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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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tvcihnachtsfest in einem Pfarrhause.

das den Lärm verstummen machte und die Gemeinde veranlaßte, sich stille
niederzusetzen.

Er hatte die Altarlichter hinter sich angezündet, ihr Schein fiel auf seine
Gestalt, und Fritz mußte unwillkürlich an seinen Weihnachtstraum denken. Aber
es war keine schlanke, selbstbewußte Gestalt, die sich jetzt vor ihm erhob. Demütig
stand sie oben, und wunderbar gealtert sah das Antlitz des Vaters aus, aber
ein tiefer Friede leuchtete daraus hervor, und heiße Daukesthränen rollten über
seine gefurchten Wangen herab, als er seine Gemeinde gleich einem wachsenden
Strome kommen und sich um ihn scharen sah.

Und nun wurde Gottesdienst in der alten Kirche gehalten, zwar ohne
Talar und Meßgewand, aber die Gemeinde dachte noch daran, als schon mancher
andre Gottesdienst gehalten und wieder vergessen war. Und die Gemeinde schloß
sich dem Pfarrer an, als er seine Hände faltete und betete: "Herr mein Gott
und Vater! Du hast alles gut hinausgeführt. Eine Mauer hatte sich um mich
aufgetürmt, und ich selber hatte mit thörichten Händen daran gebaut, und die
Mauer trennte mich von dem, was du mir gegeben hast. Ich war vereinsamt
und stand hinter der Mauer und sehnte mich nach den Meinen, und sie wußten
es nicht, und ich hätte die Mauer gern niedergebrochen, aber die Kräfte ver¬
sagten mir. Da lehrtest du mich, die Hände wie ein Kind zu falten und meine
Sorge auf dich zu werfen, und nun hast du die Mauer niedergebrochen und
mir meine Gemeinde wieder zugeführt. Und jetzt bringe ich die Botschaft, die
du mir anvertraut hast: "Siehe, ich verkündige euch große Freude: Gott will
die Last auf sich nehmen, ihr selbst sollt frei und ledig sein, er will aus Liebe
für euch eure Sünden tragen! Ehre sei Gott in der Höhe!"

Als aber der Pfarrer die Bibel zur Hand nahm und das Evangelium
verlas und anfing, es ihnen auszulegen, da war ein neuer Klang in seine alte
wohlbekannte Stimme gekommen, und der knüpfte die zerrissene Kette Glied
für Glied wieder zusammen. Die ganze Gemeinde hatte sich erhoben und wünschte
ihrem alten Pfarrer Gottes Frieden und ein fröhliches Weihnachtsfest, während
er mit behenden Antlitz durch die Kirche schritt.

An diesem Abend versammelte sich eine fröhliche Weihnachtsgesellschaft
unter dem Schnee, und die ganze Gemeinde war dabei, und Otto Blein war
ebenfalls mitgekommen. Und es sah fast so ans, als beabsichtigte er, da er
doch einmal gekommen war, fürs erste auch nicht wieder zu gehen; denn als
die ganze Gemeinde sich bereits zurückgezogen hatte, blieb er ruhig da. Fritz
aber saß da und schaute seinen Vater an, bis seine Augen sich mit Thränen
stillten. Dann erhob er sich plötzlich, trat an ihn heran und schlang seine
Arme um seinen Hals -- er hatte sich so manchesmal darnach gesehnt, schon
seit seiner frühesten Kindheit.

Vater, sagte er, habe tausend Dank für dein Weinachtsgeschenk! Seine
Stimme ruft mich zu dir!


tvcihnachtsfest in einem Pfarrhause.

das den Lärm verstummen machte und die Gemeinde veranlaßte, sich stille
niederzusetzen.

Er hatte die Altarlichter hinter sich angezündet, ihr Schein fiel auf seine
Gestalt, und Fritz mußte unwillkürlich an seinen Weihnachtstraum denken. Aber
es war keine schlanke, selbstbewußte Gestalt, die sich jetzt vor ihm erhob. Demütig
stand sie oben, und wunderbar gealtert sah das Antlitz des Vaters aus, aber
ein tiefer Friede leuchtete daraus hervor, und heiße Daukesthränen rollten über
seine gefurchten Wangen herab, als er seine Gemeinde gleich einem wachsenden
Strome kommen und sich um ihn scharen sah.

Und nun wurde Gottesdienst in der alten Kirche gehalten, zwar ohne
Talar und Meßgewand, aber die Gemeinde dachte noch daran, als schon mancher
andre Gottesdienst gehalten und wieder vergessen war. Und die Gemeinde schloß
sich dem Pfarrer an, als er seine Hände faltete und betete: „Herr mein Gott
und Vater! Du hast alles gut hinausgeführt. Eine Mauer hatte sich um mich
aufgetürmt, und ich selber hatte mit thörichten Händen daran gebaut, und die
Mauer trennte mich von dem, was du mir gegeben hast. Ich war vereinsamt
und stand hinter der Mauer und sehnte mich nach den Meinen, und sie wußten
es nicht, und ich hätte die Mauer gern niedergebrochen, aber die Kräfte ver¬
sagten mir. Da lehrtest du mich, die Hände wie ein Kind zu falten und meine
Sorge auf dich zu werfen, und nun hast du die Mauer niedergebrochen und
mir meine Gemeinde wieder zugeführt. Und jetzt bringe ich die Botschaft, die
du mir anvertraut hast: „Siehe, ich verkündige euch große Freude: Gott will
die Last auf sich nehmen, ihr selbst sollt frei und ledig sein, er will aus Liebe
für euch eure Sünden tragen! Ehre sei Gott in der Höhe!"

Als aber der Pfarrer die Bibel zur Hand nahm und das Evangelium
verlas und anfing, es ihnen auszulegen, da war ein neuer Klang in seine alte
wohlbekannte Stimme gekommen, und der knüpfte die zerrissene Kette Glied
für Glied wieder zusammen. Die ganze Gemeinde hatte sich erhoben und wünschte
ihrem alten Pfarrer Gottes Frieden und ein fröhliches Weihnachtsfest, während
er mit behenden Antlitz durch die Kirche schritt.

An diesem Abend versammelte sich eine fröhliche Weihnachtsgesellschaft
unter dem Schnee, und die ganze Gemeinde war dabei, und Otto Blein war
ebenfalls mitgekommen. Und es sah fast so ans, als beabsichtigte er, da er
doch einmal gekommen war, fürs erste auch nicht wieder zu gehen; denn als
die ganze Gemeinde sich bereits zurückgezogen hatte, blieb er ruhig da. Fritz
aber saß da und schaute seinen Vater an, bis seine Augen sich mit Thränen
stillten. Dann erhob er sich plötzlich, trat an ihn heran und schlang seine
Arme um seinen Hals — er hatte sich so manchesmal darnach gesehnt, schon
seit seiner frühesten Kindheit.

Vater, sagte er, habe tausend Dank für dein Weinachtsgeschenk! Seine
Stimme ruft mich zu dir!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/638>, abgerufen am 04.07.2024.