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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die vereinigten Staaten im Lichte der letzten Präsidentenwahl.

wurde. Und nun, um die entgegengesetzte Parteischale neu zu beschweren
und den republikanischeres ergatterten Vorteil wieder wett zu machen, die
beispiellos hastige und rücksichtslose Beseitigung des Gesandten selbst durch den
plumpen demokratischen Staatssekretär des die irischen Stimmen zu verlieren
fürchtenden Präsidenten und Demokraten. Zuletzt, um das Maß des Ekels und
der sittlichen Empörung zum Überlaufen zu bringen, auf demokratischer Seite
der widrige, bis zum Verrat an der nationale" Gesamtpartei sich steigernde
Kampf um die städtische Ämterbeute in New-Iork zwischen den feindlichen Brü¬
dern Tammany Hall und der Grafschaftsdemokratie, dessen Folge der Verlust
des Staates New-Uork für Cleveland gewesen ist.

Als würdiges Seitenstück zu den demokratischen Wahlorgien ließen die
Republikaner das Geld zum schamlosesten Stimmenkauf in den zweifelhaften und
für sie unentbehrlichen Staaten New-Uork und Jndiana arbeiten.

Kein Wunder, daß diesem wüsten Treiben, dieser monatelang dauernden
Heuchelei und Durchsteckerei jetzt nach der Wahl eine tiefe Ernüchterung, ein
allgemeines Gefühl der Beschämung, der Erniedrigung in den Augen Europas
gefolgt ist, das in dem stark ausgedrückten Wunsche, diese traurige und entsitt¬
lichende Art der Wahlkämpfe denn doch wenigstens in größern Zwischenräumen
als bisher über sich ergehen zu lassen, sich an den verschiedensten Stellen Luft
gemacht hat.

Der New-Aorker Herald, dieser bereite Chloroformlieferant und Einschläferer
des diesmal aufgeregten Gewissens einer durch und durch materialistischen Gesell¬
schaft, ist mit dem Antrage auf Abänderung der Bundesverfassung vorangegangen
und will die Amtszeit des Präsidenten auf sechs Jahre statt auf vier festgesetzt
wissen. Gleichzeitig soll die unmittelbare Wiederwahl eines Präsidenten dnrch die
Verfassung verboten werden. Die Annahme dieser Vorschläge wird jedoch lange
auf sich warten lassen. Selbst wenn sie erfolgte, würde dadurch nur eine sehr
oberflächliche Abhilfe für die weit tiefer wurzelnden Übel des verderbten Partei¬
getriebes zu gewinnen sein. Von andrer Seite -- und zwar nicht nur von
den unter der jetzigen Wahlart in ihrer Unabhängigkeit gefährdeten Arbeiter-
vereinigungen -- wird eine Abänderung der Wahlgesetze dahin gefordert, daß
den jetzt allmächtigen Handlangern der alten Parteibeherrscher das Handwerk
gründlich gelegt, und die Anfertigung wie Abgabe der Wahlzettel ihrer die
Wahlfreiheit beeinträchtigenden Überwachung und Beeinflussung in jeder Richtung
entzogen werde. Dabei wird das australische Wahlverfahren als Muster
empfohlen, es ist auch bereits im Staate Massachusetts zum Gesetz erhoben
worden, um nächsten Herbst seine erste Probe zu bestehen. Aber am Ende
wird sich, wie früher bei dem als Allheilmittel gegen Wahlbetrügereien gepriesenen
Negistrationsgesetze (strenge Wählerlistenführung) auch bei dem neuen Gesetze
nach einiger Zeit herausstellen, daß es allein, ohne eine gründliche Sinnes¬
umkehr im Volke selbst, keine reinigenden und sittlichenden Wahlwunder wirken


Die vereinigten Staaten im Lichte der letzten Präsidentenwahl.

wurde. Und nun, um die entgegengesetzte Parteischale neu zu beschweren
und den republikanischeres ergatterten Vorteil wieder wett zu machen, die
beispiellos hastige und rücksichtslose Beseitigung des Gesandten selbst durch den
plumpen demokratischen Staatssekretär des die irischen Stimmen zu verlieren
fürchtenden Präsidenten und Demokraten. Zuletzt, um das Maß des Ekels und
der sittlichen Empörung zum Überlaufen zu bringen, auf demokratischer Seite
der widrige, bis zum Verrat an der nationale» Gesamtpartei sich steigernde
Kampf um die städtische Ämterbeute in New-Iork zwischen den feindlichen Brü¬
dern Tammany Hall und der Grafschaftsdemokratie, dessen Folge der Verlust
des Staates New-Uork für Cleveland gewesen ist.

Als würdiges Seitenstück zu den demokratischen Wahlorgien ließen die
Republikaner das Geld zum schamlosesten Stimmenkauf in den zweifelhaften und
für sie unentbehrlichen Staaten New-Uork und Jndiana arbeiten.

Kein Wunder, daß diesem wüsten Treiben, dieser monatelang dauernden
Heuchelei und Durchsteckerei jetzt nach der Wahl eine tiefe Ernüchterung, ein
allgemeines Gefühl der Beschämung, der Erniedrigung in den Augen Europas
gefolgt ist, das in dem stark ausgedrückten Wunsche, diese traurige und entsitt¬
lichende Art der Wahlkämpfe denn doch wenigstens in größern Zwischenräumen
als bisher über sich ergehen zu lassen, sich an den verschiedensten Stellen Luft
gemacht hat.

Der New-Aorker Herald, dieser bereite Chloroformlieferant und Einschläferer
des diesmal aufgeregten Gewissens einer durch und durch materialistischen Gesell¬
schaft, ist mit dem Antrage auf Abänderung der Bundesverfassung vorangegangen
und will die Amtszeit des Präsidenten auf sechs Jahre statt auf vier festgesetzt
wissen. Gleichzeitig soll die unmittelbare Wiederwahl eines Präsidenten dnrch die
Verfassung verboten werden. Die Annahme dieser Vorschläge wird jedoch lange
auf sich warten lassen. Selbst wenn sie erfolgte, würde dadurch nur eine sehr
oberflächliche Abhilfe für die weit tiefer wurzelnden Übel des verderbten Partei¬
getriebes zu gewinnen sein. Von andrer Seite — und zwar nicht nur von
den unter der jetzigen Wahlart in ihrer Unabhängigkeit gefährdeten Arbeiter-
vereinigungen — wird eine Abänderung der Wahlgesetze dahin gefordert, daß
den jetzt allmächtigen Handlangern der alten Parteibeherrscher das Handwerk
gründlich gelegt, und die Anfertigung wie Abgabe der Wahlzettel ihrer die
Wahlfreiheit beeinträchtigenden Überwachung und Beeinflussung in jeder Richtung
entzogen werde. Dabei wird das australische Wahlverfahren als Muster
empfohlen, es ist auch bereits im Staate Massachusetts zum Gesetz erhoben
worden, um nächsten Herbst seine erste Probe zu bestehen. Aber am Ende
wird sich, wie früher bei dem als Allheilmittel gegen Wahlbetrügereien gepriesenen
Negistrationsgesetze (strenge Wählerlistenführung) auch bei dem neuen Gesetze
nach einiger Zeit herausstellen, daß es allein, ohne eine gründliche Sinnes¬
umkehr im Volke selbst, keine reinigenden und sittlichenden Wahlwunder wirken


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[0628] Die vereinigten Staaten im Lichte der letzten Präsidentenwahl. wurde. Und nun, um die entgegengesetzte Parteischale neu zu beschweren und den republikanischeres ergatterten Vorteil wieder wett zu machen, die beispiellos hastige und rücksichtslose Beseitigung des Gesandten selbst durch den plumpen demokratischen Staatssekretär des die irischen Stimmen zu verlieren fürchtenden Präsidenten und Demokraten. Zuletzt, um das Maß des Ekels und der sittlichen Empörung zum Überlaufen zu bringen, auf demokratischer Seite der widrige, bis zum Verrat an der nationale» Gesamtpartei sich steigernde Kampf um die städtische Ämterbeute in New-Iork zwischen den feindlichen Brü¬ dern Tammany Hall und der Grafschaftsdemokratie, dessen Folge der Verlust des Staates New-Uork für Cleveland gewesen ist. Als würdiges Seitenstück zu den demokratischen Wahlorgien ließen die Republikaner das Geld zum schamlosesten Stimmenkauf in den zweifelhaften und für sie unentbehrlichen Staaten New-Uork und Jndiana arbeiten. Kein Wunder, daß diesem wüsten Treiben, dieser monatelang dauernden Heuchelei und Durchsteckerei jetzt nach der Wahl eine tiefe Ernüchterung, ein allgemeines Gefühl der Beschämung, der Erniedrigung in den Augen Europas gefolgt ist, das in dem stark ausgedrückten Wunsche, diese traurige und entsitt¬ lichende Art der Wahlkämpfe denn doch wenigstens in größern Zwischenräumen als bisher über sich ergehen zu lassen, sich an den verschiedensten Stellen Luft gemacht hat. Der New-Aorker Herald, dieser bereite Chloroformlieferant und Einschläferer des diesmal aufgeregten Gewissens einer durch und durch materialistischen Gesell¬ schaft, ist mit dem Antrage auf Abänderung der Bundesverfassung vorangegangen und will die Amtszeit des Präsidenten auf sechs Jahre statt auf vier festgesetzt wissen. Gleichzeitig soll die unmittelbare Wiederwahl eines Präsidenten dnrch die Verfassung verboten werden. Die Annahme dieser Vorschläge wird jedoch lange auf sich warten lassen. Selbst wenn sie erfolgte, würde dadurch nur eine sehr oberflächliche Abhilfe für die weit tiefer wurzelnden Übel des verderbten Partei¬ getriebes zu gewinnen sein. Von andrer Seite — und zwar nicht nur von den unter der jetzigen Wahlart in ihrer Unabhängigkeit gefährdeten Arbeiter- vereinigungen — wird eine Abänderung der Wahlgesetze dahin gefordert, daß den jetzt allmächtigen Handlangern der alten Parteibeherrscher das Handwerk gründlich gelegt, und die Anfertigung wie Abgabe der Wahlzettel ihrer die Wahlfreiheit beeinträchtigenden Überwachung und Beeinflussung in jeder Richtung entzogen werde. Dabei wird das australische Wahlverfahren als Muster empfohlen, es ist auch bereits im Staate Massachusetts zum Gesetz erhoben worden, um nächsten Herbst seine erste Probe zu bestehen. Aber am Ende wird sich, wie früher bei dem als Allheilmittel gegen Wahlbetrügereien gepriesenen Negistrationsgesetze (strenge Wählerlistenführung) auch bei dem neuen Gesetze nach einiger Zeit herausstellen, daß es allein, ohne eine gründliche Sinnes¬ umkehr im Volke selbst, keine reinigenden und sittlichenden Wahlwunder wirken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/628>, abgerufen am 22.07.2024.