Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Herr Hinrichsen und sein litterarisches Deutschland.

handelten in einem geradezu lächerlichen Mißverhältnis, die Bedeutung des
einzelnen kann, wie der flüchtigste Vergleich zeigt, nicht zum Maßstabe gedient
haben, und so muß man von vornherein die Aufnahme ganzer Reihen von
Namen als eine nur zufällige oder vollkommen willkürliche erachten.

Eine gewisse, aber mit der des Brümmcrschen Dichterlexikons nicht zu ver¬
gleichende Vollständigkeit versucht der Herausgeber auf dem Gebiete der schönen
Litteratur zu erzielen. Das "Litterarische Deutschland" mit seiner Flut von
"Dichtern" und "Dichterinnen", die von Jugend auf den "Drang" gespürt haben,
wird jene naiven Gemüter höchlich befriedigen, die den Quell der Poesie in
unsrer Zeit vertrocknet und das heilige Feuer erloschen wähnten. Bei ernstern
und am Leben und Gedeihen unsrer Litteratur, namentlich unsrer poetischen
Litteratur, wahren Anteil empfindenden Menschen können dreiviertel der von
Eitelkeit und Selbstgefälligkeit strotzenden, das nichtige zum wichtigen, das
einfache Erlebnis zum Ereignis aufbauschenden autobiographischen Aufzeich¬
nungen nur ein Kopfschütteln hervorrufen, und man muß über eine Redaktion
erstaunen, die sich in der Vorrede darauf beruft, daß sie "den gebotenen Stoff
selbstverständlich nicht stets in seiner ganzen oft unmöglichen Breite habe ver¬
wenden können," aber dabei Dinge stehen läßt, die im Interesse der Berücksich¬
tigten in den Papierkorb gehört hätten. Der Herausgeber erblickt eine "reizvolle
Mannigfaltigkeit" in den grundverschiedenen Mitteilungen und hat es nicht als seines
Amtes erachtet, "eingehende Kritik zu üben." Da liegt denn die Frage nahe,
ob Herr Hinrichsen in der That glaubt, daß literarhistorische Hand- und Nach-
schlagebüchcr, auch wenn sie "Momcutsphotographicn" sind, der Selbstüber¬
schätzung, der blöden Urteilslosigkeit dilcttirender Versmacher und Blaustrümpfe
zu dienen haben, ob er meint, daß der Herausgeber eines Werkes wie das
"Litterarische Deutschland," schlechthin gar keine Verantwortlichkeit trage? Unsre
Litteratur krankt an nichts Schlimmerem, als an der Verwischung aller Unter¬
schiede, an der völligen Gleichstellung origineller schöpferischer Kraft und arm¬
seliger Nachahmung, ernster künstlerischer Arbeit und flacher Vielschreiberei, und
dies Unheil soll nun nicht bloß durch das Vermischte der Zeitungen schwirren,
sondern an Stellen verewigt werden, die wenigstens das Aushängeschild ernster
Absicht und ernster Kritik tragen!

Es ist schier unglaublich, was nach der bezeichneten Richtung hin uns alles
in diesem Buche aufgetischt wird, was der Herausgeber hat durchgehen lasse".
Da wird von einem Herrn Angelrodt in Nordhausen erzählt, daß er, weil
Freunde seine Feldpostbriefe veröffentlichen ließen, "unwillkürlich mit der Presse
in Bertthrnng gekommen" sei und "die Kritik" der öffentlichen Theatcraufführungen
übernommen habe! Da wird von der Freifrau Karolina von Bartenstein, die zwei
kleine Novellen und ein Gedichtbändchen "Seelenblicke" verfaßt hat, wörtlich be¬
richtet: "Mit Karolina von Bartenstein erlischt ihr Name, da sie die (!) letzte weib¬
liche Sprosse (!) des Geschlechts ist, der letzte männliche Sproß warder verstorbene


Herr Hinrichsen und sein litterarisches Deutschland.

handelten in einem geradezu lächerlichen Mißverhältnis, die Bedeutung des
einzelnen kann, wie der flüchtigste Vergleich zeigt, nicht zum Maßstabe gedient
haben, und so muß man von vornherein die Aufnahme ganzer Reihen von
Namen als eine nur zufällige oder vollkommen willkürliche erachten.

Eine gewisse, aber mit der des Brümmcrschen Dichterlexikons nicht zu ver¬
gleichende Vollständigkeit versucht der Herausgeber auf dem Gebiete der schönen
Litteratur zu erzielen. Das „Litterarische Deutschland" mit seiner Flut von
„Dichtern" und „Dichterinnen", die von Jugend auf den „Drang" gespürt haben,
wird jene naiven Gemüter höchlich befriedigen, die den Quell der Poesie in
unsrer Zeit vertrocknet und das heilige Feuer erloschen wähnten. Bei ernstern
und am Leben und Gedeihen unsrer Litteratur, namentlich unsrer poetischen
Litteratur, wahren Anteil empfindenden Menschen können dreiviertel der von
Eitelkeit und Selbstgefälligkeit strotzenden, das nichtige zum wichtigen, das
einfache Erlebnis zum Ereignis aufbauschenden autobiographischen Aufzeich¬
nungen nur ein Kopfschütteln hervorrufen, und man muß über eine Redaktion
erstaunen, die sich in der Vorrede darauf beruft, daß sie „den gebotenen Stoff
selbstverständlich nicht stets in seiner ganzen oft unmöglichen Breite habe ver¬
wenden können," aber dabei Dinge stehen läßt, die im Interesse der Berücksich¬
tigten in den Papierkorb gehört hätten. Der Herausgeber erblickt eine „reizvolle
Mannigfaltigkeit" in den grundverschiedenen Mitteilungen und hat es nicht als seines
Amtes erachtet, „eingehende Kritik zu üben." Da liegt denn die Frage nahe,
ob Herr Hinrichsen in der That glaubt, daß literarhistorische Hand- und Nach-
schlagebüchcr, auch wenn sie „Momcutsphotographicn" sind, der Selbstüber¬
schätzung, der blöden Urteilslosigkeit dilcttirender Versmacher und Blaustrümpfe
zu dienen haben, ob er meint, daß der Herausgeber eines Werkes wie das
„Litterarische Deutschland," schlechthin gar keine Verantwortlichkeit trage? Unsre
Litteratur krankt an nichts Schlimmerem, als an der Verwischung aller Unter¬
schiede, an der völligen Gleichstellung origineller schöpferischer Kraft und arm¬
seliger Nachahmung, ernster künstlerischer Arbeit und flacher Vielschreiberei, und
dies Unheil soll nun nicht bloß durch das Vermischte der Zeitungen schwirren,
sondern an Stellen verewigt werden, die wenigstens das Aushängeschild ernster
Absicht und ernster Kritik tragen!

Es ist schier unglaublich, was nach der bezeichneten Richtung hin uns alles
in diesem Buche aufgetischt wird, was der Herausgeber hat durchgehen lasse».
Da wird von einem Herrn Angelrodt in Nordhausen erzählt, daß er, weil
Freunde seine Feldpostbriefe veröffentlichen ließen, „unwillkürlich mit der Presse
in Bertthrnng gekommen" sei und „die Kritik" der öffentlichen Theatcraufführungen
übernommen habe! Da wird von der Freifrau Karolina von Bartenstein, die zwei
kleine Novellen und ein Gedichtbändchen „Seelenblicke" verfaßt hat, wörtlich be¬
richtet: „Mit Karolina von Bartenstein erlischt ihr Name, da sie die (!) letzte weib¬
liche Sprosse (!) des Geschlechts ist, der letzte männliche Sproß warder verstorbene


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0099" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203534"/>
          <fw type="header" place="top"> Herr Hinrichsen und sein litterarisches Deutschland.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_217" prev="#ID_216"> handelten in einem geradezu lächerlichen Mißverhältnis, die Bedeutung des<lb/>
einzelnen kann, wie der flüchtigste Vergleich zeigt, nicht zum Maßstabe gedient<lb/>
haben, und so muß man von vornherein die Aufnahme ganzer Reihen von<lb/>
Namen als eine nur zufällige oder vollkommen willkürliche erachten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_218"> Eine gewisse, aber mit der des Brümmcrschen Dichterlexikons nicht zu ver¬<lb/>
gleichende Vollständigkeit versucht der Herausgeber auf dem Gebiete der schönen<lb/>
Litteratur zu erzielen. Das &#x201E;Litterarische Deutschland" mit seiner Flut von<lb/>
&#x201E;Dichtern" und &#x201E;Dichterinnen", die von Jugend auf den &#x201E;Drang" gespürt haben,<lb/>
wird jene naiven Gemüter höchlich befriedigen, die den Quell der Poesie in<lb/>
unsrer Zeit vertrocknet und das heilige Feuer erloschen wähnten. Bei ernstern<lb/>
und am Leben und Gedeihen unsrer Litteratur, namentlich unsrer poetischen<lb/>
Litteratur, wahren Anteil empfindenden Menschen können dreiviertel der von<lb/>
Eitelkeit und Selbstgefälligkeit strotzenden, das nichtige zum wichtigen, das<lb/>
einfache Erlebnis zum Ereignis aufbauschenden autobiographischen Aufzeich¬<lb/>
nungen nur ein Kopfschütteln hervorrufen, und man muß über eine Redaktion<lb/>
erstaunen, die sich in der Vorrede darauf beruft, daß sie &#x201E;den gebotenen Stoff<lb/>
selbstverständlich nicht stets in seiner ganzen oft unmöglichen Breite habe ver¬<lb/>
wenden können," aber dabei Dinge stehen läßt, die im Interesse der Berücksich¬<lb/>
tigten in den Papierkorb gehört hätten. Der Herausgeber erblickt eine &#x201E;reizvolle<lb/>
Mannigfaltigkeit" in den grundverschiedenen Mitteilungen und hat es nicht als seines<lb/>
Amtes erachtet, &#x201E;eingehende Kritik zu üben." Da liegt denn die Frage nahe,<lb/>
ob Herr Hinrichsen in der That glaubt, daß literarhistorische Hand- und Nach-<lb/>
schlagebüchcr, auch wenn sie &#x201E;Momcutsphotographicn" sind, der Selbstüber¬<lb/>
schätzung, der blöden Urteilslosigkeit dilcttirender Versmacher und Blaustrümpfe<lb/>
zu dienen haben, ob er meint, daß der Herausgeber eines Werkes wie das<lb/>
&#x201E;Litterarische Deutschland," schlechthin gar keine Verantwortlichkeit trage? Unsre<lb/>
Litteratur krankt an nichts Schlimmerem, als an der Verwischung aller Unter¬<lb/>
schiede, an der völligen Gleichstellung origineller schöpferischer Kraft und arm¬<lb/>
seliger Nachahmung, ernster künstlerischer Arbeit und flacher Vielschreiberei, und<lb/>
dies Unheil soll nun nicht bloß durch das Vermischte der Zeitungen schwirren,<lb/>
sondern an Stellen verewigt werden, die wenigstens das Aushängeschild ernster<lb/>
Absicht und ernster Kritik tragen!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_219" next="#ID_220"> Es ist schier unglaublich, was nach der bezeichneten Richtung hin uns alles<lb/>
in diesem Buche aufgetischt wird, was der Herausgeber hat durchgehen lasse».<lb/>
Da wird von einem Herrn Angelrodt in Nordhausen erzählt, daß er, weil<lb/>
Freunde seine Feldpostbriefe veröffentlichen ließen, &#x201E;unwillkürlich mit der Presse<lb/>
in Bertthrnng gekommen" sei und &#x201E;die Kritik" der öffentlichen Theatcraufführungen<lb/>
übernommen habe! Da wird von der Freifrau Karolina von Bartenstein, die zwei<lb/>
kleine Novellen und ein Gedichtbändchen &#x201E;Seelenblicke" verfaßt hat, wörtlich be¬<lb/>
richtet: &#x201E;Mit Karolina von Bartenstein erlischt ihr Name, da sie die (!) letzte weib¬<lb/>
liche Sprosse (!) des Geschlechts ist, der letzte männliche Sproß warder verstorbene</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0099] Herr Hinrichsen und sein litterarisches Deutschland. handelten in einem geradezu lächerlichen Mißverhältnis, die Bedeutung des einzelnen kann, wie der flüchtigste Vergleich zeigt, nicht zum Maßstabe gedient haben, und so muß man von vornherein die Aufnahme ganzer Reihen von Namen als eine nur zufällige oder vollkommen willkürliche erachten. Eine gewisse, aber mit der des Brümmcrschen Dichterlexikons nicht zu ver¬ gleichende Vollständigkeit versucht der Herausgeber auf dem Gebiete der schönen Litteratur zu erzielen. Das „Litterarische Deutschland" mit seiner Flut von „Dichtern" und „Dichterinnen", die von Jugend auf den „Drang" gespürt haben, wird jene naiven Gemüter höchlich befriedigen, die den Quell der Poesie in unsrer Zeit vertrocknet und das heilige Feuer erloschen wähnten. Bei ernstern und am Leben und Gedeihen unsrer Litteratur, namentlich unsrer poetischen Litteratur, wahren Anteil empfindenden Menschen können dreiviertel der von Eitelkeit und Selbstgefälligkeit strotzenden, das nichtige zum wichtigen, das einfache Erlebnis zum Ereignis aufbauschenden autobiographischen Aufzeich¬ nungen nur ein Kopfschütteln hervorrufen, und man muß über eine Redaktion erstaunen, die sich in der Vorrede darauf beruft, daß sie „den gebotenen Stoff selbstverständlich nicht stets in seiner ganzen oft unmöglichen Breite habe ver¬ wenden können," aber dabei Dinge stehen läßt, die im Interesse der Berücksich¬ tigten in den Papierkorb gehört hätten. Der Herausgeber erblickt eine „reizvolle Mannigfaltigkeit" in den grundverschiedenen Mitteilungen und hat es nicht als seines Amtes erachtet, „eingehende Kritik zu üben." Da liegt denn die Frage nahe, ob Herr Hinrichsen in der That glaubt, daß literarhistorische Hand- und Nach- schlagebüchcr, auch wenn sie „Momcutsphotographicn" sind, der Selbstüber¬ schätzung, der blöden Urteilslosigkeit dilcttirender Versmacher und Blaustrümpfe zu dienen haben, ob er meint, daß der Herausgeber eines Werkes wie das „Litterarische Deutschland," schlechthin gar keine Verantwortlichkeit trage? Unsre Litteratur krankt an nichts Schlimmerem, als an der Verwischung aller Unter¬ schiede, an der völligen Gleichstellung origineller schöpferischer Kraft und arm¬ seliger Nachahmung, ernster künstlerischer Arbeit und flacher Vielschreiberei, und dies Unheil soll nun nicht bloß durch das Vermischte der Zeitungen schwirren, sondern an Stellen verewigt werden, die wenigstens das Aushängeschild ernster Absicht und ernster Kritik tragen! Es ist schier unglaublich, was nach der bezeichneten Richtung hin uns alles in diesem Buche aufgetischt wird, was der Herausgeber hat durchgehen lasse». Da wird von einem Herrn Angelrodt in Nordhausen erzählt, daß er, weil Freunde seine Feldpostbriefe veröffentlichen ließen, „unwillkürlich mit der Presse in Bertthrnng gekommen" sei und „die Kritik" der öffentlichen Theatcraufführungen übernommen habe! Da wird von der Freifrau Karolina von Bartenstein, die zwei kleine Novellen und ein Gedichtbändchen „Seelenblicke" verfaßt hat, wörtlich be¬ richtet: „Mit Karolina von Bartenstein erlischt ihr Name, da sie die (!) letzte weib¬ liche Sprosse (!) des Geschlechts ist, der letzte männliche Sproß warder verstorbene

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/99
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/99>, abgerufen am 22.07.2024.