede für sich interessant sind und der Wiedergabe wert wären. Doch
begnügen wir uns mit der Andeutung. Die große Herrschaft Daudets über
die Form steht außer Zweifel. Daher rührt es, daß er auf einem im Grunde
mäßigen Raume eine solche Menge von Bildern entfalten konnte. Daß sie alle
im Dienste nicht bloß des Pessimismus, sondern sogar der persönlichen Ge¬
hässigkeit stehen -- denn man weiß ja, woher Daudets Zorn gegen die Aka¬
demie stammt --, das ist das Fatale an dem Buche. Es vergällt einem
ernsten Leser die Freude an dem glänzenden Kaleidoskop.


Moritz Necker.


I-'Immoi'tel.

Astier. Dem schmucken Paul gelingt es allmählich, sich ins Herz Colettcns
einzustehlen. Interessant ist dieses Wiederwachen der Lebenslust und des Liebc-
bedürfnisses in der jungen Witwe dargestellt. Paul ist ihr Architekt für das
Mausoleum des Betrauerten. Und schließlich geschieht es, daß er auf dem
Grabe des Gatten selbst die Witwe zum Geständnis ihrer Liebe bringt, ganz
nach dem Muster der Matrone von Ephesus. Inzwischen hat aber Madame
Astier Colettcns Auge auf den Grafen Athis gelenkt. Ohne von den Be¬
mühungen ihres Sohnes um die Gunst der Witwe etwas zu wissen, hat die
Mutter ungeschickterweise ihm das Spiel verdorben. Denn Colette, dem Leben
wiedergewonnen, will nicht durch eine Verbindung mit dem simpel bürgerlichen
Architekten den Fürstentitel verlieren, und obwohl sie Paul liebt, zieht sie vor,
Athis des Titels und seiner Stellung wegen zu heiraten. Es verschlägt nichts,
daß Athis einer der erbärmlichsten Gesellen ist und Nang, Geld, Stellung der
Herzogin Padovani zu verdanken hat, die ihn liebt und mit Sicherheit darauf
rechnet, daß er sie nach dem täglich erwarteten Tode ihres getrennt von ihr
lebenden Gatten heiraten werde. Auch diese Herzogin ist ein satirisches Original.
Sie ist nicht mehr jung, aber noch immer eine schöne Frau. Ihr Reichtum
schafft ihr Macht und Einfluß: sie herrscht auch über die Akademie. In ihrem
gastfreien Hause kommt die ganze Gesellschaft zusammen. Sie unterstützt Madame
Astier dadurch, daß sie ihr von Zeit zu Zeit einen neuen Hut oder ein ele¬
gantes Kleid schenkt, das diese sich selbst nicht gönnen darf. Und doch ist Frau
Astier so bodenlos perfid, aus Eigennutz ihr den Grafen Athis abspenstig zu
machen und mit Colette zu verbinden, denn sie erwartet ein fürstliches Ehe¬
vermittlungsgeschenk dafür. Als ihr der Streich gelungen ist, entdeckt sie zu
spät, daß sie auch den eignen Sohn getroffen hat. Paul in seiner Wut fordert
Athis, und die Ironie des Schicksals will es, daß Paul, der berühmte Fechter,
von dem Stümper schwer verwundet wird. Aber so viel Geistesgegenwart hat
Paul noch, vom Kampfplatze aus einen raffinirt verlogenen Zettel an die Her¬
zogin zu schreiben: er habe sie rächen wollen, und es sei mißlungen. Bei der
alten Koketten gewinnt er dadurch sein Spiel, und schließlich heiratet er sie mit
ihrem großen Vermögen, so viel auch der alte Leonard Astier dagegen wettern mag.

Um diese Haupthandlung reiht sich noch eine Menge episodischer Neben¬
figuren, die jede für sich interessant sind und der Wiedergabe wert wären. Doch
begnügen wir uns mit der Andeutung. Die große Herrschaft Daudets über
die Form steht außer Zweifel. Daher rührt es, daß er auf einem im Grunde
mäßigen Raume eine solche Menge von Bildern entfalten konnte. Daß sie alle
im Dienste nicht bloß des Pessimismus, sondern sogar der persönlichen Ge¬
hässigkeit stehen — denn man weiß ja, woher Daudets Zorn gegen die Aka¬
demie stammt —, das ist das Fatale an dem Buche. Es vergällt einem
ernsten Leser die Freude an dem glänzenden Kaleidoskop.


Moritz Necker.


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[0269] I-'Immoi'tel. Astier. Dem schmucken Paul gelingt es allmählich, sich ins Herz Colettcns einzustehlen. Interessant ist dieses Wiederwachen der Lebenslust und des Liebc- bedürfnisses in der jungen Witwe dargestellt. Paul ist ihr Architekt für das Mausoleum des Betrauerten. Und schließlich geschieht es, daß er auf dem Grabe des Gatten selbst die Witwe zum Geständnis ihrer Liebe bringt, ganz nach dem Muster der Matrone von Ephesus. Inzwischen hat aber Madame Astier Colettcns Auge auf den Grafen Athis gelenkt. Ohne von den Be¬ mühungen ihres Sohnes um die Gunst der Witwe etwas zu wissen, hat die Mutter ungeschickterweise ihm das Spiel verdorben. Denn Colette, dem Leben wiedergewonnen, will nicht durch eine Verbindung mit dem simpel bürgerlichen Architekten den Fürstentitel verlieren, und obwohl sie Paul liebt, zieht sie vor, Athis des Titels und seiner Stellung wegen zu heiraten. Es verschlägt nichts, daß Athis einer der erbärmlichsten Gesellen ist und Nang, Geld, Stellung der Herzogin Padovani zu verdanken hat, die ihn liebt und mit Sicherheit darauf rechnet, daß er sie nach dem täglich erwarteten Tode ihres getrennt von ihr lebenden Gatten heiraten werde. Auch diese Herzogin ist ein satirisches Original. Sie ist nicht mehr jung, aber noch immer eine schöne Frau. Ihr Reichtum schafft ihr Macht und Einfluß: sie herrscht auch über die Akademie. In ihrem gastfreien Hause kommt die ganze Gesellschaft zusammen. Sie unterstützt Madame Astier dadurch, daß sie ihr von Zeit zu Zeit einen neuen Hut oder ein ele¬ gantes Kleid schenkt, das diese sich selbst nicht gönnen darf. Und doch ist Frau Astier so bodenlos perfid, aus Eigennutz ihr den Grafen Athis abspenstig zu machen und mit Colette zu verbinden, denn sie erwartet ein fürstliches Ehe¬ vermittlungsgeschenk dafür. Als ihr der Streich gelungen ist, entdeckt sie zu spät, daß sie auch den eignen Sohn getroffen hat. Paul in seiner Wut fordert Athis, und die Ironie des Schicksals will es, daß Paul, der berühmte Fechter, von dem Stümper schwer verwundet wird. Aber so viel Geistesgegenwart hat Paul noch, vom Kampfplatze aus einen raffinirt verlogenen Zettel an die Her¬ zogin zu schreiben: er habe sie rächen wollen, und es sei mißlungen. Bei der alten Koketten gewinnt er dadurch sein Spiel, und schließlich heiratet er sie mit ihrem großen Vermögen, so viel auch der alte Leonard Astier dagegen wettern mag. Um diese Haupthandlung reiht sich noch eine Menge episodischer Neben¬ figuren, die jede für sich interessant sind und der Wiedergabe wert wären. Doch begnügen wir uns mit der Andeutung. Die große Herrschaft Daudets über die Form steht außer Zweifel. Daher rührt es, daß er auf einem im Grunde mäßigen Raume eine solche Menge von Bildern entfalten konnte. Daß sie alle im Dienste nicht bloß des Pessimismus, sondern sogar der persönlichen Ge¬ hässigkeit stehen — denn man weiß ja, woher Daudets Zorn gegen die Aka¬ demie stammt —, das ist das Fatale an dem Buche. Es vergällt einem ernsten Leser die Freude an dem glänzenden Kaleidoskop. Moritz Necker.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/269>, abgerufen am 22.07.2024.