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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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<Line Beschichte der Parteien in Rußland.

zunächst im Kampfe gegen die Polizei, der schon im September 1876 zu Odessa
gegen zwei Spione derselben und 1877 gegen zwei andre in Petersburg von
der Vehme der Nihilisten verhängt worden war, wurde durch jene Freisprechung
geradezu gerechtfertigt, auch bei den Liberalen, ohne deren Wohlwollen und
Billigung diese Art von Kriegführung niemals so umfangreich und so lange
möglich gewesen wäre, als sie es von jetzt an war. Wir nennen von den nun
rasch aufeinander folgenden Morden und Mordversuchen der Nihilisten nur
einige. Im Januar 1878 fiel ihnen in Rostow am Don ein Polizeispion
Namens Nikonow zum Opfer. Drei Wochen später griffen sie in Kiew den
Staatsanwalt Kotljarewski auf offner Straße mit Pistolenschüssen an, ohne
daß es gelang, der Thäter habhaft zu werden. Am 25. Mai wurde dort der
verhaßte Gendarmeriehauptmann Heyking in belebtester Gegend erdolcht. Der
Mörder entkam, nachdem er einen Arbeiter, der ihn festhalten wollte, nieder¬
geschossen hatte. Nicht lange nachher wurde der Chef der berüchtigten dritten
Abteilung der kaiserlichen Kanzlei, General Mesenzew, nachdem ihm von der
Vehme ein förmliches Todesurteil zugestellt worden war, bei einem Morgen¬
spaziergange von zwei elegant gekleideten jungen Leuten angefallen, von denen
der eine ihn mit einem Dolche durchbohrte, während der andre auf den Be¬
gleiter des Generals mit einem Revolver feuerte. Die Mörder entkamen in
einer bereit gehaltenen Droschke und verschwanden spurlos. Die Entdeckung
eines gegen den Zaren selbst gerichteten, von Marineoffizieren in Nikolajew
mit Anwendung von Dynamik vorbereiteten Mvrdplans bildete den Abschluß
dieses blutigen Sommers, in dem zugleich riesenhafte Feuersbrünste, die als
Werk des nihilistischen Terrorismus galten, die östlichen Städte Rußlands
heimsuchten.

Die Negierung ließ sich weder einschüchtern, noch zu liberalen Zugeständ¬
nissen bewegen, sie verstärkte nnr ihre Unterdrückungsmaßregeln. Die Polizei
nahm massenhafte Verhaftungen vor, aber wenn ihr die Zersprengung des re¬
volutionären Bundes "Land und Freiheit" gelang, so wurde er binnen kurzem
wieder hergestellt und besser als vorher eingerichtet und disziplinirt, und gleich¬
zeitig nahm man eine Umgestaltung des nihilistischen Programms vor. Während
dieses bisher sozialistische Tendenz ohne politische Nebenzwecke gehabt hatte,
nahm es jetzt konstitutionelle Forderungen auf, und mannigfache mit Vertretern
des Liberalismus angeknüpfte Beziehungen ließen bereits den Zeitpunkt nicht
mehr fern erscheinen, wo die gemäßigte und die radikale Opposition sich offen
zum Sturme gegen die konservative Negierung vereinigen würden. Von der voll¬
endeten Wiederherstellung der durch Polizeimaßregeln auf kurze Zeit gestörten
Organisation gab schon im Februar und März eine Reihe von Attentaten
Zeugnis, die teils gelangen, teils mißglückter, z. B. die Ermordung des Fürsten
Krapotkin, desI Gouverneurs von Charkow, und der Schuß, den ein Nihilist
auf den General Mentelen, Nachfolger des Generals Mesenzew vergeblich


Grenzboten IV. 1888. 6g
<Line Beschichte der Parteien in Rußland.

zunächst im Kampfe gegen die Polizei, der schon im September 1876 zu Odessa
gegen zwei Spione derselben und 1877 gegen zwei andre in Petersburg von
der Vehme der Nihilisten verhängt worden war, wurde durch jene Freisprechung
geradezu gerechtfertigt, auch bei den Liberalen, ohne deren Wohlwollen und
Billigung diese Art von Kriegführung niemals so umfangreich und so lange
möglich gewesen wäre, als sie es von jetzt an war. Wir nennen von den nun
rasch aufeinander folgenden Morden und Mordversuchen der Nihilisten nur
einige. Im Januar 1878 fiel ihnen in Rostow am Don ein Polizeispion
Namens Nikonow zum Opfer. Drei Wochen später griffen sie in Kiew den
Staatsanwalt Kotljarewski auf offner Straße mit Pistolenschüssen an, ohne
daß es gelang, der Thäter habhaft zu werden. Am 25. Mai wurde dort der
verhaßte Gendarmeriehauptmann Heyking in belebtester Gegend erdolcht. Der
Mörder entkam, nachdem er einen Arbeiter, der ihn festhalten wollte, nieder¬
geschossen hatte. Nicht lange nachher wurde der Chef der berüchtigten dritten
Abteilung der kaiserlichen Kanzlei, General Mesenzew, nachdem ihm von der
Vehme ein förmliches Todesurteil zugestellt worden war, bei einem Morgen¬
spaziergange von zwei elegant gekleideten jungen Leuten angefallen, von denen
der eine ihn mit einem Dolche durchbohrte, während der andre auf den Be¬
gleiter des Generals mit einem Revolver feuerte. Die Mörder entkamen in
einer bereit gehaltenen Droschke und verschwanden spurlos. Die Entdeckung
eines gegen den Zaren selbst gerichteten, von Marineoffizieren in Nikolajew
mit Anwendung von Dynamik vorbereiteten Mvrdplans bildete den Abschluß
dieses blutigen Sommers, in dem zugleich riesenhafte Feuersbrünste, die als
Werk des nihilistischen Terrorismus galten, die östlichen Städte Rußlands
heimsuchten.

Die Negierung ließ sich weder einschüchtern, noch zu liberalen Zugeständ¬
nissen bewegen, sie verstärkte nnr ihre Unterdrückungsmaßregeln. Die Polizei
nahm massenhafte Verhaftungen vor, aber wenn ihr die Zersprengung des re¬
volutionären Bundes „Land und Freiheit" gelang, so wurde er binnen kurzem
wieder hergestellt und besser als vorher eingerichtet und disziplinirt, und gleich¬
zeitig nahm man eine Umgestaltung des nihilistischen Programms vor. Während
dieses bisher sozialistische Tendenz ohne politische Nebenzwecke gehabt hatte,
nahm es jetzt konstitutionelle Forderungen auf, und mannigfache mit Vertretern
des Liberalismus angeknüpfte Beziehungen ließen bereits den Zeitpunkt nicht
mehr fern erscheinen, wo die gemäßigte und die radikale Opposition sich offen
zum Sturme gegen die konservative Negierung vereinigen würden. Von der voll¬
endeten Wiederherstellung der durch Polizeimaßregeln auf kurze Zeit gestörten
Organisation gab schon im Februar und März eine Reihe von Attentaten
Zeugnis, die teils gelangen, teils mißglückter, z. B. die Ermordung des Fürsten
Krapotkin, desI Gouverneurs von Charkow, und der Schuß, den ein Nihilist
auf den General Mentelen, Nachfolger des Generals Mesenzew vergeblich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/553>, abgerufen am 23.07.2024.