Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Eine Geschichte der Parteien in Rußland.

abfeuerte. Stets entkamen die Schuldigen, und stets zeigte das "Exekutiv-Komits"
in seiner geheim erscheinenden Zeitung oder durch Maueranschlägc die "Hinrich¬
tung" oder den "Strafversuch" an. Turgenjew, der damals in Rußland einen
längern Besuch abstattete, bei dem er als Nestor des russischen Liberalismus über¬
schwenglich gefeiert wurde, schrieb in dieser Zeit: "Alles deutet darauf hin, daß
wir uns am Vorabend einer gesetzmäßig zwar nicht regelrechten, aber bedeut¬
samen Umgestaltung unsers öffentlichen Lebens befinden."

Da zerfiel plötzlich das Einvernehmen des Nihilismus und des Liberalis¬
mus. Das Exekutivkomitee der letztern Partei hatte bis jetzt die Idee des
Kaisermordes beharrlich von sich gewiesen. Nunmehr aber erlaubte es dem zu
der Partei haltenden Schullehrer Solowjew, das von ihm geplante Attentat
auf den Zaren auszuführen. Am 2. April 1879 feuerte er fünf Nevolver-
schüsse auf ihn ab. Sie gingen fehl, und ebenso mißlang der Versuch des
Mordgesellen, sich nun durch eine Giftpille selbst zu töten. Die Folge war
allgemeines Entsetzen des Publikums über das Verbrechen, das auch von den
Liberalen rückhaltlos verurteilt wurde, und mit deren offner Gemeinschaft
mit den Nihilisten war es ein für alle Mal vorbei; sie hatten den Grad der
regiernngsfeiudlichen Stimmung im Lande überschätzt, Die Negierung beantwortete
das Attentat damit, daß sie den größten Teil des europäischen Rußlands unter
das Kommando von militärischen Geueral-Gouverneurs mit diktatorischer Ge¬
walt stellte, die Thätigkeit der ordentlichen Gerichte und Polizeiorgane aufhob,
die Zensur verschärfte und die akademische Freiheit so einschränkte, daß die
Petersburger Dozenten einmütig ihren Abschied erbaten. Die nihilistische Zentral-
organisation litt darunter keinen Schaden, und das leitende Komitv ließ sich
von dem einmal beschrittenen Wege nicht ablenken. Aber es fand jetzt eine
Trennung der Nihilisten in Terroristen und solche statt, die sich mehr der
alten Agitation im Volke, als der Vorbereitung und Ausführung von Atten¬
taten widmen zu müssen meinten. Indes verständigte man sich auf einem
Delegirtentage, der im August 1879 zu Petersburg stattfand, zu gemeinsamerem
Wirken auf verschiednen Wege, so daß die Spaltung eigentlich nur eine Arbeits¬
teilung war. Die Terroristen, nach ihrem Preßorgan "Narodnaja Wolja"
(Volkswille) "Narodwoljzy" genannt, waren die an Zahl schwächere Gruppe,
aber straff zcntralistisch organisirt und im Besitze reichlicherer Geldmittel. Sie
herrschten in den Großstädten und verfolgten, in Berührung mit den Liberalen
bleibend, anch politische Zwecke. Die andre Gruppe, die man als "Narvdniki"
bezeichnete, setzte sich aus den alten "Vvlksgängern" zusammen, war schlecht
organisirt und betrieb nur sozialistische Wühlerei. Ihr Gebiet waren die kleinern
Orte und das Platte Land. Das Programm der Terroristen lautete in seinen
Hauptzügen: "Bei dem Mangel einer westeuropäischen Klassenbildung ist der
anzugreifende Gegner in Nußland nicht das Kapital, sondern die Negierung,
eine sozialistische Propaganda hat überdies keine Aussicht auf Erfolg. Das


Eine Geschichte der Parteien in Rußland.

abfeuerte. Stets entkamen die Schuldigen, und stets zeigte das „Exekutiv-Komits"
in seiner geheim erscheinenden Zeitung oder durch Maueranschlägc die „Hinrich¬
tung" oder den „Strafversuch" an. Turgenjew, der damals in Rußland einen
längern Besuch abstattete, bei dem er als Nestor des russischen Liberalismus über¬
schwenglich gefeiert wurde, schrieb in dieser Zeit: „Alles deutet darauf hin, daß
wir uns am Vorabend einer gesetzmäßig zwar nicht regelrechten, aber bedeut¬
samen Umgestaltung unsers öffentlichen Lebens befinden."

Da zerfiel plötzlich das Einvernehmen des Nihilismus und des Liberalis¬
mus. Das Exekutivkomitee der letztern Partei hatte bis jetzt die Idee des
Kaisermordes beharrlich von sich gewiesen. Nunmehr aber erlaubte es dem zu
der Partei haltenden Schullehrer Solowjew, das von ihm geplante Attentat
auf den Zaren auszuführen. Am 2. April 1879 feuerte er fünf Nevolver-
schüsse auf ihn ab. Sie gingen fehl, und ebenso mißlang der Versuch des
Mordgesellen, sich nun durch eine Giftpille selbst zu töten. Die Folge war
allgemeines Entsetzen des Publikums über das Verbrechen, das auch von den
Liberalen rückhaltlos verurteilt wurde, und mit deren offner Gemeinschaft
mit den Nihilisten war es ein für alle Mal vorbei; sie hatten den Grad der
regiernngsfeiudlichen Stimmung im Lande überschätzt, Die Negierung beantwortete
das Attentat damit, daß sie den größten Teil des europäischen Rußlands unter
das Kommando von militärischen Geueral-Gouverneurs mit diktatorischer Ge¬
walt stellte, die Thätigkeit der ordentlichen Gerichte und Polizeiorgane aufhob,
die Zensur verschärfte und die akademische Freiheit so einschränkte, daß die
Petersburger Dozenten einmütig ihren Abschied erbaten. Die nihilistische Zentral-
organisation litt darunter keinen Schaden, und das leitende Komitv ließ sich
von dem einmal beschrittenen Wege nicht ablenken. Aber es fand jetzt eine
Trennung der Nihilisten in Terroristen und solche statt, die sich mehr der
alten Agitation im Volke, als der Vorbereitung und Ausführung von Atten¬
taten widmen zu müssen meinten. Indes verständigte man sich auf einem
Delegirtentage, der im August 1879 zu Petersburg stattfand, zu gemeinsamerem
Wirken auf verschiednen Wege, so daß die Spaltung eigentlich nur eine Arbeits¬
teilung war. Die Terroristen, nach ihrem Preßorgan „Narodnaja Wolja"
(Volkswille) „Narodwoljzy" genannt, waren die an Zahl schwächere Gruppe,
aber straff zcntralistisch organisirt und im Besitze reichlicherer Geldmittel. Sie
herrschten in den Großstädten und verfolgten, in Berührung mit den Liberalen
bleibend, anch politische Zwecke. Die andre Gruppe, die man als „Narvdniki"
bezeichnete, setzte sich aus den alten „Vvlksgängern" zusammen, war schlecht
organisirt und betrieb nur sozialistische Wühlerei. Ihr Gebiet waren die kleinern
Orte und das Platte Land. Das Programm der Terroristen lautete in seinen
Hauptzügen: „Bei dem Mangel einer westeuropäischen Klassenbildung ist der
anzugreifende Gegner in Nußland nicht das Kapital, sondern die Negierung,
eine sozialistische Propaganda hat überdies keine Aussicht auf Erfolg. Das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0554" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203989"/>
          <fw type="header" place="top"> Eine Geschichte der Parteien in Rußland.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1426" prev="#ID_1425"> abfeuerte. Stets entkamen die Schuldigen, und stets zeigte das &#x201E;Exekutiv-Komits"<lb/>
in seiner geheim erscheinenden Zeitung oder durch Maueranschlägc die &#x201E;Hinrich¬<lb/>
tung" oder den &#x201E;Strafversuch" an. Turgenjew, der damals in Rußland einen<lb/>
längern Besuch abstattete, bei dem er als Nestor des russischen Liberalismus über¬<lb/>
schwenglich gefeiert wurde, schrieb in dieser Zeit: &#x201E;Alles deutet darauf hin, daß<lb/>
wir uns am Vorabend einer gesetzmäßig zwar nicht regelrechten, aber bedeut¬<lb/>
samen Umgestaltung unsers öffentlichen Lebens befinden."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1427" next="#ID_1428"> Da zerfiel plötzlich das Einvernehmen des Nihilismus und des Liberalis¬<lb/>
mus. Das Exekutivkomitee der letztern Partei hatte bis jetzt die Idee des<lb/>
Kaisermordes beharrlich von sich gewiesen. Nunmehr aber erlaubte es dem zu<lb/>
der Partei haltenden Schullehrer Solowjew, das von ihm geplante Attentat<lb/>
auf den Zaren auszuführen. Am 2. April 1879 feuerte er fünf Nevolver-<lb/>
schüsse auf ihn ab. Sie gingen fehl, und ebenso mißlang der Versuch des<lb/>
Mordgesellen, sich nun durch eine Giftpille selbst zu töten. Die Folge war<lb/>
allgemeines Entsetzen des Publikums über das Verbrechen, das auch von den<lb/>
Liberalen rückhaltlos verurteilt wurde, und mit deren offner Gemeinschaft<lb/>
mit den Nihilisten war es ein für alle Mal vorbei; sie hatten den Grad der<lb/>
regiernngsfeiudlichen Stimmung im Lande überschätzt, Die Negierung beantwortete<lb/>
das Attentat damit, daß sie den größten Teil des europäischen Rußlands unter<lb/>
das Kommando von militärischen Geueral-Gouverneurs mit diktatorischer Ge¬<lb/>
walt stellte, die Thätigkeit der ordentlichen Gerichte und Polizeiorgane aufhob,<lb/>
die Zensur verschärfte und die akademische Freiheit so einschränkte, daß die<lb/>
Petersburger Dozenten einmütig ihren Abschied erbaten. Die nihilistische Zentral-<lb/>
organisation litt darunter keinen Schaden, und das leitende Komitv ließ sich<lb/>
von dem einmal beschrittenen Wege nicht ablenken. Aber es fand jetzt eine<lb/>
Trennung der Nihilisten in Terroristen und solche statt, die sich mehr der<lb/>
alten Agitation im Volke, als der Vorbereitung und Ausführung von Atten¬<lb/>
taten widmen zu müssen meinten. Indes verständigte man sich auf einem<lb/>
Delegirtentage, der im August 1879 zu Petersburg stattfand, zu gemeinsamerem<lb/>
Wirken auf verschiednen Wege, so daß die Spaltung eigentlich nur eine Arbeits¬<lb/>
teilung war. Die Terroristen, nach ihrem Preßorgan &#x201E;Narodnaja Wolja"<lb/>
(Volkswille) &#x201E;Narodwoljzy" genannt, waren die an Zahl schwächere Gruppe,<lb/>
aber straff zcntralistisch organisirt und im Besitze reichlicherer Geldmittel. Sie<lb/>
herrschten in den Großstädten und verfolgten, in Berührung mit den Liberalen<lb/>
bleibend, anch politische Zwecke. Die andre Gruppe, die man als &#x201E;Narvdniki"<lb/>
bezeichnete, setzte sich aus den alten &#x201E;Vvlksgängern" zusammen, war schlecht<lb/>
organisirt und betrieb nur sozialistische Wühlerei. Ihr Gebiet waren die kleinern<lb/>
Orte und das Platte Land. Das Programm der Terroristen lautete in seinen<lb/>
Hauptzügen: &#x201E;Bei dem Mangel einer westeuropäischen Klassenbildung ist der<lb/>
anzugreifende Gegner in Nußland nicht das Kapital, sondern die Negierung,<lb/>
eine sozialistische Propaganda hat überdies keine Aussicht auf Erfolg. Das</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0554] Eine Geschichte der Parteien in Rußland. abfeuerte. Stets entkamen die Schuldigen, und stets zeigte das „Exekutiv-Komits" in seiner geheim erscheinenden Zeitung oder durch Maueranschlägc die „Hinrich¬ tung" oder den „Strafversuch" an. Turgenjew, der damals in Rußland einen längern Besuch abstattete, bei dem er als Nestor des russischen Liberalismus über¬ schwenglich gefeiert wurde, schrieb in dieser Zeit: „Alles deutet darauf hin, daß wir uns am Vorabend einer gesetzmäßig zwar nicht regelrechten, aber bedeut¬ samen Umgestaltung unsers öffentlichen Lebens befinden." Da zerfiel plötzlich das Einvernehmen des Nihilismus und des Liberalis¬ mus. Das Exekutivkomitee der letztern Partei hatte bis jetzt die Idee des Kaisermordes beharrlich von sich gewiesen. Nunmehr aber erlaubte es dem zu der Partei haltenden Schullehrer Solowjew, das von ihm geplante Attentat auf den Zaren auszuführen. Am 2. April 1879 feuerte er fünf Nevolver- schüsse auf ihn ab. Sie gingen fehl, und ebenso mißlang der Versuch des Mordgesellen, sich nun durch eine Giftpille selbst zu töten. Die Folge war allgemeines Entsetzen des Publikums über das Verbrechen, das auch von den Liberalen rückhaltlos verurteilt wurde, und mit deren offner Gemeinschaft mit den Nihilisten war es ein für alle Mal vorbei; sie hatten den Grad der regiernngsfeiudlichen Stimmung im Lande überschätzt, Die Negierung beantwortete das Attentat damit, daß sie den größten Teil des europäischen Rußlands unter das Kommando von militärischen Geueral-Gouverneurs mit diktatorischer Ge¬ walt stellte, die Thätigkeit der ordentlichen Gerichte und Polizeiorgane aufhob, die Zensur verschärfte und die akademische Freiheit so einschränkte, daß die Petersburger Dozenten einmütig ihren Abschied erbaten. Die nihilistische Zentral- organisation litt darunter keinen Schaden, und das leitende Komitv ließ sich von dem einmal beschrittenen Wege nicht ablenken. Aber es fand jetzt eine Trennung der Nihilisten in Terroristen und solche statt, die sich mehr der alten Agitation im Volke, als der Vorbereitung und Ausführung von Atten¬ taten widmen zu müssen meinten. Indes verständigte man sich auf einem Delegirtentage, der im August 1879 zu Petersburg stattfand, zu gemeinsamerem Wirken auf verschiednen Wege, so daß die Spaltung eigentlich nur eine Arbeits¬ teilung war. Die Terroristen, nach ihrem Preßorgan „Narodnaja Wolja" (Volkswille) „Narodwoljzy" genannt, waren die an Zahl schwächere Gruppe, aber straff zcntralistisch organisirt und im Besitze reichlicherer Geldmittel. Sie herrschten in den Großstädten und verfolgten, in Berührung mit den Liberalen bleibend, anch politische Zwecke. Die andre Gruppe, die man als „Narvdniki" bezeichnete, setzte sich aus den alten „Vvlksgängern" zusammen, war schlecht organisirt und betrieb nur sozialistische Wühlerei. Ihr Gebiet waren die kleinern Orte und das Platte Land. Das Programm der Terroristen lautete in seinen Hauptzügen: „Bei dem Mangel einer westeuropäischen Klassenbildung ist der anzugreifende Gegner in Nußland nicht das Kapital, sondern die Negierung, eine sozialistische Propaganda hat überdies keine Aussicht auf Erfolg. Das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/554
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/554>, abgerufen am 23.07.2024.