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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ziel hinaus; denn die Zahl der wirklichen Streiter darin dürfte eine Million
nicht sehr überschreiten. Diesem Heere der ersten Linie tritt jedoch die Terri¬
torialarmee zur Seite, welche in 145 Regimenter Infanterie, 36 Regimenter
Kavallerie und 270 Batterien Artillerie zerfällt und im Kriege ungefähr
620000 Mann stark sein soll. Das gesamte, für diesen Fall der Regierung
zur Verfügung stehende Menschenmaterial wird von dem Verfasser der genannten
Schrift auf 4108655 Mann angeschlagen. Das ist in der That eine ungeheure
Zahl, namentlich wenn man damit die Thatsache zusammenhält, daß Frankreich
nur etwa 39 Millionen Einwohner hat. Man darf aber dabei nicht außer
Acht lassen, daß Barthelemy seine Schrift zur Beruhigung und Ermutigung
der Franzosen in sehr bewegter Zeit schrieb, wo ein Krieg mit dem deutschen
Reiche vor der Thür zu stehen schien, und daß der Kriegsminister, in dessen
Auftrage und mit dessen Unterstützung er die militärischen Kräfte des Landes
berechnete, Boulanger hieß. Ferner hat sein Buch, wie schon bemerkt worden
ist, in wichtigen Beziehungen Widerlegung durch Fachleute erfahren, unter deren
Prüfung das erwähnte wehrfähige Menschenmaterial Frankreichs sich auf
höchstens Millionen verminderte. Auch das ist noch sehr viel gegenüber
unsern 2^/2 Millionen. Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, daß jene
31/2 Millionen Wehrfähige zum großen Teile noch keine Soldaten sein werden,
wenn der Krieg ausbricht, vielmehr erst welche werden müssen, während die
2^/z Millionen des deutschen Kriegsheeres, die dann aufmarschiren können, mit
viel geringern Ausnahmen mehr oder minder lange Zeit militärische Übung und
Gewöhnung durchgemacht haben werden. Überhaupt hat die Masse hier gewiß
ihre Bedeutung, nicht minder aber auch die Tüchtigkeit, wie Gambetta 1870
und 1871 erfuhr, als er seine Volksheere gleichsam aus der Erde stampfte und
sie fast so rasch geschlagen, zurückgeworfen und zerstreut oder in die Gefangen¬
schaft abgeführt sah, als sie mit den viel weniger zahlreichen, aber kriegs-
tüchiigereu Gegnern zusammenstießen. Vieles ist seitdem in Frankreich anders
und besser geworden, doch gilt hier auch heute noch der Satz, daß nicht sowohl die
Zahl eines Heeres dessen Wert bestimmt, als der Geist, der ihm innewohnt und
es bewegt, die Zucht und die Führung. In dieser Hinsicht läßt die französische
Armee verglichen mit der deutschen offenbar noch jetzt nicht wenig vermissen,
obwohl man sich viel Mühe gegeben hat, sie zu heben, und wie die Dinge liegen,
ist anch nicht zu erwarten, daß es sich damit in der nächsten Zukunft viel bessern
wird. Unstreitig haben die Franzosen mit großer Opferwilligkeit sich bemüht,
ihre im Kriege mit Deutschland fast völlig vernichtete Kriegsmacht wieder her¬
zustellen und auf achtunggebietenden Fuß zu bringen, und unleugbar dürfen sie
in vieler Hinsicht mit Befriedigung auf das blicken, was hier in kurzer Zeit
geleistet worden ist. Aber gerade die kurze Zeit, in der man eine Armee, ge¬
eignet zur Wiedergewinnung der Verlornen Provinzen und des geschwundenen
Ansehens in Europa, zu schaffen suchte, war vom Übel. Die Neubildung mußte


Ziel hinaus; denn die Zahl der wirklichen Streiter darin dürfte eine Million
nicht sehr überschreiten. Diesem Heere der ersten Linie tritt jedoch die Terri¬
torialarmee zur Seite, welche in 145 Regimenter Infanterie, 36 Regimenter
Kavallerie und 270 Batterien Artillerie zerfällt und im Kriege ungefähr
620000 Mann stark sein soll. Das gesamte, für diesen Fall der Regierung
zur Verfügung stehende Menschenmaterial wird von dem Verfasser der genannten
Schrift auf 4108655 Mann angeschlagen. Das ist in der That eine ungeheure
Zahl, namentlich wenn man damit die Thatsache zusammenhält, daß Frankreich
nur etwa 39 Millionen Einwohner hat. Man darf aber dabei nicht außer
Acht lassen, daß Barthelemy seine Schrift zur Beruhigung und Ermutigung
der Franzosen in sehr bewegter Zeit schrieb, wo ein Krieg mit dem deutschen
Reiche vor der Thür zu stehen schien, und daß der Kriegsminister, in dessen
Auftrage und mit dessen Unterstützung er die militärischen Kräfte des Landes
berechnete, Boulanger hieß. Ferner hat sein Buch, wie schon bemerkt worden
ist, in wichtigen Beziehungen Widerlegung durch Fachleute erfahren, unter deren
Prüfung das erwähnte wehrfähige Menschenmaterial Frankreichs sich auf
höchstens Millionen verminderte. Auch das ist noch sehr viel gegenüber
unsern 2^/2 Millionen. Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, daß jene
31/2 Millionen Wehrfähige zum großen Teile noch keine Soldaten sein werden,
wenn der Krieg ausbricht, vielmehr erst welche werden müssen, während die
2^/z Millionen des deutschen Kriegsheeres, die dann aufmarschiren können, mit
viel geringern Ausnahmen mehr oder minder lange Zeit militärische Übung und
Gewöhnung durchgemacht haben werden. Überhaupt hat die Masse hier gewiß
ihre Bedeutung, nicht minder aber auch die Tüchtigkeit, wie Gambetta 1870
und 1871 erfuhr, als er seine Volksheere gleichsam aus der Erde stampfte und
sie fast so rasch geschlagen, zurückgeworfen und zerstreut oder in die Gefangen¬
schaft abgeführt sah, als sie mit den viel weniger zahlreichen, aber kriegs-
tüchiigereu Gegnern zusammenstießen. Vieles ist seitdem in Frankreich anders
und besser geworden, doch gilt hier auch heute noch der Satz, daß nicht sowohl die
Zahl eines Heeres dessen Wert bestimmt, als der Geist, der ihm innewohnt und
es bewegt, die Zucht und die Führung. In dieser Hinsicht läßt die französische
Armee verglichen mit der deutschen offenbar noch jetzt nicht wenig vermissen,
obwohl man sich viel Mühe gegeben hat, sie zu heben, und wie die Dinge liegen,
ist anch nicht zu erwarten, daß es sich damit in der nächsten Zukunft viel bessern
wird. Unstreitig haben die Franzosen mit großer Opferwilligkeit sich bemüht,
ihre im Kriege mit Deutschland fast völlig vernichtete Kriegsmacht wieder her¬
zustellen und auf achtunggebietenden Fuß zu bringen, und unleugbar dürfen sie
in vieler Hinsicht mit Befriedigung auf das blicken, was hier in kurzer Zeit
geleistet worden ist. Aber gerade die kurze Zeit, in der man eine Armee, ge¬
eignet zur Wiedergewinnung der Verlornen Provinzen und des geschwundenen
Ansehens in Europa, zu schaffen suchte, war vom Übel. Die Neubildung mußte


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[0159] Ziel hinaus; denn die Zahl der wirklichen Streiter darin dürfte eine Million nicht sehr überschreiten. Diesem Heere der ersten Linie tritt jedoch die Terri¬ torialarmee zur Seite, welche in 145 Regimenter Infanterie, 36 Regimenter Kavallerie und 270 Batterien Artillerie zerfällt und im Kriege ungefähr 620000 Mann stark sein soll. Das gesamte, für diesen Fall der Regierung zur Verfügung stehende Menschenmaterial wird von dem Verfasser der genannten Schrift auf 4108655 Mann angeschlagen. Das ist in der That eine ungeheure Zahl, namentlich wenn man damit die Thatsache zusammenhält, daß Frankreich nur etwa 39 Millionen Einwohner hat. Man darf aber dabei nicht außer Acht lassen, daß Barthelemy seine Schrift zur Beruhigung und Ermutigung der Franzosen in sehr bewegter Zeit schrieb, wo ein Krieg mit dem deutschen Reiche vor der Thür zu stehen schien, und daß der Kriegsminister, in dessen Auftrage und mit dessen Unterstützung er die militärischen Kräfte des Landes berechnete, Boulanger hieß. Ferner hat sein Buch, wie schon bemerkt worden ist, in wichtigen Beziehungen Widerlegung durch Fachleute erfahren, unter deren Prüfung das erwähnte wehrfähige Menschenmaterial Frankreichs sich auf höchstens Millionen verminderte. Auch das ist noch sehr viel gegenüber unsern 2^/2 Millionen. Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, daß jene 31/2 Millionen Wehrfähige zum großen Teile noch keine Soldaten sein werden, wenn der Krieg ausbricht, vielmehr erst welche werden müssen, während die 2^/z Millionen des deutschen Kriegsheeres, die dann aufmarschiren können, mit viel geringern Ausnahmen mehr oder minder lange Zeit militärische Übung und Gewöhnung durchgemacht haben werden. Überhaupt hat die Masse hier gewiß ihre Bedeutung, nicht minder aber auch die Tüchtigkeit, wie Gambetta 1870 und 1871 erfuhr, als er seine Volksheere gleichsam aus der Erde stampfte und sie fast so rasch geschlagen, zurückgeworfen und zerstreut oder in die Gefangen¬ schaft abgeführt sah, als sie mit den viel weniger zahlreichen, aber kriegs- tüchiigereu Gegnern zusammenstießen. Vieles ist seitdem in Frankreich anders und besser geworden, doch gilt hier auch heute noch der Satz, daß nicht sowohl die Zahl eines Heeres dessen Wert bestimmt, als der Geist, der ihm innewohnt und es bewegt, die Zucht und die Führung. In dieser Hinsicht läßt die französische Armee verglichen mit der deutschen offenbar noch jetzt nicht wenig vermissen, obwohl man sich viel Mühe gegeben hat, sie zu heben, und wie die Dinge liegen, ist anch nicht zu erwarten, daß es sich damit in der nächsten Zukunft viel bessern wird. Unstreitig haben die Franzosen mit großer Opferwilligkeit sich bemüht, ihre im Kriege mit Deutschland fast völlig vernichtete Kriegsmacht wieder her¬ zustellen und auf achtunggebietenden Fuß zu bringen, und unleugbar dürfen sie in vieler Hinsicht mit Befriedigung auf das blicken, was hier in kurzer Zeit geleistet worden ist. Aber gerade die kurze Zeit, in der man eine Armee, ge¬ eignet zur Wiedergewinnung der Verlornen Provinzen und des geschwundenen Ansehens in Europa, zu schaffen suchte, war vom Übel. Die Neubildung mußte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/159>, abgerufen am 22.07.2024.