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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Sind die heutigen Arbeiterunterstütznngsverbände Versicherungsgesellschaften?

auf die Beteiligten beschränkt bleiben, sondern auch weitere Kreise in Mitleiden¬
schaft ziehen und so das allgemeine Wohl wie den sozialen Frieden gefährden
würde. Unter solchen Umständen war es ganz natürlich, daß die Staatsbehörden
nach einer gesetzlichen Einwirkung auf die fernere Entwicklung dieser Bewegung
strebten und die rechtliche Unterlage dafür bei dem starken Hervortreten des
Versicherungswesens in den versicherungsgesetzlichen Bestimmungen fanden, die
u. a. für Preußen das Strafgesetzbuch vom 14. April 1851 in H 340 6, insbesondre
das Versicherungsgesetz vom 17, Mai 1853 darboten, und die Reichsgesetzgebung
durch § 360 9 des Reichsstrafgesetzbuches ausdrücklich aufrecht erhalten hatte.

Wenn bei der Übertragung dieser Gesetzesbestimmungen auf die vorge¬
schilderten Verhältnisse mancherlei Mißverständnisse mit untergelaufen sein mögen,
auch von den Gerichten vielfach widersprechende Entscheidungen gefällt worden sind,
so dürfte dies nicht bloß auf die Eigentümlichkeit des dargelegten Entwicklungs-
prozefses, sondern vornehmlich darauf zurückzuführen sein, daß die einschlägige
Gesetzgebung eine überaus verschiedne Auslegung und Anwendung zuläßt.

Da wir uns hier auf die preußische Gesetzgebung beschränken wollen, wird
es namentlich darauf ankommen, klarzumachen, was diese unter "Gesellschaften"
und insbesondre unter "Versicherungsgesellschaften" versteht. Wir behaupten
nämlich, daß die in Rede stehenden Unterstützungsverbände an und für sich als
"erlaubte" Gesellschaften (s.A.L.-R. II. 6, 2 bis 21) dem staatlichen Aufsichts¬
recht und bei Feststellung ihrer Gemeinschädlichkeit der zwangsweisen Schließung
im Aussichtswege unterliegen, aber als gegenseitige "Versichcrungs"-Gesellschaften
nach Maßgabe der vorerwähnten versichernngsgesetzlichen Bestimmungen noch
einer besondern staatlichen Zulassung bedürfen und durch eine solche (nur landes¬
polizeiliche) Bestätigung ihrer Statuten lediglich die Eigenschaft ausdrücklich
erlaubter, d. h. "privilegirter" Gesellschaften (s. A. L.-R. II, 6. 22 bis 24)
-- aber nicht die Korporationsrechte, s. § 25 -- erhalten.

Das Allgemeine Landrecht versteht unter Gesellschaften Verbindungen
mehrerer Personen zu einem gemeinschaftlichen Endzwecke und unterscheidet
zunächst zwischen "Korporation" und "Sozietät" (A. L.-R. II, 6. Z§ 1, 26 ff.
und I. 17. §s 169 ff.).

Die erstere bedeutet einen Personenverband mit veränderlichem Mitglieder¬
bestände und korporativer Verfassung zu fortdauernden gemeinnützigen Zwecken;
ihre Entstehung, Fortdauer und Auflösung ist derart an die Mitwirkung des
Staates gebunden, daß sie vornehmlich dem öffentlichen Rechte angehört.

Die Sozietät dagegen ist eine Personenverbindung mit individuell bestimmtem
Mitgliederbestande und ohne korporative Verfassung zu vorübergehenden eigen¬
nützigen (meist Erwerbs-)Zwecken; sie erheischt keinerlei staatliche Mitwirkung
und gehört durchaus dem Privatrechte an.

Zwischen die Korporation und die Sozietät, von denen die erstere nach
innen und außen, die letztere nach keiner von beiden Seiten eine juristische Person


Sind die heutigen Arbeiterunterstütznngsverbände Versicherungsgesellschaften?

auf die Beteiligten beschränkt bleiben, sondern auch weitere Kreise in Mitleiden¬
schaft ziehen und so das allgemeine Wohl wie den sozialen Frieden gefährden
würde. Unter solchen Umständen war es ganz natürlich, daß die Staatsbehörden
nach einer gesetzlichen Einwirkung auf die fernere Entwicklung dieser Bewegung
strebten und die rechtliche Unterlage dafür bei dem starken Hervortreten des
Versicherungswesens in den versicherungsgesetzlichen Bestimmungen fanden, die
u. a. für Preußen das Strafgesetzbuch vom 14. April 1851 in H 340 6, insbesondre
das Versicherungsgesetz vom 17, Mai 1853 darboten, und die Reichsgesetzgebung
durch § 360 9 des Reichsstrafgesetzbuches ausdrücklich aufrecht erhalten hatte.

Wenn bei der Übertragung dieser Gesetzesbestimmungen auf die vorge¬
schilderten Verhältnisse mancherlei Mißverständnisse mit untergelaufen sein mögen,
auch von den Gerichten vielfach widersprechende Entscheidungen gefällt worden sind,
so dürfte dies nicht bloß auf die Eigentümlichkeit des dargelegten Entwicklungs-
prozefses, sondern vornehmlich darauf zurückzuführen sein, daß die einschlägige
Gesetzgebung eine überaus verschiedne Auslegung und Anwendung zuläßt.

Da wir uns hier auf die preußische Gesetzgebung beschränken wollen, wird
es namentlich darauf ankommen, klarzumachen, was diese unter „Gesellschaften"
und insbesondre unter „Versicherungsgesellschaften" versteht. Wir behaupten
nämlich, daß die in Rede stehenden Unterstützungsverbände an und für sich als
„erlaubte" Gesellschaften (s.A.L.-R. II. 6, 2 bis 21) dem staatlichen Aufsichts¬
recht und bei Feststellung ihrer Gemeinschädlichkeit der zwangsweisen Schließung
im Aussichtswege unterliegen, aber als gegenseitige „Versichcrungs"-Gesellschaften
nach Maßgabe der vorerwähnten versichernngsgesetzlichen Bestimmungen noch
einer besondern staatlichen Zulassung bedürfen und durch eine solche (nur landes¬
polizeiliche) Bestätigung ihrer Statuten lediglich die Eigenschaft ausdrücklich
erlaubter, d. h. „privilegirter" Gesellschaften (s. A. L.-R. II, 6. 22 bis 24)
— aber nicht die Korporationsrechte, s. § 25 — erhalten.

Das Allgemeine Landrecht versteht unter Gesellschaften Verbindungen
mehrerer Personen zu einem gemeinschaftlichen Endzwecke und unterscheidet
zunächst zwischen „Korporation" und „Sozietät" (A. L.-R. II, 6. Z§ 1, 26 ff.
und I. 17. §s 169 ff.).

Die erstere bedeutet einen Personenverband mit veränderlichem Mitglieder¬
bestände und korporativer Verfassung zu fortdauernden gemeinnützigen Zwecken;
ihre Entstehung, Fortdauer und Auflösung ist derart an die Mitwirkung des
Staates gebunden, daß sie vornehmlich dem öffentlichen Rechte angehört.

Die Sozietät dagegen ist eine Personenverbindung mit individuell bestimmtem
Mitgliederbestande und ohne korporative Verfassung zu vorübergehenden eigen¬
nützigen (meist Erwerbs-)Zwecken; sie erheischt keinerlei staatliche Mitwirkung
und gehört durchaus dem Privatrechte an.

Zwischen die Korporation und die Sozietät, von denen die erstere nach
innen und außen, die letztere nach keiner von beiden Seiten eine juristische Person


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/167>, abgerufen am 24.08.2024.