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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

scheint, um ihnen zeigen zu können, wie die deutsche Cultur, obschon weit
jünger, doch der ihren nun ebenbürtig, Achtung und Schonung fordern könne.
Denn politisch ist es gar nicht gemeint, es heißt dann vielmehr geradezu:
"Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel, und doch bilden
sich Letztere gerade das Umgekehrte ein," wunderlicher, schroffster Widerspruch
gegen die, die noch an Deutschland glaubten und es eben damit retteten, und
doch zugleich wunderbarer Umschlag von der Geringschätzung ins gerade Gegen¬
teil. Dann aber als sein Trost und seine Hoffnung: "Verpflanzt und zerstreut
wie die Juden in alle Welt müssen die Deutschen werden, um die Masse des
Guten ganz und zum Heil aller Nationen zu entwickeln, die in ihnen liegt."
Wie die Juden! ihm kam also die Lage Deutschlands selbst vor, wie die des
Judenstaates nach der Zerstörung von Jerusalem. So stand es da in einem
Geiste, wie Goethes, der so hoch und weit über die Weite der Welt hinblickte.
Er sucht sich ebeu auch den Trost in der Weite, daß die Deutschen doch einen
Wert für die Welt behielten -- als Völkerdünger, wie man das nachher genannt
hat. Denn es war in der Geschichte schon einmal dagewesen, am Ende des
verrottenden Altertums, als Beginn der deutschen Geschichte, und sollte nun
ihr Ende werden! Wir aus der Zeit vor 1848 haben an dem Gedanken noch
oft kauen müssen, so lag er in der Luft (Goethes Äußerung ist erst 1870 be¬
kannt geworden), wenn auch nun mehr mit Zorn oder Spott behandelt. Wir
dachten zum letzten Trost an die alten Griechen, die am Ende ihrer nationalen
Geschichte so der Cnlturdünger der Welt wurden, wie wir uns auch für das
Misverhältnis zwischen Preußen und Österreich Trost suchten bei dem Ver¬
hältnis zwischen Athen und Sparta. Was übrigens Goethe da meinte als
Trost beim Verzichte auf ein Vaterland, das geschieht ja nun doch wirklich in
alle Weite, wie es nach dem Osten schon seit dem Mittelalter im Gange war,
aber es geschieht neben der Wiederherstellung des Mutterlandes, und beide
Arbeiten fördern einander wechselseitig, die in der weiten Welt und die in der
Heimat. Wie aber Goethe später, nach der vorläufigen Wiederherstellung durch
die Freiheitskriege, von den Deutschen ganz anders dachte, davon auch eine
Probe aus den Sprüchen in Prosa (Ur. 512): "Der Deutsche läuft keine größere
Gefahr, als sich mit und an seinen Nachbarn zu steigern. Es ist vielleicht keine
Nation geeigneter, sich aus sich selbst zu entwickeln, deswegen es ihr zum größten
Vorteil gereichte, daß die Außenwelt von ihr so spät Notiz nahm," also die
Deutschen, nun auch als Nation anerkannt, ganz auf sich selbst gestellt, sich
selbst genug für alle Entwickelung der Zukunft, während in jener Äußerung von
1808 ihr Heil und Wert im zersplitternden Aufgehen in den andern Völkern
gesucht wurde. Es ist freilich von Litteratur und Kunst gemeint, aber
ein mutiges hohes Prophetenwort, das wir nun auch politisch anzuwenden
allen Anlaß haben, wie es wissenschaftlich genommen auch längst im besten
Gange ist.


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

scheint, um ihnen zeigen zu können, wie die deutsche Cultur, obschon weit
jünger, doch der ihren nun ebenbürtig, Achtung und Schonung fordern könne.
Denn politisch ist es gar nicht gemeint, es heißt dann vielmehr geradezu:
„Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel, und doch bilden
sich Letztere gerade das Umgekehrte ein," wunderlicher, schroffster Widerspruch
gegen die, die noch an Deutschland glaubten und es eben damit retteten, und
doch zugleich wunderbarer Umschlag von der Geringschätzung ins gerade Gegen¬
teil. Dann aber als sein Trost und seine Hoffnung: „Verpflanzt und zerstreut
wie die Juden in alle Welt müssen die Deutschen werden, um die Masse des
Guten ganz und zum Heil aller Nationen zu entwickeln, die in ihnen liegt."
Wie die Juden! ihm kam also die Lage Deutschlands selbst vor, wie die des
Judenstaates nach der Zerstörung von Jerusalem. So stand es da in einem
Geiste, wie Goethes, der so hoch und weit über die Weite der Welt hinblickte.
Er sucht sich ebeu auch den Trost in der Weite, daß die Deutschen doch einen
Wert für die Welt behielten — als Völkerdünger, wie man das nachher genannt
hat. Denn es war in der Geschichte schon einmal dagewesen, am Ende des
verrottenden Altertums, als Beginn der deutschen Geschichte, und sollte nun
ihr Ende werden! Wir aus der Zeit vor 1848 haben an dem Gedanken noch
oft kauen müssen, so lag er in der Luft (Goethes Äußerung ist erst 1870 be¬
kannt geworden), wenn auch nun mehr mit Zorn oder Spott behandelt. Wir
dachten zum letzten Trost an die alten Griechen, die am Ende ihrer nationalen
Geschichte so der Cnlturdünger der Welt wurden, wie wir uns auch für das
Misverhältnis zwischen Preußen und Österreich Trost suchten bei dem Ver¬
hältnis zwischen Athen und Sparta. Was übrigens Goethe da meinte als
Trost beim Verzichte auf ein Vaterland, das geschieht ja nun doch wirklich in
alle Weite, wie es nach dem Osten schon seit dem Mittelalter im Gange war,
aber es geschieht neben der Wiederherstellung des Mutterlandes, und beide
Arbeiten fördern einander wechselseitig, die in der weiten Welt und die in der
Heimat. Wie aber Goethe später, nach der vorläufigen Wiederherstellung durch
die Freiheitskriege, von den Deutschen ganz anders dachte, davon auch eine
Probe aus den Sprüchen in Prosa (Ur. 512): „Der Deutsche läuft keine größere
Gefahr, als sich mit und an seinen Nachbarn zu steigern. Es ist vielleicht keine
Nation geeigneter, sich aus sich selbst zu entwickeln, deswegen es ihr zum größten
Vorteil gereichte, daß die Außenwelt von ihr so spät Notiz nahm," also die
Deutschen, nun auch als Nation anerkannt, ganz auf sich selbst gestellt, sich
selbst genug für alle Entwickelung der Zukunft, während in jener Äußerung von
1808 ihr Heil und Wert im zersplitternden Aufgehen in den andern Völkern
gesucht wurde. Es ist freilich von Litteratur und Kunst gemeint, aber
ein mutiges hohes Prophetenwort, das wir nun auch politisch anzuwenden
allen Anlaß haben, wie es wissenschaftlich genommen auch längst im besten
Gange ist.


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[0136] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. scheint, um ihnen zeigen zu können, wie die deutsche Cultur, obschon weit jünger, doch der ihren nun ebenbürtig, Achtung und Schonung fordern könne. Denn politisch ist es gar nicht gemeint, es heißt dann vielmehr geradezu: „Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel, und doch bilden sich Letztere gerade das Umgekehrte ein," wunderlicher, schroffster Widerspruch gegen die, die noch an Deutschland glaubten und es eben damit retteten, und doch zugleich wunderbarer Umschlag von der Geringschätzung ins gerade Gegen¬ teil. Dann aber als sein Trost und seine Hoffnung: „Verpflanzt und zerstreut wie die Juden in alle Welt müssen die Deutschen werden, um die Masse des Guten ganz und zum Heil aller Nationen zu entwickeln, die in ihnen liegt." Wie die Juden! ihm kam also die Lage Deutschlands selbst vor, wie die des Judenstaates nach der Zerstörung von Jerusalem. So stand es da in einem Geiste, wie Goethes, der so hoch und weit über die Weite der Welt hinblickte. Er sucht sich ebeu auch den Trost in der Weite, daß die Deutschen doch einen Wert für die Welt behielten — als Völkerdünger, wie man das nachher genannt hat. Denn es war in der Geschichte schon einmal dagewesen, am Ende des verrottenden Altertums, als Beginn der deutschen Geschichte, und sollte nun ihr Ende werden! Wir aus der Zeit vor 1848 haben an dem Gedanken noch oft kauen müssen, so lag er in der Luft (Goethes Äußerung ist erst 1870 be¬ kannt geworden), wenn auch nun mehr mit Zorn oder Spott behandelt. Wir dachten zum letzten Trost an die alten Griechen, die am Ende ihrer nationalen Geschichte so der Cnlturdünger der Welt wurden, wie wir uns auch für das Misverhältnis zwischen Preußen und Österreich Trost suchten bei dem Ver¬ hältnis zwischen Athen und Sparta. Was übrigens Goethe da meinte als Trost beim Verzichte auf ein Vaterland, das geschieht ja nun doch wirklich in alle Weite, wie es nach dem Osten schon seit dem Mittelalter im Gange war, aber es geschieht neben der Wiederherstellung des Mutterlandes, und beide Arbeiten fördern einander wechselseitig, die in der weiten Welt und die in der Heimat. Wie aber Goethe später, nach der vorläufigen Wiederherstellung durch die Freiheitskriege, von den Deutschen ganz anders dachte, davon auch eine Probe aus den Sprüchen in Prosa (Ur. 512): „Der Deutsche läuft keine größere Gefahr, als sich mit und an seinen Nachbarn zu steigern. Es ist vielleicht keine Nation geeigneter, sich aus sich selbst zu entwickeln, deswegen es ihr zum größten Vorteil gereichte, daß die Außenwelt von ihr so spät Notiz nahm," also die Deutschen, nun auch als Nation anerkannt, ganz auf sich selbst gestellt, sich selbst genug für alle Entwickelung der Zukunft, während in jener Äußerung von 1808 ihr Heil und Wert im zersplitternden Aufgehen in den andern Völkern gesucht wurde. Es ist freilich von Litteratur und Kunst gemeint, aber ein mutiges hohes Prophetenwort, das wir nun auch politisch anzuwenden allen Anlaß haben, wie es wissenschaftlich genommen auch längst im besten Gange ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/136>, abgerufen am 22.07.2024.