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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Line Geschichte der Parteien in Rußland.

und an der untern Wolga beschränkt; zuletzt machte die Polizei mit einer großen
Treibjagd auf die Agitatoren dieser ersten Wiihlerkampague ein Ende.

Die Ereignisse der nihilistischen Chronik spielen von jetzt an zwei Jahre,
1876 und 1877, nur in den Universitätsstädten, wo die Studenten von der
Partei der "Narodniki" oder "Troglodyten" die Bevölkerung zu Pulsader auf¬
reizten und daneben "Kolonien" am Ural und Kaukasus, sowie an der untern
Wolga gründeten, die dann unter höheren und niederen Beamten dieser Gegenden
gute Geschäfte machten. Im Tschigirinschen Kreise der Provinz Kiew bereiteten
sie sogar einen bewaffneten Aufstand vor, indem sie den Bauern vorspiegelten,
der Zar wolle ihnen das gutsherrliche Land überweisen, besitze aber nicht die
Macht dazu, und so befehle er ihnen, sich selbst zu helfen. Gegen 3000 Bauern
sollen an dieser Verschwörung beteiligt gewesen sein, und 900 wanderten, als
sie entdeckt wurde, ius Gefängnis.

Die dritte Phase der nihilistischen Agitation, die mit dem Jahre 1878
anhebt, fällt zeitlich und ursachlich mit dem Wiederaufleben des Liberalismus
in Rußland zusammen, das sich an den Krieg mit den Türken knüpfte. Bei
dem Streite, der über den Beginn und die Führung desselben zwischen der
Regierung und den Moskaner Slawophilen entbrannte, und bei dem die erstere
zunächst nachgeben und den letzteren ihren Willen thun mußte und dann schwere
Anklagen und Angriffe, wie einst während des Krimkrieges, über sich ergehen
sah, war der Liberalismus der tsrtius und der Nihilismus der aug,roh Zs-nasus.
Die beiden letzteren arbeiteten gemeinsam mit dem Material, das die Unzu¬
friedenheit mit der Unfähigkeit des Oberbefehlshabers der europäischen Armee,
Großfürst Nikolaus, mit den skandalösen Zuständen im Lcizaret- und Fcldpost-
wcsen, mit den ungeheuerlichen Unterschleifcn bei der Verpflegung der Soldaten
und mit der hochgestiegenen Finanznot lieferten, gegen die Negierung. Diese
Solidarität trat unverkennbar bei den großen nihilistischen Prozessen hervor, die
1876 und 1877 das Publikum in Atem erhielten, und in die im ganzen gegen
3800 Personen verwickelt waren. Die Nihilisten hatten davon einen großen
moralischen Erfolg, indem das Volk, da diese Prozesse öffentlich geführt wurden,
Gelegenheit erhielt, die Aufopferungsfähigkeit und die Siegesgewißheit der
jugendlichen Verschwörer zu bewundern, die oft empörende Mißhandlung derselben
in der Untersuchungshaft zu erfahren und sie ihre revolutionären Lehren mit feuriger
Beredsamkeit vortragen zu hören. Wie das auf die öffentliche Meinung wirkte,
bewies der Ausgang des Prozesses der Vera Sassulitsch, die als Rächerin der
entwürdigenden Mißhandlung des Studenten Vogoljubow den Polizeipräsidenten
General Trepow schwer verwundet hatte, und von dem Petersburger Schwur¬
gerichte freigesprochen wurde, obwohl ihre Schuld auf der Hand lag. Die
nihilistische Partei bemächtigte sich sofort der Tagesfrage, des Protests gegen
polizeiliche Willkür, und fesselte, sie an die Spitze ihres Programms stellend,
die Sympathien der Liberalen noch mehr an ihre Sache. Der politische Mord,


Line Geschichte der Parteien in Rußland.

und an der untern Wolga beschränkt; zuletzt machte die Polizei mit einer großen
Treibjagd auf die Agitatoren dieser ersten Wiihlerkampague ein Ende.

Die Ereignisse der nihilistischen Chronik spielen von jetzt an zwei Jahre,
1876 und 1877, nur in den Universitätsstädten, wo die Studenten von der
Partei der „Narodniki" oder „Troglodyten" die Bevölkerung zu Pulsader auf¬
reizten und daneben „Kolonien" am Ural und Kaukasus, sowie an der untern
Wolga gründeten, die dann unter höheren und niederen Beamten dieser Gegenden
gute Geschäfte machten. Im Tschigirinschen Kreise der Provinz Kiew bereiteten
sie sogar einen bewaffneten Aufstand vor, indem sie den Bauern vorspiegelten,
der Zar wolle ihnen das gutsherrliche Land überweisen, besitze aber nicht die
Macht dazu, und so befehle er ihnen, sich selbst zu helfen. Gegen 3000 Bauern
sollen an dieser Verschwörung beteiligt gewesen sein, und 900 wanderten, als
sie entdeckt wurde, ius Gefängnis.

Die dritte Phase der nihilistischen Agitation, die mit dem Jahre 1878
anhebt, fällt zeitlich und ursachlich mit dem Wiederaufleben des Liberalismus
in Rußland zusammen, das sich an den Krieg mit den Türken knüpfte. Bei
dem Streite, der über den Beginn und die Führung desselben zwischen der
Regierung und den Moskaner Slawophilen entbrannte, und bei dem die erstere
zunächst nachgeben und den letzteren ihren Willen thun mußte und dann schwere
Anklagen und Angriffe, wie einst während des Krimkrieges, über sich ergehen
sah, war der Liberalismus der tsrtius und der Nihilismus der aug,roh Zs-nasus.
Die beiden letzteren arbeiteten gemeinsam mit dem Material, das die Unzu¬
friedenheit mit der Unfähigkeit des Oberbefehlshabers der europäischen Armee,
Großfürst Nikolaus, mit den skandalösen Zuständen im Lcizaret- und Fcldpost-
wcsen, mit den ungeheuerlichen Unterschleifcn bei der Verpflegung der Soldaten
und mit der hochgestiegenen Finanznot lieferten, gegen die Negierung. Diese
Solidarität trat unverkennbar bei den großen nihilistischen Prozessen hervor, die
1876 und 1877 das Publikum in Atem erhielten, und in die im ganzen gegen
3800 Personen verwickelt waren. Die Nihilisten hatten davon einen großen
moralischen Erfolg, indem das Volk, da diese Prozesse öffentlich geführt wurden,
Gelegenheit erhielt, die Aufopferungsfähigkeit und die Siegesgewißheit der
jugendlichen Verschwörer zu bewundern, die oft empörende Mißhandlung derselben
in der Untersuchungshaft zu erfahren und sie ihre revolutionären Lehren mit feuriger
Beredsamkeit vortragen zu hören. Wie das auf die öffentliche Meinung wirkte,
bewies der Ausgang des Prozesses der Vera Sassulitsch, die als Rächerin der
entwürdigenden Mißhandlung des Studenten Vogoljubow den Polizeipräsidenten
General Trepow schwer verwundet hatte, und von dem Petersburger Schwur¬
gerichte freigesprochen wurde, obwohl ihre Schuld auf der Hand lag. Die
nihilistische Partei bemächtigte sich sofort der Tagesfrage, des Protests gegen
polizeiliche Willkür, und fesselte, sie an die Spitze ihres Programms stellend,
die Sympathien der Liberalen noch mehr an ihre Sache. Der politische Mord,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/552>, abgerufen am 23.07.2024.