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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Tyhne.

War es vielleicht, weil er so wenig Verständnis für Musik besaß, daß er
desto mehr in ihren Gesang hineinlegte? Er konnte es nicht recht glauben,
aber er hoffte es, denn er liebte sie weit mehr so, wie sie sonst war. Wenn
sie mit ihrer Näharbeit dasaß und mit ihrer sanften, ruhigen Stimme sprach,
mit ihren klaren, treuen Augen aufblickte, so fühlte sich sein ganzes Wesen mit
der unwiderstehlichen Macht eines starken, stillen Heimwehs zu ihr hingezogen.
Er sehnte sich darnach, sich vor ihr zu demütigen, das Knie vor ihr zu beugen
und sie eine Heilige zu nennen. Stets empfand er eine so wunderbare Sehn¬
sucht nach ihr, nicht nur nach ihr, so wie sie jetzt war, sondern nach ihrer
Kindheit und nach all den Tagen, in denen er sie nicht gekannt hatte; und
wenn er mit ihr allein war, brachte er stets die Rede auf die Vergangenheit
und ließ sich von ihr erzählen, von ihren kleinen Leiden, ihren kleinen Ver-
irrungen, kleinen Eigentümlichkeiten, an denen ja jede Kindheit reich ist. Und
er lebte in diesen Erinnerungen, neigte sich ihnen zu mit unruhigem, eifer¬
süchtigen Schmachten, einem unbestimmten Verlangen, zu ergreifen, zu teilen,
eins zu werden mit diesen feinen, mattfarbigen Schatten eines Lebens, das zu
reiferen, reicheren Farben erglüht war. Aber nun auf einmal dieser Gesang,
der so stark war, der ihm so unerwartet kam, wie uns der Anblick eines un¬
begrenzten Horizonts bei der Biegung des Weges überraschen kann und uns
die lauschige Waldeinsamkeit, die bis dahin unsre ganze Welt gewesen ist, nur
als eine die Landschaft begrenzende Ecke erscheinen läßt; die kurzen, gekräuselten
Linien des Waldes werden klein und unbedeutend im Vergleich zu den gro߬
artigen Zügen der Höhen und der fernen Meere.

Ach, es war ja aber nur eine Fata Morgana gewesen, diese Landschaft,
nur eine Phantasterei, in die er sich unter dem Gesänge hineingelebt hatte,
denn jetzt sprach sie ja wieder, wie sie immer gesprochen hatte, war wieder so
schön, wieder ganz die alte Fennimore! Er hatte es ja auch auf hunderterlei
Weise erfahren, welch stilles Wasser sie war, ohne Sturm, ohne Wogen, den
blauen Himmel mit den Sternen wiederspiegelnd.

So liebte er Fennimore, so sah er sie, und so war sie auch nach und nach
in ihrem Benehmen gegen ihm. Nicht daß sie sich absichtlich verstellt hätte,
es lag in gewisser Weise sogar viel Wahres darin, und es war so natürlich,
daß sie, wenn jedes seiner Worte, jeder seiner Ausdrücke, jeder Traum und
Gedanke sich mit seinen Wünschen, Bitten und Huldigungen gerade an diese
Seite in ihr wandte, daß sie dann unwillkürlich ihr eignes Ich in das Gewand
kleidete, das er ihr gleichsam aufzwang. Wie konnte sie auch darüber wachen,
daß jeder Beliebige einen völlig richtigen Eindruck von ihr, so wie sie wirklich
war, erhielt, jetzt, wo doch alle ihre Sinne und Gedanken nur von dem einen
erfüllt waren, von Erik, dem einzigen, ihrem erkorenen Herrn, ihm, den sie mit
einer Leidenschaft liebte, die nicht ihrer eigentlichen Natur entsprach, mit einer
abgöttischen Verehrung, die sie selbst erschreckte. Sie hatte geglaubt, daß 5le


Ricks Tyhne.

War es vielleicht, weil er so wenig Verständnis für Musik besaß, daß er
desto mehr in ihren Gesang hineinlegte? Er konnte es nicht recht glauben,
aber er hoffte es, denn er liebte sie weit mehr so, wie sie sonst war. Wenn
sie mit ihrer Näharbeit dasaß und mit ihrer sanften, ruhigen Stimme sprach,
mit ihren klaren, treuen Augen aufblickte, so fühlte sich sein ganzes Wesen mit
der unwiderstehlichen Macht eines starken, stillen Heimwehs zu ihr hingezogen.
Er sehnte sich darnach, sich vor ihr zu demütigen, das Knie vor ihr zu beugen
und sie eine Heilige zu nennen. Stets empfand er eine so wunderbare Sehn¬
sucht nach ihr, nicht nur nach ihr, so wie sie jetzt war, sondern nach ihrer
Kindheit und nach all den Tagen, in denen er sie nicht gekannt hatte; und
wenn er mit ihr allein war, brachte er stets die Rede auf die Vergangenheit
und ließ sich von ihr erzählen, von ihren kleinen Leiden, ihren kleinen Ver-
irrungen, kleinen Eigentümlichkeiten, an denen ja jede Kindheit reich ist. Und
er lebte in diesen Erinnerungen, neigte sich ihnen zu mit unruhigem, eifer¬
süchtigen Schmachten, einem unbestimmten Verlangen, zu ergreifen, zu teilen,
eins zu werden mit diesen feinen, mattfarbigen Schatten eines Lebens, das zu
reiferen, reicheren Farben erglüht war. Aber nun auf einmal dieser Gesang,
der so stark war, der ihm so unerwartet kam, wie uns der Anblick eines un¬
begrenzten Horizonts bei der Biegung des Weges überraschen kann und uns
die lauschige Waldeinsamkeit, die bis dahin unsre ganze Welt gewesen ist, nur
als eine die Landschaft begrenzende Ecke erscheinen läßt; die kurzen, gekräuselten
Linien des Waldes werden klein und unbedeutend im Vergleich zu den gro߬
artigen Zügen der Höhen und der fernen Meere.

Ach, es war ja aber nur eine Fata Morgana gewesen, diese Landschaft,
nur eine Phantasterei, in die er sich unter dem Gesänge hineingelebt hatte,
denn jetzt sprach sie ja wieder, wie sie immer gesprochen hatte, war wieder so
schön, wieder ganz die alte Fennimore! Er hatte es ja auch auf hunderterlei
Weise erfahren, welch stilles Wasser sie war, ohne Sturm, ohne Wogen, den
blauen Himmel mit den Sternen wiederspiegelnd.

So liebte er Fennimore, so sah er sie, und so war sie auch nach und nach
in ihrem Benehmen gegen ihm. Nicht daß sie sich absichtlich verstellt hätte,
es lag in gewisser Weise sogar viel Wahres darin, und es war so natürlich,
daß sie, wenn jedes seiner Worte, jeder seiner Ausdrücke, jeder Traum und
Gedanke sich mit seinen Wünschen, Bitten und Huldigungen gerade an diese
Seite in ihr wandte, daß sie dann unwillkürlich ihr eignes Ich in das Gewand
kleidete, das er ihr gleichsam aufzwang. Wie konnte sie auch darüber wachen,
daß jeder Beliebige einen völlig richtigen Eindruck von ihr, so wie sie wirklich
war, erhielt, jetzt, wo doch alle ihre Sinne und Gedanken nur von dem einen
erfüllt waren, von Erik, dem einzigen, ihrem erkorenen Herrn, ihm, den sie mit
einer Leidenschaft liebte, die nicht ihrer eigentlichen Natur entsprach, mit einer
abgöttischen Verehrung, die sie selbst erschreckte. Sie hatte geglaubt, daß 5le


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/240>, abgerufen am 01.10.2024.