Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.Werke der Denker und Dichter, ihre Leistungen, aber nicht ihre Namen verstanden. Werke der Denker und Dichter, ihre Leistungen, aber nicht ihre Namen verstanden. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0098" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203533"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_216" prev="#ID_215" next="#ID_217"> Werke der Denker und Dichter, ihre Leistungen, aber nicht ihre Namen verstanden.<lb/> Auch unter den „deutschnationalen Errungenschaften" wird sich jeder vernünftige<lb/> Mensch etwas andres denken, als die Biographien und Autobiographien von viel¬<lb/> leicht anderthalb tausend Schriftstellern, unter denen viele Hunderte sich befinden,<lb/> die nicht in ein litterarisches, sondern in irgend ein Fachlexikon gehören. Herr<lb/> Hinrichsen hat zwar nirgends erklärt, was er unter Denkern versteht, und zählt,<lb/> wie es scheint, alle auf irgend einem wissenschaftlichen Gebiete arbeitenden zu<lb/> diesen Denkern. Auch können wir ihm nicht bestreiten, daß man, um zur Aus¬<lb/> zeichnung im Gebiete des katholischen Kirchenrechts, der Ornithologie oder der<lb/> technischen Chemie zu gelangen, um ein „Handbuch der pharmazeutischen Rezeptir-<lb/> kunst" oder einen „Grundriß der Eisenhüttenkunde" oder eine Preisschrift<lb/> über Maul- und Klauenseuche, Abhandlungen wie „Über die Milben der Bier¬<lb/> filze" oder „Über das Vorkommen der schwarzen Hausratte um Greiz" oder<lb/> „Über die Deklination des Substantivs im niederösterreichischen Dialekt" oder<lb/> über „Das Flügelgeäder der Psociden und seine systematische Bedeutung" zu<lb/> schreiben, denken muß. Der allgemeine Sprachgebrauch aber versteht unter<lb/> „Denkern" etwas andres als noch so verdiente Spczialisien; die bloße Auf¬<lb/> nahme einiger hundert Fachschriftsteller, denen gegenüber viele hundert andre,<lb/> nicht minder hervorragende vermißt werden, stempelt dies „Litterarische Deutsch¬<lb/> land" von vornherein zu einem verfehlten Werke. Denn zu befriedigender Lösung<lb/> der Aufgabe gab es nur zwei Wege. Entweder faßte Herr Hinrichsen den Be¬<lb/> griff der Litteratur im weitesten Sinne, wonach dieser die gesamten Schrift¬<lb/> werke in deutscher Sprache in sich begreift, und machte den Versuch, das gesamte<lb/> schreibende Deutschland zu vertreten, in welchem Falle das Werk zehnfach<lb/> umfangreicher sein würde und müßte, oder er hielt an dem Begriff National¬<lb/> litteratur fest, wonach in erster Reihe nur die Schöpfungen der Poesie, in<lb/> zweiter diejenigen Werke der Beredsamkeit und der wissenschaftlichen Darstellung<lb/> zu berücksichtigen waren, welche sich durch Vollendung der Form, Vorzüge des<lb/> Stils dazu eignen. Wer da weiß, daß die Auswahl dieser Werke für jede<lb/> literarhistorische Darstellung die größten Schwierigkeiten bietet, die schärfste<lb/> Urteilskraft erfordert, wer weiß, daß ganze Reihen geschichtlicher und andrer<lb/> Schriften hart auf der Grenze zwischen bloßen Forschungen und litterarischen,<lb/> künstlerische Vollendung erstrebenden Werken stehen bleiben, wird auch gern<lb/> zugeben, daß hier ein Mehr oder Minder für die Auswahl sehr wohl möglich<lb/> ist. Aber Hinrichsen scheint völlig prinziplos verfahren zu sein, einfach alle<lb/> diejenigen aufgenommen zu haben, die sich mit Material, das heißt mit<lb/> langer Erzählung ihrer Lebensschicksale und breiter Aufzählung ihrer litterarischen<lb/> Arbeiten einstellten. Er hat die Einsendungen durch Hinzufügung einer Reihe<lb/> von anerkannten und gefeierten Namen ergänzt und auf das Prinzip irgend<lb/> welcher Vollständigkeit ruhig Verzicht geleistet. Die Zahl der im „Litterarischen<lb/> Deutschland" aufgeführten Fachschriftstellcr steht zu der Zahl der wirklich vor-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0098]
Werke der Denker und Dichter, ihre Leistungen, aber nicht ihre Namen verstanden.
Auch unter den „deutschnationalen Errungenschaften" wird sich jeder vernünftige
Mensch etwas andres denken, als die Biographien und Autobiographien von viel¬
leicht anderthalb tausend Schriftstellern, unter denen viele Hunderte sich befinden,
die nicht in ein litterarisches, sondern in irgend ein Fachlexikon gehören. Herr
Hinrichsen hat zwar nirgends erklärt, was er unter Denkern versteht, und zählt,
wie es scheint, alle auf irgend einem wissenschaftlichen Gebiete arbeitenden zu
diesen Denkern. Auch können wir ihm nicht bestreiten, daß man, um zur Aus¬
zeichnung im Gebiete des katholischen Kirchenrechts, der Ornithologie oder der
technischen Chemie zu gelangen, um ein „Handbuch der pharmazeutischen Rezeptir-
kunst" oder einen „Grundriß der Eisenhüttenkunde" oder eine Preisschrift
über Maul- und Klauenseuche, Abhandlungen wie „Über die Milben der Bier¬
filze" oder „Über das Vorkommen der schwarzen Hausratte um Greiz" oder
„Über die Deklination des Substantivs im niederösterreichischen Dialekt" oder
über „Das Flügelgeäder der Psociden und seine systematische Bedeutung" zu
schreiben, denken muß. Der allgemeine Sprachgebrauch aber versteht unter
„Denkern" etwas andres als noch so verdiente Spczialisien; die bloße Auf¬
nahme einiger hundert Fachschriftsteller, denen gegenüber viele hundert andre,
nicht minder hervorragende vermißt werden, stempelt dies „Litterarische Deutsch¬
land" von vornherein zu einem verfehlten Werke. Denn zu befriedigender Lösung
der Aufgabe gab es nur zwei Wege. Entweder faßte Herr Hinrichsen den Be¬
griff der Litteratur im weitesten Sinne, wonach dieser die gesamten Schrift¬
werke in deutscher Sprache in sich begreift, und machte den Versuch, das gesamte
schreibende Deutschland zu vertreten, in welchem Falle das Werk zehnfach
umfangreicher sein würde und müßte, oder er hielt an dem Begriff National¬
litteratur fest, wonach in erster Reihe nur die Schöpfungen der Poesie, in
zweiter diejenigen Werke der Beredsamkeit und der wissenschaftlichen Darstellung
zu berücksichtigen waren, welche sich durch Vollendung der Form, Vorzüge des
Stils dazu eignen. Wer da weiß, daß die Auswahl dieser Werke für jede
literarhistorische Darstellung die größten Schwierigkeiten bietet, die schärfste
Urteilskraft erfordert, wer weiß, daß ganze Reihen geschichtlicher und andrer
Schriften hart auf der Grenze zwischen bloßen Forschungen und litterarischen,
künstlerische Vollendung erstrebenden Werken stehen bleiben, wird auch gern
zugeben, daß hier ein Mehr oder Minder für die Auswahl sehr wohl möglich
ist. Aber Hinrichsen scheint völlig prinziplos verfahren zu sein, einfach alle
diejenigen aufgenommen zu haben, die sich mit Material, das heißt mit
langer Erzählung ihrer Lebensschicksale und breiter Aufzählung ihrer litterarischen
Arbeiten einstellten. Er hat die Einsendungen durch Hinzufügung einer Reihe
von anerkannten und gefeierten Namen ergänzt und auf das Prinzip irgend
welcher Vollständigkeit ruhig Verzicht geleistet. Die Zahl der im „Litterarischen
Deutschland" aufgeführten Fachschriftstellcr steht zu der Zahl der wirklich vor-
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