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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Der Leitartikel.

zur eignen oder zu einer fremden Regierung in der Politik, zu dieser oder jener
Geldmacht in Finanzfragen sich so wenig verhüllen, daß schnell der Glaube an
die Aufrichtigkeit des Zeitungsurteils schwand, und man auch hinter der Be¬
kämpfung verderblicher Bestrebungen wieder nur eigennützige Beweggründe ver¬
mutete. In der That erfolgte manchmal der Übergang von scharfer Kritik
z. V. eines finanziellen Unternehmens zu dessen Anpreisung, oder umgekehrt,
mit auffallender Plötzlichkeit, und Unternehmungen, deren Unsolidität in einer
Zeitung nachgewiesen wurde, ließen es sich nicht entgehen, durch Verbreitung
solcher Erklärungsgründe die Wirkung der Kritik abzuschwächen.

Diese Ansicht vom Charakter des Zeitungswesens hat sich im wesentlichen
unverändert erhalten, zum großen Schaden desselben im allgemeinen, der ehr¬
lichen Blätter im besondern, und notwendigerweise nicht minder zum Schaden
des öffentlichen Lebens. Jede Vorhaltung, daß es ein Unrecht sei, Blätter,
von deren Unredlichkeit man überzeugt ist, durch das Abonnement zu unterstützen,
wird mit Ausflüchten beantwortet: "Eins ist wie das andre, das meinige ist
wenigstens geschickt redigirt und gut geschrieben, die darin ausgesprochenen An¬
sichten haben für mich keinerlei Bedeutung; wer liest denn überhaupt mock> Npit-
artikel?"

Was den letzten Punkt betrifft, so wird allerdings jemar,
ist, sich ein eignes Urteil zu bilden, nicht darnach fragen, wi diese oder jeu
Zeitungsredaktion ein Ereignis, eine Maßregel angesehen haben will. Ab
viel solche Leser giebt es denn? Im Verhältnis zu dem ?u teil, der gegen¬
wärtig am politischen Leben genommen wird, ist die Zahl er Perfol
eignem Urteil unendlich viel geringer als zu der Zeit, wo die
mit politischen Fragen sich noch auf engere Kreise beschrär
eine Folge der ungeheuern Vermehrung und der massenhaf'
Zeitungen. Unleugbar ist der Aufwand von Talent in d
bewundernswürdig, auch Wissen und Bildung sind neben gro>z^ ^moissenheit
und Unbildung nicht gerade selten, und an Rührigkeit, Spürsinn, raschem und
geschicktem Erfassen und Ausbeuten der "Konjunkturen" steht diese Industrie
keiner andern nach. Sie macht es uns sehr bequem. Kaum hat der Draht
eine Nachricht überliefert, so liegt auch schon die Darstellung der Ursachen und
Wirkungen der neuen Thatsache und die Vorschrift, wie der Biedermann darüber
zu denken habe, schwarz auf weiß vor uns. Wir brauchen unser Gedächtnis
und unsern Verstand nicht anzustrengen, wir brauchen weder nachzuschlagen,
noch nachzudenken, was beides Zeit und Mühe verursachen würde; wir prüfen
nicht lange, ob die Behauptungen wahr und die Schlosse richtig sind, sondern
nehmen alles in gutem Glauben hin, sind begeistert oder entrüstet, hoffnungsvoll
oder mißmutig, bewundern oder spotten, wie es der Verfasser des Leitartikels
verlangt, bilden uns zuerst ein, er habe unsre innerste Überzeugung ausgesprochen,
und vergessen gleich darauf, daß er uns vorgedacht hat. Oder ist das nicht


Der Leitartikel.

zur eignen oder zu einer fremden Regierung in der Politik, zu dieser oder jener
Geldmacht in Finanzfragen sich so wenig verhüllen, daß schnell der Glaube an
die Aufrichtigkeit des Zeitungsurteils schwand, und man auch hinter der Be¬
kämpfung verderblicher Bestrebungen wieder nur eigennützige Beweggründe ver¬
mutete. In der That erfolgte manchmal der Übergang von scharfer Kritik
z. V. eines finanziellen Unternehmens zu dessen Anpreisung, oder umgekehrt,
mit auffallender Plötzlichkeit, und Unternehmungen, deren Unsolidität in einer
Zeitung nachgewiesen wurde, ließen es sich nicht entgehen, durch Verbreitung
solcher Erklärungsgründe die Wirkung der Kritik abzuschwächen.

Diese Ansicht vom Charakter des Zeitungswesens hat sich im wesentlichen
unverändert erhalten, zum großen Schaden desselben im allgemeinen, der ehr¬
lichen Blätter im besondern, und notwendigerweise nicht minder zum Schaden
des öffentlichen Lebens. Jede Vorhaltung, daß es ein Unrecht sei, Blätter,
von deren Unredlichkeit man überzeugt ist, durch das Abonnement zu unterstützen,
wird mit Ausflüchten beantwortet: „Eins ist wie das andre, das meinige ist
wenigstens geschickt redigirt und gut geschrieben, die darin ausgesprochenen An¬
sichten haben für mich keinerlei Bedeutung; wer liest denn überhaupt mock> Npit-
artikel?"

Was den letzten Punkt betrifft, so wird allerdings jemar,
ist, sich ein eignes Urteil zu bilden, nicht darnach fragen, wi diese oder jeu
Zeitungsredaktion ein Ereignis, eine Maßregel angesehen haben will. Ab
viel solche Leser giebt es denn? Im Verhältnis zu dem ?u teil, der gegen¬
wärtig am politischen Leben genommen wird, ist die Zahl er Perfol
eignem Urteil unendlich viel geringer als zu der Zeit, wo die
mit politischen Fragen sich noch auf engere Kreise beschrär
eine Folge der ungeheuern Vermehrung und der massenhaf'
Zeitungen. Unleugbar ist der Aufwand von Talent in d
bewundernswürdig, auch Wissen und Bildung sind neben gro>z^ ^moissenheit
und Unbildung nicht gerade selten, und an Rührigkeit, Spürsinn, raschem und
geschicktem Erfassen und Ausbeuten der „Konjunkturen" steht diese Industrie
keiner andern nach. Sie macht es uns sehr bequem. Kaum hat der Draht
eine Nachricht überliefert, so liegt auch schon die Darstellung der Ursachen und
Wirkungen der neuen Thatsache und die Vorschrift, wie der Biedermann darüber
zu denken habe, schwarz auf weiß vor uns. Wir brauchen unser Gedächtnis
und unsern Verstand nicht anzustrengen, wir brauchen weder nachzuschlagen,
noch nachzudenken, was beides Zeit und Mühe verursachen würde; wir prüfen
nicht lange, ob die Behauptungen wahr und die Schlosse richtig sind, sondern
nehmen alles in gutem Glauben hin, sind begeistert oder entrüstet, hoffnungsvoll
oder mißmutig, bewundern oder spotten, wie es der Verfasser des Leitartikels
verlangt, bilden uns zuerst ein, er habe unsre innerste Überzeugung ausgesprochen,
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[0202] Der Leitartikel. zur eignen oder zu einer fremden Regierung in der Politik, zu dieser oder jener Geldmacht in Finanzfragen sich so wenig verhüllen, daß schnell der Glaube an die Aufrichtigkeit des Zeitungsurteils schwand, und man auch hinter der Be¬ kämpfung verderblicher Bestrebungen wieder nur eigennützige Beweggründe ver¬ mutete. In der That erfolgte manchmal der Übergang von scharfer Kritik z. V. eines finanziellen Unternehmens zu dessen Anpreisung, oder umgekehrt, mit auffallender Plötzlichkeit, und Unternehmungen, deren Unsolidität in einer Zeitung nachgewiesen wurde, ließen es sich nicht entgehen, durch Verbreitung solcher Erklärungsgründe die Wirkung der Kritik abzuschwächen. Diese Ansicht vom Charakter des Zeitungswesens hat sich im wesentlichen unverändert erhalten, zum großen Schaden desselben im allgemeinen, der ehr¬ lichen Blätter im besondern, und notwendigerweise nicht minder zum Schaden des öffentlichen Lebens. Jede Vorhaltung, daß es ein Unrecht sei, Blätter, von deren Unredlichkeit man überzeugt ist, durch das Abonnement zu unterstützen, wird mit Ausflüchten beantwortet: „Eins ist wie das andre, das meinige ist wenigstens geschickt redigirt und gut geschrieben, die darin ausgesprochenen An¬ sichten haben für mich keinerlei Bedeutung; wer liest denn überhaupt mock> Npit- artikel?" Was den letzten Punkt betrifft, so wird allerdings jemar, ist, sich ein eignes Urteil zu bilden, nicht darnach fragen, wi diese oder jeu Zeitungsredaktion ein Ereignis, eine Maßregel angesehen haben will. Ab viel solche Leser giebt es denn? Im Verhältnis zu dem ?u teil, der gegen¬ wärtig am politischen Leben genommen wird, ist die Zahl er Perfol eignem Urteil unendlich viel geringer als zu der Zeit, wo die mit politischen Fragen sich noch auf engere Kreise beschrär eine Folge der ungeheuern Vermehrung und der massenhaf' Zeitungen. Unleugbar ist der Aufwand von Talent in d bewundernswürdig, auch Wissen und Bildung sind neben gro>z^ ^moissenheit und Unbildung nicht gerade selten, und an Rührigkeit, Spürsinn, raschem und geschicktem Erfassen und Ausbeuten der „Konjunkturen" steht diese Industrie keiner andern nach. Sie macht es uns sehr bequem. Kaum hat der Draht eine Nachricht überliefert, so liegt auch schon die Darstellung der Ursachen und Wirkungen der neuen Thatsache und die Vorschrift, wie der Biedermann darüber zu denken habe, schwarz auf weiß vor uns. Wir brauchen unser Gedächtnis und unsern Verstand nicht anzustrengen, wir brauchen weder nachzuschlagen, noch nachzudenken, was beides Zeit und Mühe verursachen würde; wir prüfen nicht lange, ob die Behauptungen wahr und die Schlosse richtig sind, sondern nehmen alles in gutem Glauben hin, sind begeistert oder entrüstet, hoffnungsvoll oder mißmutig, bewundern oder spotten, wie es der Verfasser des Leitartikels verlangt, bilden uns zuerst ein, er habe unsre innerste Überzeugung ausgesprochen, und vergessen gleich darauf, daß er uns vorgedacht hat. Oder ist das nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/202>, abgerufen am 22.07.2024.