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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Die Raisorfalpt nach Rußland.

reichs zu Nußland ausgedehnt, das mit seinen Absichten auf die Türkei die
Interessen des Kaiserreiches an der Donau gefährdete, aber zunächst noch wie
dieses und Deutschland der Ruhe bedürfte. So kam es zu den Verhandlungen,
die zu dem Dreikaiserbunde von 1872 führten. Gortschakoff ging indes auf
diesen Gedanken Bismarcks unzweifelhaft nur mit dem Hintergedanken ein,
Deutschland werde sich, wenn die orientalischen Pläne der russischen Politik
einmal zur Ausführung gereift seien, zur Förderung derselben bestimmen lassen.
Das Reifen derselben hätte aber geraume Zeit währen können, wenn die rasche
Ausbreitung der panslawistischen Bestrebungen und die Notwendigkeit, dem
Krankheitsstoffe, der sich im russischen Volkskörper während der letzten Jahr¬
zehnte angesammelt hatte, Abfluß zu verschaffen, verbunden mit dem Bedürfnisse
Gortschakoffs, populär zu bleiben und der Welt als großer Stern am poli¬
tischen Firmamente zu erscheinen, den Gang der Dinge nicht beschleunigt hätte.
So zeigten sich schon 1875 im Nordwesten der europäischen Türkei die Vor¬
boten eines neuen russischen Angriffes auf die Pforte, und diese nahmen bald
einen so ernsten Charakter an, daß sich daraus ein Weltkrieg entwickeln konnte.
Zunächst hielt doch der Bund der Ostmächte vor der Gefahr zusammen, und
sie verständigten sich über ein Reformprogramm, nach welchem das Nebenein¬
anderbestehen der christlichen und der muhammedanischen Unterthanen des Sultans
durch rechtliche Gleichstellung des Christentums mit dem Islam ermöglicht werden
sollte. Im Mai 1876 verhandelten Bismarck, Gortschakoff und Andrassy zu
Berlin über die Angelegenheit, und es kam das Berliner Memoranduni zu
stände, welches ein gemeinsames Einwirken Enropas auf die Pforte, sowie
anderseits auf die Aufständischen in der Herzegowina und Bosnien vorschlug
und zu diesem Zwecke den andern drei Großmächten mitgeteilt wurde. Italien
und Frankreich schlössen sich an, England nicht, weil das Memorandum für den
Fall, daß sein Vorschlag ohne Ergebnis bliebe, gemeinsame Zwangsmaßregeln
der drei Ostmächte androhte. Die Bedeutung der Berliner Besprechungen fand
Andrassy zufolge seiner Erklärung in der österreichisch-ungarischen Reichsratsdele¬
gation "in der vollständigen Einigung der drei Kaisermächtc über die Ziele in
der Sache und über die nach Maßgabe der gegenwärtigen Verhältnisse anzu-
wendenden Mittel," sowie "in deren Vorhaben, sich auch ferner von Fall zu
Fall zu verständigen." Diese Einigung erhielt sich zunächst. Im Juni waren
die Kaiser von Deutschland und Rußland in Eins beisammen, und im Juli
trafen sich die Kaiser Alexander und Franz Josef in Reichstadt, wo sie be¬
schlossen, unter den gegenwärtigen Umständen nicht zu interveuiren und nur,
wenn es andre Verhältnisse erforderten und ein konkreter Fall vorläge, mit den
übrigen christlichen Mächten vertraulich sich über weiteres zu vereinigen. Jene
andern Verhältnisse traten mit der greuelvollen Unterdrückung des bulgarischen
Aufstandes durch türkische Irreguläre und mit der unglücklichen Wendung, die
der Krieg der Serben mit der Pforte nahm, sowie damit ein, daß die Türkei


Die Raisorfalpt nach Rußland.

reichs zu Nußland ausgedehnt, das mit seinen Absichten auf die Türkei die
Interessen des Kaiserreiches an der Donau gefährdete, aber zunächst noch wie
dieses und Deutschland der Ruhe bedürfte. So kam es zu den Verhandlungen,
die zu dem Dreikaiserbunde von 1872 führten. Gortschakoff ging indes auf
diesen Gedanken Bismarcks unzweifelhaft nur mit dem Hintergedanken ein,
Deutschland werde sich, wenn die orientalischen Pläne der russischen Politik
einmal zur Ausführung gereift seien, zur Förderung derselben bestimmen lassen.
Das Reifen derselben hätte aber geraume Zeit währen können, wenn die rasche
Ausbreitung der panslawistischen Bestrebungen und die Notwendigkeit, dem
Krankheitsstoffe, der sich im russischen Volkskörper während der letzten Jahr¬
zehnte angesammelt hatte, Abfluß zu verschaffen, verbunden mit dem Bedürfnisse
Gortschakoffs, populär zu bleiben und der Welt als großer Stern am poli¬
tischen Firmamente zu erscheinen, den Gang der Dinge nicht beschleunigt hätte.
So zeigten sich schon 1875 im Nordwesten der europäischen Türkei die Vor¬
boten eines neuen russischen Angriffes auf die Pforte, und diese nahmen bald
einen so ernsten Charakter an, daß sich daraus ein Weltkrieg entwickeln konnte.
Zunächst hielt doch der Bund der Ostmächte vor der Gefahr zusammen, und
sie verständigten sich über ein Reformprogramm, nach welchem das Nebenein¬
anderbestehen der christlichen und der muhammedanischen Unterthanen des Sultans
durch rechtliche Gleichstellung des Christentums mit dem Islam ermöglicht werden
sollte. Im Mai 1876 verhandelten Bismarck, Gortschakoff und Andrassy zu
Berlin über die Angelegenheit, und es kam das Berliner Memoranduni zu
stände, welches ein gemeinsames Einwirken Enropas auf die Pforte, sowie
anderseits auf die Aufständischen in der Herzegowina und Bosnien vorschlug
und zu diesem Zwecke den andern drei Großmächten mitgeteilt wurde. Italien
und Frankreich schlössen sich an, England nicht, weil das Memorandum für den
Fall, daß sein Vorschlag ohne Ergebnis bliebe, gemeinsame Zwangsmaßregeln
der drei Ostmächte androhte. Die Bedeutung der Berliner Besprechungen fand
Andrassy zufolge seiner Erklärung in der österreichisch-ungarischen Reichsratsdele¬
gation „in der vollständigen Einigung der drei Kaisermächtc über die Ziele in
der Sache und über die nach Maßgabe der gegenwärtigen Verhältnisse anzu-
wendenden Mittel," sowie „in deren Vorhaben, sich auch ferner von Fall zu
Fall zu verständigen." Diese Einigung erhielt sich zunächst. Im Juni waren
die Kaiser von Deutschland und Rußland in Eins beisammen, und im Juli
trafen sich die Kaiser Alexander und Franz Josef in Reichstadt, wo sie be¬
schlossen, unter den gegenwärtigen Umständen nicht zu interveuiren und nur,
wenn es andre Verhältnisse erforderten und ein konkreter Fall vorläge, mit den
übrigen christlichen Mächten vertraulich sich über weiteres zu vereinigen. Jene
andern Verhältnisse traten mit der greuelvollen Unterdrückung des bulgarischen
Aufstandes durch türkische Irreguläre und mit der unglücklichen Wendung, die
der Krieg der Serben mit der Pforte nahm, sowie damit ein, daß die Türkei


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[0251] Die Raisorfalpt nach Rußland. reichs zu Nußland ausgedehnt, das mit seinen Absichten auf die Türkei die Interessen des Kaiserreiches an der Donau gefährdete, aber zunächst noch wie dieses und Deutschland der Ruhe bedürfte. So kam es zu den Verhandlungen, die zu dem Dreikaiserbunde von 1872 führten. Gortschakoff ging indes auf diesen Gedanken Bismarcks unzweifelhaft nur mit dem Hintergedanken ein, Deutschland werde sich, wenn die orientalischen Pläne der russischen Politik einmal zur Ausführung gereift seien, zur Förderung derselben bestimmen lassen. Das Reifen derselben hätte aber geraume Zeit währen können, wenn die rasche Ausbreitung der panslawistischen Bestrebungen und die Notwendigkeit, dem Krankheitsstoffe, der sich im russischen Volkskörper während der letzten Jahr¬ zehnte angesammelt hatte, Abfluß zu verschaffen, verbunden mit dem Bedürfnisse Gortschakoffs, populär zu bleiben und der Welt als großer Stern am poli¬ tischen Firmamente zu erscheinen, den Gang der Dinge nicht beschleunigt hätte. So zeigten sich schon 1875 im Nordwesten der europäischen Türkei die Vor¬ boten eines neuen russischen Angriffes auf die Pforte, und diese nahmen bald einen so ernsten Charakter an, daß sich daraus ein Weltkrieg entwickeln konnte. Zunächst hielt doch der Bund der Ostmächte vor der Gefahr zusammen, und sie verständigten sich über ein Reformprogramm, nach welchem das Nebenein¬ anderbestehen der christlichen und der muhammedanischen Unterthanen des Sultans durch rechtliche Gleichstellung des Christentums mit dem Islam ermöglicht werden sollte. Im Mai 1876 verhandelten Bismarck, Gortschakoff und Andrassy zu Berlin über die Angelegenheit, und es kam das Berliner Memoranduni zu stände, welches ein gemeinsames Einwirken Enropas auf die Pforte, sowie anderseits auf die Aufständischen in der Herzegowina und Bosnien vorschlug und zu diesem Zwecke den andern drei Großmächten mitgeteilt wurde. Italien und Frankreich schlössen sich an, England nicht, weil das Memorandum für den Fall, daß sein Vorschlag ohne Ergebnis bliebe, gemeinsame Zwangsmaßregeln der drei Ostmächte androhte. Die Bedeutung der Berliner Besprechungen fand Andrassy zufolge seiner Erklärung in der österreichisch-ungarischen Reichsratsdele¬ gation „in der vollständigen Einigung der drei Kaisermächtc über die Ziele in der Sache und über die nach Maßgabe der gegenwärtigen Verhältnisse anzu- wendenden Mittel," sowie „in deren Vorhaben, sich auch ferner von Fall zu Fall zu verständigen." Diese Einigung erhielt sich zunächst. Im Juni waren die Kaiser von Deutschland und Rußland in Eins beisammen, und im Juli trafen sich die Kaiser Alexander und Franz Josef in Reichstadt, wo sie be¬ schlossen, unter den gegenwärtigen Umständen nicht zu interveuiren und nur, wenn es andre Verhältnisse erforderten und ein konkreter Fall vorläge, mit den übrigen christlichen Mächten vertraulich sich über weiteres zu vereinigen. Jene andern Verhältnisse traten mit der greuelvollen Unterdrückung des bulgarischen Aufstandes durch türkische Irreguläre und mit der unglücklichen Wendung, die der Krieg der Serben mit der Pforte nahm, sowie damit ein, daß die Türkei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/251>, abgerufen am 22.07.2024.