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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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TagebuchblLtter eines Sonntagsphilosophen.

Der schwache Punkt im Gefüge des Reiches, um den sichs im Grunde im
Laufe der langen Jahrhunderte hinter uns gehandelt hat, wird schon früh im
dreizehnten Jahrhundert mit aller Klarheit und Schärfe bezeichnet, mit bangem
Voraussagen der zerstörenden Wirkung, in einem Spruche Frcidanks (73, 8):


<1ör vürstsn vbendors
stcort nooli äos rionss vrs;

d. h. daß die Fürsten einander, auch den Kaiser eingerechnet, el)6u Irör, gleich
hochgestellt sind oder zu sein in Anspruch nehmen. Ich weiß noch, wie mir zu
Mute wurde, als ich den Spruch zuerst las, nach dem traurig fehlgeschlagenen
Frankfurter Versuche, die Kaisergewalt wiederherzustellen als Schutzdach für
das Reich in neuem Aufbau oder Ausbau: wie weh wurde einem bei diesem
prophetischen Blicke, der, über 600 Jahre alt, nun vor uns so bewährt erschien!
Und wie anders, wie ruhig liest man die Worte jetzt! Es ist ja eigentlich
der altgermanische Grundgedanke von der Stellung des Königs unter seinen
Fürsten, daß er xrimus iutsr xg-rss sei, was sich im alten Frankreich aus¬
gesprochen fortsetzte in den pairs, in England noch jetzt in den xssrs. Aber
wie viel guten Willen, welch gesunden Sinn, welche hingebende Treue setzte
dies scharf zugespitzte Verhältnis voraus: Gleiche, die wohl Einen als Ersten
anerkennen, weil ihnen der allein ihre Gemeinschaft und Einheit sichert, der
aber selbst doch auch zugleich noch ihnen gleich sein soll. In Frankreich trug
von den Begriffen, die da in so überkünstlichem Gleichgewicht gaukeln, das
Minus den Sieg davon, bei uns das xg-rss, und damit kam das Ganze auf
den Weg der Auflösung, wie mans also schon im dreizehnten Jahrhundert sah
und gewiß unter den Leuten besprach. Das Ende der Richtung war die so¬
genannte Souveränität der Fürsten, von der nach 1860 wieder so viel und
nachdrücklich die Rede war, daß einem dabei um das alte, liebe, große, ganze
Vaterland, das uns endlich einmal vor den Händen hingeschwebt war, wie ein
Schmetterling, nach dem der Knabe hascht, nun doppelt angst und bange wurde.
Jetzt, seit 1870, hört man eigncrweise nicht mehr reden von dem französischen
Begriff und Wort, und wer verliert dabei? Ist es doch, als wäre das uralte
Minus mehr xg.i'68 mit seinem guten und gesunden Kern nun auch glücklich
hergestellt zum Heile des Ganzen und der Einzelnen.

Unsern Vätern aber ist über ein halbes Jahrtausend lang auferlegt gewesen,
das Reich verfallen zu sehen, wie es dort Freidank schon voraussagte. Wie
hundert Jahre nach ihm der prophetische Blick in die deutsche Gegenwart und
Zukunft sah, zeigt ein Gedicht aus den zwanziger Jahren des vierzehnten Jahr¬
hunderts, dann oft erweitert und erneuert, später auch gedruckt; es nennt sich
Sivyllen Weissagung, eine litterarische Form des Prophetentums, die aus
dem Altertum ins Mittelalter herüber wirkte.*) Die alte Sibylle wird da



*) Genaueres bei Fr. Vogt, über Sibyllen Weissagung, in Paul und Braunes Bei¬
trägen zur Geschichte der deutschen Sprache und Litteratur 4, 48 ff.
TagebuchblLtter eines Sonntagsphilosophen.

Der schwache Punkt im Gefüge des Reiches, um den sichs im Grunde im
Laufe der langen Jahrhunderte hinter uns gehandelt hat, wird schon früh im
dreizehnten Jahrhundert mit aller Klarheit und Schärfe bezeichnet, mit bangem
Voraussagen der zerstörenden Wirkung, in einem Spruche Frcidanks (73, 8):


<1ör vürstsn vbendors
stcort nooli äos rionss vrs;

d. h. daß die Fürsten einander, auch den Kaiser eingerechnet, el)6u Irör, gleich
hochgestellt sind oder zu sein in Anspruch nehmen. Ich weiß noch, wie mir zu
Mute wurde, als ich den Spruch zuerst las, nach dem traurig fehlgeschlagenen
Frankfurter Versuche, die Kaisergewalt wiederherzustellen als Schutzdach für
das Reich in neuem Aufbau oder Ausbau: wie weh wurde einem bei diesem
prophetischen Blicke, der, über 600 Jahre alt, nun vor uns so bewährt erschien!
Und wie anders, wie ruhig liest man die Worte jetzt! Es ist ja eigentlich
der altgermanische Grundgedanke von der Stellung des Königs unter seinen
Fürsten, daß er xrimus iutsr xg-rss sei, was sich im alten Frankreich aus¬
gesprochen fortsetzte in den pairs, in England noch jetzt in den xssrs. Aber
wie viel guten Willen, welch gesunden Sinn, welche hingebende Treue setzte
dies scharf zugespitzte Verhältnis voraus: Gleiche, die wohl Einen als Ersten
anerkennen, weil ihnen der allein ihre Gemeinschaft und Einheit sichert, der
aber selbst doch auch zugleich noch ihnen gleich sein soll. In Frankreich trug
von den Begriffen, die da in so überkünstlichem Gleichgewicht gaukeln, das
Minus den Sieg davon, bei uns das xg-rss, und damit kam das Ganze auf
den Weg der Auflösung, wie mans also schon im dreizehnten Jahrhundert sah
und gewiß unter den Leuten besprach. Das Ende der Richtung war die so¬
genannte Souveränität der Fürsten, von der nach 1860 wieder so viel und
nachdrücklich die Rede war, daß einem dabei um das alte, liebe, große, ganze
Vaterland, das uns endlich einmal vor den Händen hingeschwebt war, wie ein
Schmetterling, nach dem der Knabe hascht, nun doppelt angst und bange wurde.
Jetzt, seit 1870, hört man eigncrweise nicht mehr reden von dem französischen
Begriff und Wort, und wer verliert dabei? Ist es doch, als wäre das uralte
Minus mehr xg.i'68 mit seinem guten und gesunden Kern nun auch glücklich
hergestellt zum Heile des Ganzen und der Einzelnen.

Unsern Vätern aber ist über ein halbes Jahrtausend lang auferlegt gewesen,
das Reich verfallen zu sehen, wie es dort Freidank schon voraussagte. Wie
hundert Jahre nach ihm der prophetische Blick in die deutsche Gegenwart und
Zukunft sah, zeigt ein Gedicht aus den zwanziger Jahren des vierzehnten Jahr¬
hunderts, dann oft erweitert und erneuert, später auch gedruckt; es nennt sich
Sivyllen Weissagung, eine litterarische Form des Prophetentums, die aus
dem Altertum ins Mittelalter herüber wirkte.*) Die alte Sibylle wird da



*) Genaueres bei Fr. Vogt, über Sibyllen Weissagung, in Paul und Braunes Bei¬
trägen zur Geschichte der deutschen Sprache und Litteratur 4, 48 ff.
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[0023] TagebuchblLtter eines Sonntagsphilosophen. Der schwache Punkt im Gefüge des Reiches, um den sichs im Grunde im Laufe der langen Jahrhunderte hinter uns gehandelt hat, wird schon früh im dreizehnten Jahrhundert mit aller Klarheit und Schärfe bezeichnet, mit bangem Voraussagen der zerstörenden Wirkung, in einem Spruche Frcidanks (73, 8): <1ör vürstsn vbendors stcort nooli äos rionss vrs; d. h. daß die Fürsten einander, auch den Kaiser eingerechnet, el)6u Irör, gleich hochgestellt sind oder zu sein in Anspruch nehmen. Ich weiß noch, wie mir zu Mute wurde, als ich den Spruch zuerst las, nach dem traurig fehlgeschlagenen Frankfurter Versuche, die Kaisergewalt wiederherzustellen als Schutzdach für das Reich in neuem Aufbau oder Ausbau: wie weh wurde einem bei diesem prophetischen Blicke, der, über 600 Jahre alt, nun vor uns so bewährt erschien! Und wie anders, wie ruhig liest man die Worte jetzt! Es ist ja eigentlich der altgermanische Grundgedanke von der Stellung des Königs unter seinen Fürsten, daß er xrimus iutsr xg-rss sei, was sich im alten Frankreich aus¬ gesprochen fortsetzte in den pairs, in England noch jetzt in den xssrs. Aber wie viel guten Willen, welch gesunden Sinn, welche hingebende Treue setzte dies scharf zugespitzte Verhältnis voraus: Gleiche, die wohl Einen als Ersten anerkennen, weil ihnen der allein ihre Gemeinschaft und Einheit sichert, der aber selbst doch auch zugleich noch ihnen gleich sein soll. In Frankreich trug von den Begriffen, die da in so überkünstlichem Gleichgewicht gaukeln, das Minus den Sieg davon, bei uns das xg-rss, und damit kam das Ganze auf den Weg der Auflösung, wie mans also schon im dreizehnten Jahrhundert sah und gewiß unter den Leuten besprach. Das Ende der Richtung war die so¬ genannte Souveränität der Fürsten, von der nach 1860 wieder so viel und nachdrücklich die Rede war, daß einem dabei um das alte, liebe, große, ganze Vaterland, das uns endlich einmal vor den Händen hingeschwebt war, wie ein Schmetterling, nach dem der Knabe hascht, nun doppelt angst und bange wurde. Jetzt, seit 1870, hört man eigncrweise nicht mehr reden von dem französischen Begriff und Wort, und wer verliert dabei? Ist es doch, als wäre das uralte Minus mehr xg.i'68 mit seinem guten und gesunden Kern nun auch glücklich hergestellt zum Heile des Ganzen und der Einzelnen. Unsern Vätern aber ist über ein halbes Jahrtausend lang auferlegt gewesen, das Reich verfallen zu sehen, wie es dort Freidank schon voraussagte. Wie hundert Jahre nach ihm der prophetische Blick in die deutsche Gegenwart und Zukunft sah, zeigt ein Gedicht aus den zwanziger Jahren des vierzehnten Jahr¬ hunderts, dann oft erweitert und erneuert, später auch gedruckt; es nennt sich Sivyllen Weissagung, eine litterarische Form des Prophetentums, die aus dem Altertum ins Mittelalter herüber wirkte.*) Die alte Sibylle wird da *) Genaueres bei Fr. Vogt, über Sibyllen Weissagung, in Paul und Braunes Bei¬ trägen zur Geschichte der deutschen Sprache und Litteratur 4, 48 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/23>, abgerufen am 22.07.2024.