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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

und Fühlen in diesen Punkt, so kann man den noch nicht gegebenen Fortgang
der Bewegung des Ganzen im voraus sehen, soweit nicht äußere, unberechen¬
bare Störungen ihn hemmen; man sieht die Linie entlang, die noch nicht da
ist und doch in den Verhältnissen schon mit gegeben. In diesem Sinne wird
denn auch noch täglich prophezeit, im kleinen wie im großen Leben. Im großen
Leben z. V. von den Parteien, am selbstgewissesten von den beiden äußersten Par¬
teien, die beide die letzte treibende Kraft und ihre Vewegungslinie am sichersten in
der Gewalt zu haben glauben, den Socialdemokraten und Jesuiten. Wo die tiefste,
rechte treibende Kraft wirklich wohnt, der man sich mit seiner eignen Kraft anzu¬
schließen und in Dienst zu stellen hat, das gälte es sicher zu finden in dem
Durcheinander der Meinungen, das wohl jetzt wilder werden will als je, das
wäre das rechte Prophetentum für heute, und das ist eben wesentlich mit der
Streit der Parteien. Die verschiedene Antwort hängt neben dem verschiedenen
Wollen oder Willensziele von der verschiedenen sogenannten Weltanschauung
ab, die aber selbst immer zugleich eine Art Prophezeiung ist, ein Vorausschauen
in die Zukunft, eigentlich ein Hinansschauen über die Verhältnisse, wie sie
wirklich sind, in eine Gestaltung, wie sie sein könnte oder sollte und werden
muß, wie man meint, wenn Rettung kommen soll. Offenbar wie gesagt auch
eine Art Prophetentum, das teils in die Zukunft voraus, teils zugleich in die
Vorzeit zurückschaut, wohl auch in eine nur geahnte Vorzeit, um aus dieser her
über die Enge der Gegenwart hinweg den großen Gang sicher zu erkennen,
den die Dinge gehen sollen, ganz wie die Propheten alter Zeit. Das Pro¬
phetentum kann nicht aussterben, wenn es auch nicht mehr so heißt und in
der Ausübung manches anders geworden ist, als in alter Zeit.

Wir stehen nun jetzt mit unsern deutschen Angelegenheiten seit dem Ab¬
scheiden des Kaisers Wilhelm auf einem Punkte unsers Weges, der zum Rück¬
schauen wie zum möglichsten Vorschauen auffordert oder drängt, wie es nur
je in unsrer Geschichte gewesen sein kann. Das Vorschauen wirft Fragen vor
uns auf, zum Teil schwer genug; das Rückschauen giebt uns viel Antwort
und damit Trost und Mut. Es zeigt aber auch viel schwere, bange, ja ver¬
zweifelte Lagen, in denen man sich aus der Beklemmung des Augenblicks heraus¬
rettete durch Vorschauen in die Ferne und Ausschauen in die Höhe. Unsre
Geschichte ist voll von Prophezeien, das oft zugleich, wie bei den Propheten
des alten Testaments, die Form des Strafens und Mahnens annimmt, um
die Geister und Herzen auf die rechte Bahn zu lenken, zu treiben oder zu locken.
Und immer handelt sichs dabei wesentlich um den einen Punkt, von dem wir
heute sagen dürfen, daß er erreicht ist, denn der Kern des alten Prophezeiens
ist doch nun eingetroffen. Es reizte mich, Einiges zusammenzustellen, das ich
eben zur Hand habe und das gerade reichen wird, diese fröhliche Thatsache
ermutigend ins Licht zu rücken. Weiteres, das ich mir recht wünschte, wäre
Sache eines Geschichtskenners.


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

und Fühlen in diesen Punkt, so kann man den noch nicht gegebenen Fortgang
der Bewegung des Ganzen im voraus sehen, soweit nicht äußere, unberechen¬
bare Störungen ihn hemmen; man sieht die Linie entlang, die noch nicht da
ist und doch in den Verhältnissen schon mit gegeben. In diesem Sinne wird
denn auch noch täglich prophezeit, im kleinen wie im großen Leben. Im großen
Leben z. V. von den Parteien, am selbstgewissesten von den beiden äußersten Par¬
teien, die beide die letzte treibende Kraft und ihre Vewegungslinie am sichersten in
der Gewalt zu haben glauben, den Socialdemokraten und Jesuiten. Wo die tiefste,
rechte treibende Kraft wirklich wohnt, der man sich mit seiner eignen Kraft anzu¬
schließen und in Dienst zu stellen hat, das gälte es sicher zu finden in dem
Durcheinander der Meinungen, das wohl jetzt wilder werden will als je, das
wäre das rechte Prophetentum für heute, und das ist eben wesentlich mit der
Streit der Parteien. Die verschiedene Antwort hängt neben dem verschiedenen
Wollen oder Willensziele von der verschiedenen sogenannten Weltanschauung
ab, die aber selbst immer zugleich eine Art Prophezeiung ist, ein Vorausschauen
in die Zukunft, eigentlich ein Hinansschauen über die Verhältnisse, wie sie
wirklich sind, in eine Gestaltung, wie sie sein könnte oder sollte und werden
muß, wie man meint, wenn Rettung kommen soll. Offenbar wie gesagt auch
eine Art Prophetentum, das teils in die Zukunft voraus, teils zugleich in die
Vorzeit zurückschaut, wohl auch in eine nur geahnte Vorzeit, um aus dieser her
über die Enge der Gegenwart hinweg den großen Gang sicher zu erkennen,
den die Dinge gehen sollen, ganz wie die Propheten alter Zeit. Das Pro¬
phetentum kann nicht aussterben, wenn es auch nicht mehr so heißt und in
der Ausübung manches anders geworden ist, als in alter Zeit.

Wir stehen nun jetzt mit unsern deutschen Angelegenheiten seit dem Ab¬
scheiden des Kaisers Wilhelm auf einem Punkte unsers Weges, der zum Rück¬
schauen wie zum möglichsten Vorschauen auffordert oder drängt, wie es nur
je in unsrer Geschichte gewesen sein kann. Das Vorschauen wirft Fragen vor
uns auf, zum Teil schwer genug; das Rückschauen giebt uns viel Antwort
und damit Trost und Mut. Es zeigt aber auch viel schwere, bange, ja ver¬
zweifelte Lagen, in denen man sich aus der Beklemmung des Augenblicks heraus¬
rettete durch Vorschauen in die Ferne und Ausschauen in die Höhe. Unsre
Geschichte ist voll von Prophezeien, das oft zugleich, wie bei den Propheten
des alten Testaments, die Form des Strafens und Mahnens annimmt, um
die Geister und Herzen auf die rechte Bahn zu lenken, zu treiben oder zu locken.
Und immer handelt sichs dabei wesentlich um den einen Punkt, von dem wir
heute sagen dürfen, daß er erreicht ist, denn der Kern des alten Prophezeiens
ist doch nun eingetroffen. Es reizte mich, Einiges zusammenzustellen, das ich
eben zur Hand habe und das gerade reichen wird, diese fröhliche Thatsache
ermutigend ins Licht zu rücken. Weiteres, das ich mir recht wünschte, wäre
Sache eines Geschichtskenners.


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[0022] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. und Fühlen in diesen Punkt, so kann man den noch nicht gegebenen Fortgang der Bewegung des Ganzen im voraus sehen, soweit nicht äußere, unberechen¬ bare Störungen ihn hemmen; man sieht die Linie entlang, die noch nicht da ist und doch in den Verhältnissen schon mit gegeben. In diesem Sinne wird denn auch noch täglich prophezeit, im kleinen wie im großen Leben. Im großen Leben z. V. von den Parteien, am selbstgewissesten von den beiden äußersten Par¬ teien, die beide die letzte treibende Kraft und ihre Vewegungslinie am sichersten in der Gewalt zu haben glauben, den Socialdemokraten und Jesuiten. Wo die tiefste, rechte treibende Kraft wirklich wohnt, der man sich mit seiner eignen Kraft anzu¬ schließen und in Dienst zu stellen hat, das gälte es sicher zu finden in dem Durcheinander der Meinungen, das wohl jetzt wilder werden will als je, das wäre das rechte Prophetentum für heute, und das ist eben wesentlich mit der Streit der Parteien. Die verschiedene Antwort hängt neben dem verschiedenen Wollen oder Willensziele von der verschiedenen sogenannten Weltanschauung ab, die aber selbst immer zugleich eine Art Prophezeiung ist, ein Vorausschauen in die Zukunft, eigentlich ein Hinansschauen über die Verhältnisse, wie sie wirklich sind, in eine Gestaltung, wie sie sein könnte oder sollte und werden muß, wie man meint, wenn Rettung kommen soll. Offenbar wie gesagt auch eine Art Prophetentum, das teils in die Zukunft voraus, teils zugleich in die Vorzeit zurückschaut, wohl auch in eine nur geahnte Vorzeit, um aus dieser her über die Enge der Gegenwart hinweg den großen Gang sicher zu erkennen, den die Dinge gehen sollen, ganz wie die Propheten alter Zeit. Das Pro¬ phetentum kann nicht aussterben, wenn es auch nicht mehr so heißt und in der Ausübung manches anders geworden ist, als in alter Zeit. Wir stehen nun jetzt mit unsern deutschen Angelegenheiten seit dem Ab¬ scheiden des Kaisers Wilhelm auf einem Punkte unsers Weges, der zum Rück¬ schauen wie zum möglichsten Vorschauen auffordert oder drängt, wie es nur je in unsrer Geschichte gewesen sein kann. Das Vorschauen wirft Fragen vor uns auf, zum Teil schwer genug; das Rückschauen giebt uns viel Antwort und damit Trost und Mut. Es zeigt aber auch viel schwere, bange, ja ver¬ zweifelte Lagen, in denen man sich aus der Beklemmung des Augenblicks heraus¬ rettete durch Vorschauen in die Ferne und Ausschauen in die Höhe. Unsre Geschichte ist voll von Prophezeien, das oft zugleich, wie bei den Propheten des alten Testaments, die Form des Strafens und Mahnens annimmt, um die Geister und Herzen auf die rechte Bahn zu lenken, zu treiben oder zu locken. Und immer handelt sichs dabei wesentlich um den einen Punkt, von dem wir heute sagen dürfen, daß er erreicht ist, denn der Kern des alten Prophezeiens ist doch nun eingetroffen. Es reizte mich, Einiges zusammenzustellen, das ich eben zur Hand habe und das gerade reichen wird, diese fröhliche Thatsache ermutigend ins Licht zu rücken. Weiteres, das ich mir recht wünschte, wäre Sache eines Geschichtskenners.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/22>, abgerufen am 24.08.2024.