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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst.
Betrachtungen bei Gelegenheit der Münchener Jubiläumsausstellung.
(Schluß.)

^Wi
.^/cle dem Klmstschaffen unsrer Tage eigentümliche Vernachlässigung
einer Reihe von Gebieten, ja geradezu aller derjenigen Gebiete,
in denen in vergangenen Perioden die Kunst recht eigentlich ihr
Feld erkannte, haben wir unter den beherrschenden Gesichtspunkt
gestellt, daß unsre Kunst die Wirklichkeit über alles liebe. Bringt
uns diese Liebe auf der einen Seite manche Verluste, so verdankt ihr die Kunst
auf der andern eine reiche Entwicklung. Diese Liebe hat ihr erst ganz die Augen
erschlossen für die Formen, an die sie doch unter allen Umständen mit ihrem
Schaffen gebunden ist, die Formen der Wirklichkeit. Sie lernt in diesem Um¬
gang -künftig ihre Gebilde so zu gestalten, daß man an ihre Wirklichkeit glauben
kann, auch wenn sie sich einmal wieder zu freien Schöpfungen erheben wird.
Aber dies ist nur das Äußere. Wenn wir diese Stillleben und Landschaften
betrachten, so tritt neben der Naturwahrheit als zweiter Zug das Naturver¬
ständnis hervor. Bei den Stillleben bezeugt sich eine gemütvolle Hingebung
an die Ruhe auf der einen, die Frische und den Reichtum in der Natur auf
der andern Seite und ein sinniges Verständnis für das Charakteristische ihrer
einzelnen Gebilde. Bei den Tieren ist das Drollige der Katzen und Möpse,
das seelenvolle der Schafe und Kühe, das Scheue, Spröde der Waldtiere, das
Mächtige, Brutale der wilden Tiere trefflich und oft mit vielem Humor zum
Ausdruck gebracht. Und in den Landschaften endlich, den Glanzstücken unsrer Aus¬
stellungen, bemüht sich die Kunst, jeder Natur, dem Flachland wie dem Hochgebirge,
dem stillen kleinen Wasser wie dem Meer, der Wiese wie dem Wald und wiederum
in jeder Landschaft den verschiedenen Jahres- und Tageszeiten, vom tiefen Winter
bis zum kahlen Spätherbst, vom Morgendämmer bis zum Mondenschein, vom
lachenden Sonnenglanz bis zum dunkelsten Gewitterhimmel, von der stillen
Ruhe bis zur gewaltigsten Erregung ihre eigentümlichen Reize abzulauschen.
Diese Versenkung in die Natur entspricht völlig der Zeit der Sommerfrischen,
dem Drange unsers Geschlechts, aus der lärmenden Unruhe und der Überkultur
unsers städtischen Lebens zu flüchten in die Stille und Unmittelbarkeit des




Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst.
Betrachtungen bei Gelegenheit der Münchener Jubiläumsausstellung.
(Schluß.)

^Wi
.^/cle dem Klmstschaffen unsrer Tage eigentümliche Vernachlässigung
einer Reihe von Gebieten, ja geradezu aller derjenigen Gebiete,
in denen in vergangenen Perioden die Kunst recht eigentlich ihr
Feld erkannte, haben wir unter den beherrschenden Gesichtspunkt
gestellt, daß unsre Kunst die Wirklichkeit über alles liebe. Bringt
uns diese Liebe auf der einen Seite manche Verluste, so verdankt ihr die Kunst
auf der andern eine reiche Entwicklung. Diese Liebe hat ihr erst ganz die Augen
erschlossen für die Formen, an die sie doch unter allen Umständen mit ihrem
Schaffen gebunden ist, die Formen der Wirklichkeit. Sie lernt in diesem Um¬
gang -künftig ihre Gebilde so zu gestalten, daß man an ihre Wirklichkeit glauben
kann, auch wenn sie sich einmal wieder zu freien Schöpfungen erheben wird.
Aber dies ist nur das Äußere. Wenn wir diese Stillleben und Landschaften
betrachten, so tritt neben der Naturwahrheit als zweiter Zug das Naturver¬
ständnis hervor. Bei den Stillleben bezeugt sich eine gemütvolle Hingebung
an die Ruhe auf der einen, die Frische und den Reichtum in der Natur auf
der andern Seite und ein sinniges Verständnis für das Charakteristische ihrer
einzelnen Gebilde. Bei den Tieren ist das Drollige der Katzen und Möpse,
das seelenvolle der Schafe und Kühe, das Scheue, Spröde der Waldtiere, das
Mächtige, Brutale der wilden Tiere trefflich und oft mit vielem Humor zum
Ausdruck gebracht. Und in den Landschaften endlich, den Glanzstücken unsrer Aus¬
stellungen, bemüht sich die Kunst, jeder Natur, dem Flachland wie dem Hochgebirge,
dem stillen kleinen Wasser wie dem Meer, der Wiese wie dem Wald und wiederum
in jeder Landschaft den verschiedenen Jahres- und Tageszeiten, vom tiefen Winter
bis zum kahlen Spätherbst, vom Morgendämmer bis zum Mondenschein, vom
lachenden Sonnenglanz bis zum dunkelsten Gewitterhimmel, von der stillen
Ruhe bis zur gewaltigsten Erregung ihre eigentümlichen Reize abzulauschen.
Diese Versenkung in die Natur entspricht völlig der Zeit der Sommerfrischen,
dem Drange unsers Geschlechts, aus der lärmenden Unruhe und der Überkultur
unsers städtischen Lebens zu flüchten in die Stille und Unmittelbarkeit des


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[0608] [Abbildung] Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst. Betrachtungen bei Gelegenheit der Münchener Jubiläumsausstellung. (Schluß.) ^Wi .^/cle dem Klmstschaffen unsrer Tage eigentümliche Vernachlässigung einer Reihe von Gebieten, ja geradezu aller derjenigen Gebiete, in denen in vergangenen Perioden die Kunst recht eigentlich ihr Feld erkannte, haben wir unter den beherrschenden Gesichtspunkt gestellt, daß unsre Kunst die Wirklichkeit über alles liebe. Bringt uns diese Liebe auf der einen Seite manche Verluste, so verdankt ihr die Kunst auf der andern eine reiche Entwicklung. Diese Liebe hat ihr erst ganz die Augen erschlossen für die Formen, an die sie doch unter allen Umständen mit ihrem Schaffen gebunden ist, die Formen der Wirklichkeit. Sie lernt in diesem Um¬ gang -künftig ihre Gebilde so zu gestalten, daß man an ihre Wirklichkeit glauben kann, auch wenn sie sich einmal wieder zu freien Schöpfungen erheben wird. Aber dies ist nur das Äußere. Wenn wir diese Stillleben und Landschaften betrachten, so tritt neben der Naturwahrheit als zweiter Zug das Naturver¬ ständnis hervor. Bei den Stillleben bezeugt sich eine gemütvolle Hingebung an die Ruhe auf der einen, die Frische und den Reichtum in der Natur auf der andern Seite und ein sinniges Verständnis für das Charakteristische ihrer einzelnen Gebilde. Bei den Tieren ist das Drollige der Katzen und Möpse, das seelenvolle der Schafe und Kühe, das Scheue, Spröde der Waldtiere, das Mächtige, Brutale der wilden Tiere trefflich und oft mit vielem Humor zum Ausdruck gebracht. Und in den Landschaften endlich, den Glanzstücken unsrer Aus¬ stellungen, bemüht sich die Kunst, jeder Natur, dem Flachland wie dem Hochgebirge, dem stillen kleinen Wasser wie dem Meer, der Wiese wie dem Wald und wiederum in jeder Landschaft den verschiedenen Jahres- und Tageszeiten, vom tiefen Winter bis zum kahlen Spätherbst, vom Morgendämmer bis zum Mondenschein, vom lachenden Sonnenglanz bis zum dunkelsten Gewitterhimmel, von der stillen Ruhe bis zur gewaltigsten Erregung ihre eigentümlichen Reize abzulauschen. Diese Versenkung in die Natur entspricht völlig der Zeit der Sommerfrischen, dem Drange unsers Geschlechts, aus der lärmenden Unruhe und der Überkultur unsers städtischen Lebens zu flüchten in die Stille und Unmittelbarkeit des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/608>, abgerufen am 22.07.2024.