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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Weihnachtsfest in einem Pfarrhause.

Er ließ die Thür los und ging langsam zurück, bis er wieder vor dem
Altare stand, und der rief ihm wie vorhin zu: "Alle eure Sorge werfet auf
Gott!" Da glitt plötzlich ein Lächeln über sein Antlitz, und es war, als wiche
auf einmal alle Unruhe von ihm.

Gott hat mich selber in Gewahrsam genommen, jetzt lege ich meine Bürde
in seine Hand! sagte er und ließ seine Arme herabsinken. Und dann setzte er
sich in einen Stuhl unterhalb des Altars, und ein Ausdruck von Frieden
und sicherten glitt über seine Züge. --

Aber im Pfarrhause träumte Fritz, daß er wieder ein Kind sei und in
der Kirche sitze und die Gestalt seines Vaters in ihrer ganzen Würde und
Macht auf der Kanzel erblicke. Und alle Menschen erhoben sich vor ihm wie
damals, aber in Fritzens Herz hatte ein dunkles Gefühl von Kummer und
Reue der Ehrfurcht Platz gemacht. Und es war Weihnacht, und die Weih¬
nachtsengel kamen auf glänzend weißen Schwingen herabgeflattert. Immer
mehr und mehr, in immer dichtern Scharen schwebten sie herab, und die
Gestalt seines Vaters verschwand vor ihnen, und die Gemeinde verschwand,
und sie zogen ihren Kreis immer enger um Fritz, bis seine Brust beklemmt
ward und der Atem ihm versagte.

Es war dunkel wie zur Nachtzeit, als er erwachte, aber der Druck wollte
nicht von ihm weichen^ und sein Atem ging schwer wie im Traum, und um
ihn her herrschte nächtliche Stille. Als er aber das Licht angezündet hatte,
sagte ihm die Uhr, daß es schon hoch am Tage sei, und vor den Fenstern
lagen dichte Schneemassen und drohten die Scheiben zu zerdrücken.

Wir sind eingefahren -- hier ists wie in einem Grabe -- ich muß Luft
haben! rief Fritz und sprang auf. Wenige Minuten später war das Haus aus
dem tiefen Schlaf aufgerüttelt, und verwirrt stand man sich gegenüber und
starrte sich an. Noch größer aber wurde die Verwirrung, als Lise aus
dem Schlafzimmer des Pfarrers kam und berichtete, der Vater sei nicht
da, sein Bett stehe unberührt. Wo war er? Auch im Studirzimmer suchte man
vergeblich.

Einen Gruß von ihm fanden sie freilich dort. Die Bibel lag aufge"
schlagen auf dem Tische: "Meinem lieben Sohne Fritz am Weihnachtsabend!"
stand dort von der Hand des Pfarrers geschrieben, und die Schrift war noch
frisch. Und dann las Fritz die Worte, die seinem Vater am Weinachtsabend
nicht über die Lippen gewollt hatten, und er neigte das Haupt darüber. Rings¬
umher lagen lose Blätter, und von ihnen allen sah Lise ihren Namen auf¬
tauchen, und jedesmal war ein liebevoll ermahnendes Wort hinzugefügt, es
war, als hätte es der Schreiber nicht zart und liebkosend genug sagen können.
Zu oberst lag die zur Hälfte beendete Predigt, die ihnen gleichsam mit der
Stimme des Vaters zurief: "Siehe, ich verkündige euch große Freude!" Und
da war es Fritz und Lisen, als hätten sie ihren Vater niemals gekannt, als


Weihnachtsfest in einem Pfarrhause.

Er ließ die Thür los und ging langsam zurück, bis er wieder vor dem
Altare stand, und der rief ihm wie vorhin zu: „Alle eure Sorge werfet auf
Gott!" Da glitt plötzlich ein Lächeln über sein Antlitz, und es war, als wiche
auf einmal alle Unruhe von ihm.

Gott hat mich selber in Gewahrsam genommen, jetzt lege ich meine Bürde
in seine Hand! sagte er und ließ seine Arme herabsinken. Und dann setzte er
sich in einen Stuhl unterhalb des Altars, und ein Ausdruck von Frieden
und sicherten glitt über seine Züge. —

Aber im Pfarrhause träumte Fritz, daß er wieder ein Kind sei und in
der Kirche sitze und die Gestalt seines Vaters in ihrer ganzen Würde und
Macht auf der Kanzel erblicke. Und alle Menschen erhoben sich vor ihm wie
damals, aber in Fritzens Herz hatte ein dunkles Gefühl von Kummer und
Reue der Ehrfurcht Platz gemacht. Und es war Weihnacht, und die Weih¬
nachtsengel kamen auf glänzend weißen Schwingen herabgeflattert. Immer
mehr und mehr, in immer dichtern Scharen schwebten sie herab, und die
Gestalt seines Vaters verschwand vor ihnen, und die Gemeinde verschwand,
und sie zogen ihren Kreis immer enger um Fritz, bis seine Brust beklemmt
ward und der Atem ihm versagte.

Es war dunkel wie zur Nachtzeit, als er erwachte, aber der Druck wollte
nicht von ihm weichen^ und sein Atem ging schwer wie im Traum, und um
ihn her herrschte nächtliche Stille. Als er aber das Licht angezündet hatte,
sagte ihm die Uhr, daß es schon hoch am Tage sei, und vor den Fenstern
lagen dichte Schneemassen und drohten die Scheiben zu zerdrücken.

Wir sind eingefahren — hier ists wie in einem Grabe — ich muß Luft
haben! rief Fritz und sprang auf. Wenige Minuten später war das Haus aus
dem tiefen Schlaf aufgerüttelt, und verwirrt stand man sich gegenüber und
starrte sich an. Noch größer aber wurde die Verwirrung, als Lise aus
dem Schlafzimmer des Pfarrers kam und berichtete, der Vater sei nicht
da, sein Bett stehe unberührt. Wo war er? Auch im Studirzimmer suchte man
vergeblich.

Einen Gruß von ihm fanden sie freilich dort. Die Bibel lag aufge»
schlagen auf dem Tische: „Meinem lieben Sohne Fritz am Weihnachtsabend!"
stand dort von der Hand des Pfarrers geschrieben, und die Schrift war noch
frisch. Und dann las Fritz die Worte, die seinem Vater am Weinachtsabend
nicht über die Lippen gewollt hatten, und er neigte das Haupt darüber. Rings¬
umher lagen lose Blätter, und von ihnen allen sah Lise ihren Namen auf¬
tauchen, und jedesmal war ein liebevoll ermahnendes Wort hinzugefügt, es
war, als hätte es der Schreiber nicht zart und liebkosend genug sagen können.
Zu oberst lag die zur Hälfte beendete Predigt, die ihnen gleichsam mit der
Stimme des Vaters zurief: „Siehe, ich verkündige euch große Freude!" Und
da war es Fritz und Lisen, als hätten sie ihren Vater niemals gekannt, als


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[0636] Weihnachtsfest in einem Pfarrhause. Er ließ die Thür los und ging langsam zurück, bis er wieder vor dem Altare stand, und der rief ihm wie vorhin zu: „Alle eure Sorge werfet auf Gott!" Da glitt plötzlich ein Lächeln über sein Antlitz, und es war, als wiche auf einmal alle Unruhe von ihm. Gott hat mich selber in Gewahrsam genommen, jetzt lege ich meine Bürde in seine Hand! sagte er und ließ seine Arme herabsinken. Und dann setzte er sich in einen Stuhl unterhalb des Altars, und ein Ausdruck von Frieden und sicherten glitt über seine Züge. — Aber im Pfarrhause träumte Fritz, daß er wieder ein Kind sei und in der Kirche sitze und die Gestalt seines Vaters in ihrer ganzen Würde und Macht auf der Kanzel erblicke. Und alle Menschen erhoben sich vor ihm wie damals, aber in Fritzens Herz hatte ein dunkles Gefühl von Kummer und Reue der Ehrfurcht Platz gemacht. Und es war Weihnacht, und die Weih¬ nachtsengel kamen auf glänzend weißen Schwingen herabgeflattert. Immer mehr und mehr, in immer dichtern Scharen schwebten sie herab, und die Gestalt seines Vaters verschwand vor ihnen, und die Gemeinde verschwand, und sie zogen ihren Kreis immer enger um Fritz, bis seine Brust beklemmt ward und der Atem ihm versagte. Es war dunkel wie zur Nachtzeit, als er erwachte, aber der Druck wollte nicht von ihm weichen^ und sein Atem ging schwer wie im Traum, und um ihn her herrschte nächtliche Stille. Als er aber das Licht angezündet hatte, sagte ihm die Uhr, daß es schon hoch am Tage sei, und vor den Fenstern lagen dichte Schneemassen und drohten die Scheiben zu zerdrücken. Wir sind eingefahren — hier ists wie in einem Grabe — ich muß Luft haben! rief Fritz und sprang auf. Wenige Minuten später war das Haus aus dem tiefen Schlaf aufgerüttelt, und verwirrt stand man sich gegenüber und starrte sich an. Noch größer aber wurde die Verwirrung, als Lise aus dem Schlafzimmer des Pfarrers kam und berichtete, der Vater sei nicht da, sein Bett stehe unberührt. Wo war er? Auch im Studirzimmer suchte man vergeblich. Einen Gruß von ihm fanden sie freilich dort. Die Bibel lag aufge» schlagen auf dem Tische: „Meinem lieben Sohne Fritz am Weihnachtsabend!" stand dort von der Hand des Pfarrers geschrieben, und die Schrift war noch frisch. Und dann las Fritz die Worte, die seinem Vater am Weinachtsabend nicht über die Lippen gewollt hatten, und er neigte das Haupt darüber. Rings¬ umher lagen lose Blätter, und von ihnen allen sah Lise ihren Namen auf¬ tauchen, und jedesmal war ein liebevoll ermahnendes Wort hinzugefügt, es war, als hätte es der Schreiber nicht zart und liebkosend genug sagen können. Zu oberst lag die zur Hälfte beendete Predigt, die ihnen gleichsam mit der Stimme des Vaters zurief: „Siehe, ich verkündige euch große Freude!" Und da war es Fritz und Lisen, als hätten sie ihren Vater niemals gekannt, als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/636>, abgerufen am 25.07.2024.