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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Die Kriegsmacht des Lriedensbundes und die seiner Gegner.

Teil derselben würde uns niemals gefährlich werden können. Nußland würde
bei einem Kriege mit europäischen Mächten immer nur die Truppen zu ver¬
wenden in der Lage sein, die es in Europa stehen hat. Auch die asiatischen
Heereskörper dazu heranzuziehen, verbietet ihm erstens die Entlegenheit der
Provinzen, wo diese ausgehoben werden und ihre Standquartiere und Sammel¬
plätze haben, zweitens die Unmöglichkeit, diese Provinzen von Verteidigern gegen
natürliche Feinde zu entblößen, die sich jetzt still verhalten, aber durch einen
Krieg im Westen aller Wahrscheinlichkeit nach sofort bewogen werden würden,
zu den Waffen zu greifen und sie gegen ihre einstigen Besieger zu kehren. Man
vergegenwärtige sich die unermeßlichen Räume zwischen den sibirischen Strömen
und Seen, zwischen Ann und Syr Darja, zwischen Transkaukasien einerseits
und dem Weichsellande anderseits. Man erinnere sich, daß diese Räume zum
großen Teile Steppe und Wüste sind und der Mittel zu rascher Beförderung
von Armeen fast ausnahmslos entbehren. Man denke endlich daran, daß Ru߬
land in Asien, in der Türkei, in Persien, in den Charaden von Turkestan, in
Afghanistan und in China erst kürzlich besiegte Unterthanen oder Nachbarn hat,
die nur im Hinblick auf die vor ihnen bereit stehenden Streitkräfte des Zaren
gute Unterthanen oder Nachbarn sind. Wir brauchen also bei der folgenden
Übersicht nur die europäische Hälfte der russischen Wehrkraft in Rechnung zu
bringen, und auch dabei werden wir bemerken, daß manches gefährlicher scheint,
als es in Wirklichkeit ist.

In Nußland ist 1874 die allgemeine Wehrpflicht gesetzlich eingeführt
worden, und zwar erstreckt sie sich hier vom vollendeten zwanzigsten bis zum
vierzigsten Lebensjahre. Die Infanterie und Fußartillerie dienen fünf, die Ka¬
vallerie, die reitende Artillerie, die Genietruppen dienen sechs Jahre bei der
Fahne. Dann treten die Leute in die Reserve ein, in welcher der Infanterist und
der Fnßartillerist zehn, der Kavallerist, der reitende Artillerist und der Geniesvldcit
neun Jahre verbleibt, um dann für weitere fünf Jahre der Reichswehr (Opvl-
tschenje) anzugehören, die unserm Landsturme zu vergleichen ist, und die man je
nach Bedarf in drei Aufgeboten, jedes 150 Bataillone und 34 Schwadronen
stark, zu den Waffen zu rufen beabsichtigt, wenn es der Krieg erfordert; indes
ist für eine Formation dieser Truppenkörper in Friedenszeiten noch sehr wenig
gesorgt worden. Das Jahr liefert durchschnittlich 850 000 junge Männer,
welche das wehrpflichtige Alter erreicht haben, und davon werden rund 190 000
in das stehende Heer eingestellt, während ungefähr 45 000 Mann, zur Er¬
gänzung bestimmt, eine nur über neun Monate sich erstreckende Ausbildung er¬
halten. Wer den Besitz eines gewissen Bildungsgrades nachzuweisen vermag,
dem wird Verkürzung der Dienstzeit bei der Fahne um ein bis vier Jahre
gewährt. Die reguläre Armee zerfällt in Feld-, Reserve-, Ersatz- und Lokal¬
truppen. Die Infanterie derselben ist in 192 Linienregimenter von je 4 Ba¬
taillonen und 56 Bataillone Schützen eingeteilt und soll eine Kriegsstärke von


Die Kriegsmacht des Lriedensbundes und die seiner Gegner.

Teil derselben würde uns niemals gefährlich werden können. Nußland würde
bei einem Kriege mit europäischen Mächten immer nur die Truppen zu ver¬
wenden in der Lage sein, die es in Europa stehen hat. Auch die asiatischen
Heereskörper dazu heranzuziehen, verbietet ihm erstens die Entlegenheit der
Provinzen, wo diese ausgehoben werden und ihre Standquartiere und Sammel¬
plätze haben, zweitens die Unmöglichkeit, diese Provinzen von Verteidigern gegen
natürliche Feinde zu entblößen, die sich jetzt still verhalten, aber durch einen
Krieg im Westen aller Wahrscheinlichkeit nach sofort bewogen werden würden,
zu den Waffen zu greifen und sie gegen ihre einstigen Besieger zu kehren. Man
vergegenwärtige sich die unermeßlichen Räume zwischen den sibirischen Strömen
und Seen, zwischen Ann und Syr Darja, zwischen Transkaukasien einerseits
und dem Weichsellande anderseits. Man erinnere sich, daß diese Räume zum
großen Teile Steppe und Wüste sind und der Mittel zu rascher Beförderung
von Armeen fast ausnahmslos entbehren. Man denke endlich daran, daß Ru߬
land in Asien, in der Türkei, in Persien, in den Charaden von Turkestan, in
Afghanistan und in China erst kürzlich besiegte Unterthanen oder Nachbarn hat,
die nur im Hinblick auf die vor ihnen bereit stehenden Streitkräfte des Zaren
gute Unterthanen oder Nachbarn sind. Wir brauchen also bei der folgenden
Übersicht nur die europäische Hälfte der russischen Wehrkraft in Rechnung zu
bringen, und auch dabei werden wir bemerken, daß manches gefährlicher scheint,
als es in Wirklichkeit ist.

In Nußland ist 1874 die allgemeine Wehrpflicht gesetzlich eingeführt
worden, und zwar erstreckt sie sich hier vom vollendeten zwanzigsten bis zum
vierzigsten Lebensjahre. Die Infanterie und Fußartillerie dienen fünf, die Ka¬
vallerie, die reitende Artillerie, die Genietruppen dienen sechs Jahre bei der
Fahne. Dann treten die Leute in die Reserve ein, in welcher der Infanterist und
der Fnßartillerist zehn, der Kavallerist, der reitende Artillerist und der Geniesvldcit
neun Jahre verbleibt, um dann für weitere fünf Jahre der Reichswehr (Opvl-
tschenje) anzugehören, die unserm Landsturme zu vergleichen ist, und die man je
nach Bedarf in drei Aufgeboten, jedes 150 Bataillone und 34 Schwadronen
stark, zu den Waffen zu rufen beabsichtigt, wenn es der Krieg erfordert; indes
ist für eine Formation dieser Truppenkörper in Friedenszeiten noch sehr wenig
gesorgt worden. Das Jahr liefert durchschnittlich 850 000 junge Männer,
welche das wehrpflichtige Alter erreicht haben, und davon werden rund 190 000
in das stehende Heer eingestellt, während ungefähr 45 000 Mann, zur Er¬
gänzung bestimmt, eine nur über neun Monate sich erstreckende Ausbildung er¬
halten. Wer den Besitz eines gewissen Bildungsgrades nachzuweisen vermag,
dem wird Verkürzung der Dienstzeit bei der Fahne um ein bis vier Jahre
gewährt. Die reguläre Armee zerfällt in Feld-, Reserve-, Ersatz- und Lokal¬
truppen. Die Infanterie derselben ist in 192 Linienregimenter von je 4 Ba¬
taillonen und 56 Bataillone Schützen eingeteilt und soll eine Kriegsstärke von


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[0154] Die Kriegsmacht des Lriedensbundes und die seiner Gegner. Teil derselben würde uns niemals gefährlich werden können. Nußland würde bei einem Kriege mit europäischen Mächten immer nur die Truppen zu ver¬ wenden in der Lage sein, die es in Europa stehen hat. Auch die asiatischen Heereskörper dazu heranzuziehen, verbietet ihm erstens die Entlegenheit der Provinzen, wo diese ausgehoben werden und ihre Standquartiere und Sammel¬ plätze haben, zweitens die Unmöglichkeit, diese Provinzen von Verteidigern gegen natürliche Feinde zu entblößen, die sich jetzt still verhalten, aber durch einen Krieg im Westen aller Wahrscheinlichkeit nach sofort bewogen werden würden, zu den Waffen zu greifen und sie gegen ihre einstigen Besieger zu kehren. Man vergegenwärtige sich die unermeßlichen Räume zwischen den sibirischen Strömen und Seen, zwischen Ann und Syr Darja, zwischen Transkaukasien einerseits und dem Weichsellande anderseits. Man erinnere sich, daß diese Räume zum großen Teile Steppe und Wüste sind und der Mittel zu rascher Beförderung von Armeen fast ausnahmslos entbehren. Man denke endlich daran, daß Ru߬ land in Asien, in der Türkei, in Persien, in den Charaden von Turkestan, in Afghanistan und in China erst kürzlich besiegte Unterthanen oder Nachbarn hat, die nur im Hinblick auf die vor ihnen bereit stehenden Streitkräfte des Zaren gute Unterthanen oder Nachbarn sind. Wir brauchen also bei der folgenden Übersicht nur die europäische Hälfte der russischen Wehrkraft in Rechnung zu bringen, und auch dabei werden wir bemerken, daß manches gefährlicher scheint, als es in Wirklichkeit ist. In Nußland ist 1874 die allgemeine Wehrpflicht gesetzlich eingeführt worden, und zwar erstreckt sie sich hier vom vollendeten zwanzigsten bis zum vierzigsten Lebensjahre. Die Infanterie und Fußartillerie dienen fünf, die Ka¬ vallerie, die reitende Artillerie, die Genietruppen dienen sechs Jahre bei der Fahne. Dann treten die Leute in die Reserve ein, in welcher der Infanterist und der Fnßartillerist zehn, der Kavallerist, der reitende Artillerist und der Geniesvldcit neun Jahre verbleibt, um dann für weitere fünf Jahre der Reichswehr (Opvl- tschenje) anzugehören, die unserm Landsturme zu vergleichen ist, und die man je nach Bedarf in drei Aufgeboten, jedes 150 Bataillone und 34 Schwadronen stark, zu den Waffen zu rufen beabsichtigt, wenn es der Krieg erfordert; indes ist für eine Formation dieser Truppenkörper in Friedenszeiten noch sehr wenig gesorgt worden. Das Jahr liefert durchschnittlich 850 000 junge Männer, welche das wehrpflichtige Alter erreicht haben, und davon werden rund 190 000 in das stehende Heer eingestellt, während ungefähr 45 000 Mann, zur Er¬ gänzung bestimmt, eine nur über neun Monate sich erstreckende Ausbildung er¬ halten. Wer den Besitz eines gewissen Bildungsgrades nachzuweisen vermag, dem wird Verkürzung der Dienstzeit bei der Fahne um ein bis vier Jahre gewährt. Die reguläre Armee zerfällt in Feld-, Reserve-, Ersatz- und Lokal¬ truppen. Die Infanterie derselben ist in 192 Linienregimenter von je 4 Ba¬ taillonen und 56 Bataillone Schützen eingeteilt und soll eine Kriegsstärke von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/154>, abgerufen am 24.08.2024.