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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Goethe als Erzieher.

aufklärend, ermutigend, mit pädagogischen Takte in das Familienleben seiner
Freunde ein und wurde auch hier als der überlegene Geist anerkannt.

In dieser pädagogischen Thätigkeit hat ihn Adolf Langgut!), selbst ein
Pädagoge von Beruf, studirt und in einem vortrefflichen Büchlein: Goethe
als Pädagog (Halle a. d. S., Max Niemeyer, 1887) anschaulich, auf Grund
des reichen urkundlichen Materials dargestellt. Langguth hat mit diesem Buche
seine 1886 erschienene umfassende Darstellung von "Goethes Pädagogik" in
der Weise ergänzt, wie sich das Bild des Praktikers zu dem des Theoretikers
verhält.

In Goethes Art lag es nicht, ein wissenschaftliches System zu konstruiren,
Goethe war vor allem eine künstlerische Natur, die lebensvoll gestaltete, sich
aber nicht einschnüren lassen mochte. Aber Goethe, der leidenschaftliche Natur¬
forscher und geschworne Empiriker, beobachtete sehr viel und sehr glücklich; seine
Anschauung drang intuitio von der Oberfläche der Dinge zu ihrer Idee vor,
weshalb es ja auch vorzukommen pflegte, daß er unbewußt deduktiv dachte.
Daher kam es, daß in allen seinen aphoristischen Aufzeichnungen sich ein gro߬
artiger Zusammenhang offenbaren mußte: die Einheit seiner eignen geistigen
Natur. Es hat auch nicht an Versuchen gefehlt, diese aus den zahllosen ge¬
legentlichen Äußerungen darzustellen, wie es am umfassendsten Otto Harnack in
seinem Buche "Goethe in der Epoche seiner Vollendung" gethan hat. Die
Pädagogik Langguths war auch auf gelegentliche Äußerungen Goethes an¬
gewiesen und hat in vorzüglicher Weise, mit voller Beherrschung des reichen
Materials, ihre Aufgabe gelöst. Sie stellt Goethe im Zusammenhang mit den
pädagogischen Bemühungen seines Zeitalters dar, entwickelt die Grundsätze
Goethes und baut sein Ideal der Erziehung nach den betreffenden Kapiteln des "Wil¬
helm Meister" und nach andern Stellen auf. In dem neueren Buche führt uns
Langguth Goethen als praktischen Erzieher vor: in seinem Verkehre mit den
Kindern des d'Orvillschen Hauses zur Wertherzeit, in seinem väterlichen Zu¬
sammenleben mit Fritz von Stein, in seiner rührenden Aufmerksamkeit für die
Kinder seiner Freunde Herder, Schiller, Knebel, Jakobi, in seiner wichtigsten
pädagogischen Leistung an dem jungen Karl August u. s. w. Langguth hat alle
erreichbaren Nachrichten über Goethes Verkehr mit der Jugend gesammelt und
nichts ausgelassen, was ein Licht auf die Herzensgüte des Dichters werfen könnte.
Er hat damit eines der liebenswürdigsten Bücher der Goethe-Litteratur geschaffen.

Um Goethe für pädagogische Fragen und Angelegenheiten von Jugend an
lebhaft zu erwärmen, traten zahlreiche Motive ins Spiel. Schon die Zeit
seines Eintritts in die Litteratur wirkte dabei mit. Rousseau hatte 1764 seinen
pädagogischen Roman Lmiliz veröffentlicht und damit eine ungeheure Bewegung
der Geister hervorgerufen. Sein Ruf nach Rückkehr zur Natur, seine Mahnungen
zu einer humanen Erziehung der Jugend, seine Forderungen der Abschaffung
der häuslichen Prügelstrafen, der sorgfältigen Behandlung des Körpers, der


Goethe als Erzieher.

aufklärend, ermutigend, mit pädagogischen Takte in das Familienleben seiner
Freunde ein und wurde auch hier als der überlegene Geist anerkannt.

In dieser pädagogischen Thätigkeit hat ihn Adolf Langgut!), selbst ein
Pädagoge von Beruf, studirt und in einem vortrefflichen Büchlein: Goethe
als Pädagog (Halle a. d. S., Max Niemeyer, 1887) anschaulich, auf Grund
des reichen urkundlichen Materials dargestellt. Langguth hat mit diesem Buche
seine 1886 erschienene umfassende Darstellung von „Goethes Pädagogik" in
der Weise ergänzt, wie sich das Bild des Praktikers zu dem des Theoretikers
verhält.

In Goethes Art lag es nicht, ein wissenschaftliches System zu konstruiren,
Goethe war vor allem eine künstlerische Natur, die lebensvoll gestaltete, sich
aber nicht einschnüren lassen mochte. Aber Goethe, der leidenschaftliche Natur¬
forscher und geschworne Empiriker, beobachtete sehr viel und sehr glücklich; seine
Anschauung drang intuitio von der Oberfläche der Dinge zu ihrer Idee vor,
weshalb es ja auch vorzukommen pflegte, daß er unbewußt deduktiv dachte.
Daher kam es, daß in allen seinen aphoristischen Aufzeichnungen sich ein gro߬
artiger Zusammenhang offenbaren mußte: die Einheit seiner eignen geistigen
Natur. Es hat auch nicht an Versuchen gefehlt, diese aus den zahllosen ge¬
legentlichen Äußerungen darzustellen, wie es am umfassendsten Otto Harnack in
seinem Buche „Goethe in der Epoche seiner Vollendung" gethan hat. Die
Pädagogik Langguths war auch auf gelegentliche Äußerungen Goethes an¬
gewiesen und hat in vorzüglicher Weise, mit voller Beherrschung des reichen
Materials, ihre Aufgabe gelöst. Sie stellt Goethe im Zusammenhang mit den
pädagogischen Bemühungen seines Zeitalters dar, entwickelt die Grundsätze
Goethes und baut sein Ideal der Erziehung nach den betreffenden Kapiteln des „Wil¬
helm Meister" und nach andern Stellen auf. In dem neueren Buche führt uns
Langguth Goethen als praktischen Erzieher vor: in seinem Verkehre mit den
Kindern des d'Orvillschen Hauses zur Wertherzeit, in seinem väterlichen Zu¬
sammenleben mit Fritz von Stein, in seiner rührenden Aufmerksamkeit für die
Kinder seiner Freunde Herder, Schiller, Knebel, Jakobi, in seiner wichtigsten
pädagogischen Leistung an dem jungen Karl August u. s. w. Langguth hat alle
erreichbaren Nachrichten über Goethes Verkehr mit der Jugend gesammelt und
nichts ausgelassen, was ein Licht auf die Herzensgüte des Dichters werfen könnte.
Er hat damit eines der liebenswürdigsten Bücher der Goethe-Litteratur geschaffen.

Um Goethe für pädagogische Fragen und Angelegenheiten von Jugend an
lebhaft zu erwärmen, traten zahlreiche Motive ins Spiel. Schon die Zeit
seines Eintritts in die Litteratur wirkte dabei mit. Rousseau hatte 1764 seinen
pädagogischen Roman Lmiliz veröffentlicht und damit eine ungeheure Bewegung
der Geister hervorgerufen. Sein Ruf nach Rückkehr zur Natur, seine Mahnungen
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der häuslichen Prügelstrafen, der sorgfältigen Behandlung des Körpers, der


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[0171] Goethe als Erzieher. aufklärend, ermutigend, mit pädagogischen Takte in das Familienleben seiner Freunde ein und wurde auch hier als der überlegene Geist anerkannt. In dieser pädagogischen Thätigkeit hat ihn Adolf Langgut!), selbst ein Pädagoge von Beruf, studirt und in einem vortrefflichen Büchlein: Goethe als Pädagog (Halle a. d. S., Max Niemeyer, 1887) anschaulich, auf Grund des reichen urkundlichen Materials dargestellt. Langguth hat mit diesem Buche seine 1886 erschienene umfassende Darstellung von „Goethes Pädagogik" in der Weise ergänzt, wie sich das Bild des Praktikers zu dem des Theoretikers verhält. In Goethes Art lag es nicht, ein wissenschaftliches System zu konstruiren, Goethe war vor allem eine künstlerische Natur, die lebensvoll gestaltete, sich aber nicht einschnüren lassen mochte. Aber Goethe, der leidenschaftliche Natur¬ forscher und geschworne Empiriker, beobachtete sehr viel und sehr glücklich; seine Anschauung drang intuitio von der Oberfläche der Dinge zu ihrer Idee vor, weshalb es ja auch vorzukommen pflegte, daß er unbewußt deduktiv dachte. Daher kam es, daß in allen seinen aphoristischen Aufzeichnungen sich ein gro߬ artiger Zusammenhang offenbaren mußte: die Einheit seiner eignen geistigen Natur. Es hat auch nicht an Versuchen gefehlt, diese aus den zahllosen ge¬ legentlichen Äußerungen darzustellen, wie es am umfassendsten Otto Harnack in seinem Buche „Goethe in der Epoche seiner Vollendung" gethan hat. Die Pädagogik Langguths war auch auf gelegentliche Äußerungen Goethes an¬ gewiesen und hat in vorzüglicher Weise, mit voller Beherrschung des reichen Materials, ihre Aufgabe gelöst. Sie stellt Goethe im Zusammenhang mit den pädagogischen Bemühungen seines Zeitalters dar, entwickelt die Grundsätze Goethes und baut sein Ideal der Erziehung nach den betreffenden Kapiteln des „Wil¬ helm Meister" und nach andern Stellen auf. In dem neueren Buche führt uns Langguth Goethen als praktischen Erzieher vor: in seinem Verkehre mit den Kindern des d'Orvillschen Hauses zur Wertherzeit, in seinem väterlichen Zu¬ sammenleben mit Fritz von Stein, in seiner rührenden Aufmerksamkeit für die Kinder seiner Freunde Herder, Schiller, Knebel, Jakobi, in seiner wichtigsten pädagogischen Leistung an dem jungen Karl August u. s. w. Langguth hat alle erreichbaren Nachrichten über Goethes Verkehr mit der Jugend gesammelt und nichts ausgelassen, was ein Licht auf die Herzensgüte des Dichters werfen könnte. Er hat damit eines der liebenswürdigsten Bücher der Goethe-Litteratur geschaffen. Um Goethe für pädagogische Fragen und Angelegenheiten von Jugend an lebhaft zu erwärmen, traten zahlreiche Motive ins Spiel. Schon die Zeit seines Eintritts in die Litteratur wirkte dabei mit. Rousseau hatte 1764 seinen pädagogischen Roman Lmiliz veröffentlicht und damit eine ungeheure Bewegung der Geister hervorgerufen. Sein Ruf nach Rückkehr zur Natur, seine Mahnungen zu einer humanen Erziehung der Jugend, seine Forderungen der Abschaffung der häuslichen Prügelstrafen, der sorgfältigen Behandlung des Körpers, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/171>, abgerufen am 22.07.2024.