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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Line Geschichte der Parteien in Rußland.

Ursache so vielen Elendes nach ihrer demokratischen Anschauung der Dinge im
revolutionären Sinne. Versäumniß der Regierung und der höhern Klassen war
schuld daran. Wodurch verdiente die auf Kosten des Volkes gebildete Minder¬
heit ihre bevorzugte Stellung, wenn sie sie nicht zur Ausgleichung des gesell¬
schaftlichen Gegensatzes benutzte? Der Reiche besitzt sein Geld und Gut für
das Volk, der Studirende sammelt Kenntnisse für das Volk, und es ist Zeit,
etwas für das Volk zu thun. An diesem Punkte setzte der rastlose Bakunin
ein, indem er von Zürich her, wo damals viele Russen und Russinnen studirten,
mit den Tschaikowzen in Verbindung trat und ihnen ein zündendes Losungswort
zurief: "Verlaßt die Schulen, wendet euch ab von der Wissenschaft, die nur
bindet und entmannt, und zieht hinaus unter das Volk, um es von ver¬
brecherischer Knechtschaft zu befreien." Der sanguinische Manu nahm dabei an,
das russische Volk sei von Natur revolutionär gesinnt, und es komme nur
darauf an, ihm seine Macht zum Bewußtsein zu bringen und es durch häufig
wiederholte Putsche zur Bethätigung jener Stimmung zu erziehen; nach erfolgten?
Umsturze des Staates werde es zeigen, daß es sich ohne wissenschaftlichen
Beistand selbst naturgemäß einzurichten befähigt sei. Wem das nicht einleuchtete,
der hielt sich an den andern Meister in Zürich, Lawrow, der früher Professor
an der Petersburger Kriegsakademie, dann Teilnehmer am Kommune-Aufstande
gewesen war, und der jetzt den an der schweizer Hochschule studirenden Russen und
Russinnen die Ansicht vortrug, das Volk hasse an sich den Staat nicht, habe
anch kein Bewußtsein von seiner elenden Lage und sei endlich nicht befähigt,
die Staats- und Gesellschaftsgestalt der Zukunft zu ersinnen, und anderseits
sei die Vorbedingung zu erfolgreicher Agitation nicht nur ausgebreitete Bildung,
sondern auch gründliche Kenntnis des Volles. Diese Vorträge nahmen plötzlich
ein Ende, als eine kaiserliche Verordnung 1878 den Russen das Studium an
der Züricher Universität verbot. Der ganze Schwarm der "Bakunisth" und
"Lawristy" stürzte sich jetzt auf die Heimat und füllte die Reihen der nihilistischen
Propaganda. Es wurde Mode, "ins Volk zu ziehen," d. h. Bauerntracht
anzulegen, sich Gesicht und Hände künstlich zu bräunen, einen Sack mit Wühler-
traktätchen auf den Rücken zu nehmen, einen gefälschten Paß in die Stiefel
zu stecken und uun, als einfacher Arbeiter auftretend, die im Selbstbildungs-
vercin gelernten revolutionären Ideen dein gemeinen Manne beizubringen. Neben
der fliegenden Propaganda dieser Wanderprediger suchten andre als Volksschul-
lehrer, als Kreisärzte, als Inhaber von Kramläden, die weiblichen Wühler als
Jmpferinnen oder Lehrerinnen Gelegenheit zum Verkehr mit dem Volke. Es wurden
Schustereien, Tischlereien und Schmieden eingerichtet, wo die junge Mannschaft
des Nihilismus ihr Handwerk erlernte. Die Anzahl dieser "Volksgänger" soll
im Jahre 1375 zweitausend überstiegen haben. Aber obwohl sie nicht ungeschickt
zu Werke gingen, war ihr Erfolg bei der Stumpfheit der Bauern nicht erheblich
und in der Hauptsache auf die Universitätsstädte und die Gegenden am Dujepr


Line Geschichte der Parteien in Rußland.

Ursache so vielen Elendes nach ihrer demokratischen Anschauung der Dinge im
revolutionären Sinne. Versäumniß der Regierung und der höhern Klassen war
schuld daran. Wodurch verdiente die auf Kosten des Volkes gebildete Minder¬
heit ihre bevorzugte Stellung, wenn sie sie nicht zur Ausgleichung des gesell¬
schaftlichen Gegensatzes benutzte? Der Reiche besitzt sein Geld und Gut für
das Volk, der Studirende sammelt Kenntnisse für das Volk, und es ist Zeit,
etwas für das Volk zu thun. An diesem Punkte setzte der rastlose Bakunin
ein, indem er von Zürich her, wo damals viele Russen und Russinnen studirten,
mit den Tschaikowzen in Verbindung trat und ihnen ein zündendes Losungswort
zurief: „Verlaßt die Schulen, wendet euch ab von der Wissenschaft, die nur
bindet und entmannt, und zieht hinaus unter das Volk, um es von ver¬
brecherischer Knechtschaft zu befreien." Der sanguinische Manu nahm dabei an,
das russische Volk sei von Natur revolutionär gesinnt, und es komme nur
darauf an, ihm seine Macht zum Bewußtsein zu bringen und es durch häufig
wiederholte Putsche zur Bethätigung jener Stimmung zu erziehen; nach erfolgten?
Umsturze des Staates werde es zeigen, daß es sich ohne wissenschaftlichen
Beistand selbst naturgemäß einzurichten befähigt sei. Wem das nicht einleuchtete,
der hielt sich an den andern Meister in Zürich, Lawrow, der früher Professor
an der Petersburger Kriegsakademie, dann Teilnehmer am Kommune-Aufstande
gewesen war, und der jetzt den an der schweizer Hochschule studirenden Russen und
Russinnen die Ansicht vortrug, das Volk hasse an sich den Staat nicht, habe
anch kein Bewußtsein von seiner elenden Lage und sei endlich nicht befähigt,
die Staats- und Gesellschaftsgestalt der Zukunft zu ersinnen, und anderseits
sei die Vorbedingung zu erfolgreicher Agitation nicht nur ausgebreitete Bildung,
sondern auch gründliche Kenntnis des Volles. Diese Vorträge nahmen plötzlich
ein Ende, als eine kaiserliche Verordnung 1878 den Russen das Studium an
der Züricher Universität verbot. Der ganze Schwarm der „Bakunisth" und
„Lawristy" stürzte sich jetzt auf die Heimat und füllte die Reihen der nihilistischen
Propaganda. Es wurde Mode, „ins Volk zu ziehen," d. h. Bauerntracht
anzulegen, sich Gesicht und Hände künstlich zu bräunen, einen Sack mit Wühler-
traktätchen auf den Rücken zu nehmen, einen gefälschten Paß in die Stiefel
zu stecken und uun, als einfacher Arbeiter auftretend, die im Selbstbildungs-
vercin gelernten revolutionären Ideen dein gemeinen Manne beizubringen. Neben
der fliegenden Propaganda dieser Wanderprediger suchten andre als Volksschul-
lehrer, als Kreisärzte, als Inhaber von Kramläden, die weiblichen Wühler als
Jmpferinnen oder Lehrerinnen Gelegenheit zum Verkehr mit dem Volke. Es wurden
Schustereien, Tischlereien und Schmieden eingerichtet, wo die junge Mannschaft
des Nihilismus ihr Handwerk erlernte. Die Anzahl dieser „Volksgänger" soll
im Jahre 1375 zweitausend überstiegen haben. Aber obwohl sie nicht ungeschickt
zu Werke gingen, war ihr Erfolg bei der Stumpfheit der Bauern nicht erheblich
und in der Hauptsache auf die Universitätsstädte und die Gegenden am Dujepr


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[0551] Line Geschichte der Parteien in Rußland. Ursache so vielen Elendes nach ihrer demokratischen Anschauung der Dinge im revolutionären Sinne. Versäumniß der Regierung und der höhern Klassen war schuld daran. Wodurch verdiente die auf Kosten des Volkes gebildete Minder¬ heit ihre bevorzugte Stellung, wenn sie sie nicht zur Ausgleichung des gesell¬ schaftlichen Gegensatzes benutzte? Der Reiche besitzt sein Geld und Gut für das Volk, der Studirende sammelt Kenntnisse für das Volk, und es ist Zeit, etwas für das Volk zu thun. An diesem Punkte setzte der rastlose Bakunin ein, indem er von Zürich her, wo damals viele Russen und Russinnen studirten, mit den Tschaikowzen in Verbindung trat und ihnen ein zündendes Losungswort zurief: „Verlaßt die Schulen, wendet euch ab von der Wissenschaft, die nur bindet und entmannt, und zieht hinaus unter das Volk, um es von ver¬ brecherischer Knechtschaft zu befreien." Der sanguinische Manu nahm dabei an, das russische Volk sei von Natur revolutionär gesinnt, und es komme nur darauf an, ihm seine Macht zum Bewußtsein zu bringen und es durch häufig wiederholte Putsche zur Bethätigung jener Stimmung zu erziehen; nach erfolgten? Umsturze des Staates werde es zeigen, daß es sich ohne wissenschaftlichen Beistand selbst naturgemäß einzurichten befähigt sei. Wem das nicht einleuchtete, der hielt sich an den andern Meister in Zürich, Lawrow, der früher Professor an der Petersburger Kriegsakademie, dann Teilnehmer am Kommune-Aufstande gewesen war, und der jetzt den an der schweizer Hochschule studirenden Russen und Russinnen die Ansicht vortrug, das Volk hasse an sich den Staat nicht, habe anch kein Bewußtsein von seiner elenden Lage und sei endlich nicht befähigt, die Staats- und Gesellschaftsgestalt der Zukunft zu ersinnen, und anderseits sei die Vorbedingung zu erfolgreicher Agitation nicht nur ausgebreitete Bildung, sondern auch gründliche Kenntnis des Volles. Diese Vorträge nahmen plötzlich ein Ende, als eine kaiserliche Verordnung 1878 den Russen das Studium an der Züricher Universität verbot. Der ganze Schwarm der „Bakunisth" und „Lawristy" stürzte sich jetzt auf die Heimat und füllte die Reihen der nihilistischen Propaganda. Es wurde Mode, „ins Volk zu ziehen," d. h. Bauerntracht anzulegen, sich Gesicht und Hände künstlich zu bräunen, einen Sack mit Wühler- traktätchen auf den Rücken zu nehmen, einen gefälschten Paß in die Stiefel zu stecken und uun, als einfacher Arbeiter auftretend, die im Selbstbildungs- vercin gelernten revolutionären Ideen dein gemeinen Manne beizubringen. Neben der fliegenden Propaganda dieser Wanderprediger suchten andre als Volksschul- lehrer, als Kreisärzte, als Inhaber von Kramläden, die weiblichen Wühler als Jmpferinnen oder Lehrerinnen Gelegenheit zum Verkehr mit dem Volke. Es wurden Schustereien, Tischlereien und Schmieden eingerichtet, wo die junge Mannschaft des Nihilismus ihr Handwerk erlernte. Die Anzahl dieser „Volksgänger" soll im Jahre 1375 zweitausend überstiegen haben. Aber obwohl sie nicht ungeschickt zu Werke gingen, war ihr Erfolg bei der Stumpfheit der Bauern nicht erheblich und in der Hauptsache auf die Universitätsstädte und die Gegenden am Dujepr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/551>, abgerufen am 23.07.2024.