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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Eine Geschichte der Parteien in Rußland.

treten der äußern Politik und einem gewissen Abschlüsse der von Moskau her
geleiteten Nussifizirung Polens auch die Bedeutung der Katkowschen Partei
abzunehmen begann, beruhigte sich die Gesellschaft vollständig. Dagegen be¬
wirkte die seit 1869 einsetzende Neaktionspolitik, namentlich die Unterbindung
der soeben erwähnten freiheitlichen Einrichtungen, Erregung im liberalen Publi¬
kum, die ihrerseits die radikale Unterströmung wieder in Fluß brachte. Die
schnellen Erfolge des Lassalleschen Arbeitervereins und der Marxschen Inter¬
nationale, der Aufschwung der deutschen Sozialdemokratie seit 1868, die Pariser
Kommune von 1871 reizten daneben die russische Jugend wie Vorwürfe und
Beispiele. Das übrige thaten Übersetzungen der Brandreden Lassalles und ähn¬
licher Hetzschriften. Es war ein neues Geschlecht, das diese jüngere nihilistische
Bewegung betrieb, ein Geschlecht ohne die kokette Selbstbespiegelung, ohne das
maßlose Selbstvertrauen und ohne die vielgeschäftige Planlosigkeit der frühern
Radikalen, ernster, praktischer, wenn das einzige Ziel, das es hatte, die sozia¬
listische Revolution, praktisch genannt werden darf. Noch fehlte der Führer
der Armee, die den Staat umstürzen sollte. Er kam mit dem tollen, aber un¬
veränderlichen Bakunin, der die Religion und das Erbrecht abschaffe" und den
Staat in seine kleinsten wirtschaftlichen Einheiten zersplittern wollte und seinen
Anhängern zur Pflicht machte, jeden, der die Einrichtung dieses Ziels hinderte,
zu ermorden und selbst für dies Ziel den Tod zu erleiden. Dabei ging ihm
der begabte, aber völlig gewissenlose Schwindler Netschajew einige Zeit zur
Hand, der mit der Glorie des Flüchtlings in Nußland erschien und eine Ver¬
schwörergesellschaft "zum Volksgericht" oder "zum Beil" gründete, die für den
19. Februar 1870 eine große Revolution mit Kaisermord plante. Sie wurde
jedoch entdeckt, als Netschajew einen Mitverschwörer, den Studenten Jwanow,
der sich widerspenstig gegen seine unbedingte Vollmacht gezeigt hatte, ermorden
ließ (November 1869), eine Untersuchung wurde eingeleitet und im Sommer
1871 siebenundachtzig Personen der Prozeß gemacht. Netschajew entfloh in
die Schweiz, wurde aber 1872 an Nußland ausgeliefert und verurteilt.

Eine neue Bewegung ging von den Vereinen zum Selbststudium aus, die
sich an den Universitäten und Gymnasien gebildet hatten, und die entscheidende
Wendung gab derselben das Bekanntwerden der Thatsache, daß die Emanzipation
der Bauern Unheil für diese zur Folge gehabt hatte. Sie waren nicht im
Stande, ihre Freiheit zu benutzen, indem sie Selbstzucht übten. Faulheit und
Vernachlässigung, Trunksucht und Verschuldung nahmen, besonders im Norden,
auf erschreckende Weise überhand. Mehrere Mißernten waren die Folgen
schlechter Bestellung der Felder, der Viehstand ging zurück, gemeinnützige An¬
stalten, Krankenhäuser u. tgi. wurden geschlossen, dagegen mehrten sich die
Schenken. Die Lesevereine, unter denen die 1869 in Petersburg gegründeten
und bald in Hunderten von Zweigverbänden über das ganze Reich verbreiteten
Tschaikvwzen die erste Stelle einnahmen, beantworteten die Frage nach der


Eine Geschichte der Parteien in Rußland.

treten der äußern Politik und einem gewissen Abschlüsse der von Moskau her
geleiteten Nussifizirung Polens auch die Bedeutung der Katkowschen Partei
abzunehmen begann, beruhigte sich die Gesellschaft vollständig. Dagegen be¬
wirkte die seit 1869 einsetzende Neaktionspolitik, namentlich die Unterbindung
der soeben erwähnten freiheitlichen Einrichtungen, Erregung im liberalen Publi¬
kum, die ihrerseits die radikale Unterströmung wieder in Fluß brachte. Die
schnellen Erfolge des Lassalleschen Arbeitervereins und der Marxschen Inter¬
nationale, der Aufschwung der deutschen Sozialdemokratie seit 1868, die Pariser
Kommune von 1871 reizten daneben die russische Jugend wie Vorwürfe und
Beispiele. Das übrige thaten Übersetzungen der Brandreden Lassalles und ähn¬
licher Hetzschriften. Es war ein neues Geschlecht, das diese jüngere nihilistische
Bewegung betrieb, ein Geschlecht ohne die kokette Selbstbespiegelung, ohne das
maßlose Selbstvertrauen und ohne die vielgeschäftige Planlosigkeit der frühern
Radikalen, ernster, praktischer, wenn das einzige Ziel, das es hatte, die sozia¬
listische Revolution, praktisch genannt werden darf. Noch fehlte der Führer
der Armee, die den Staat umstürzen sollte. Er kam mit dem tollen, aber un¬
veränderlichen Bakunin, der die Religion und das Erbrecht abschaffe» und den
Staat in seine kleinsten wirtschaftlichen Einheiten zersplittern wollte und seinen
Anhängern zur Pflicht machte, jeden, der die Einrichtung dieses Ziels hinderte,
zu ermorden und selbst für dies Ziel den Tod zu erleiden. Dabei ging ihm
der begabte, aber völlig gewissenlose Schwindler Netschajew einige Zeit zur
Hand, der mit der Glorie des Flüchtlings in Nußland erschien und eine Ver¬
schwörergesellschaft „zum Volksgericht" oder „zum Beil" gründete, die für den
19. Februar 1870 eine große Revolution mit Kaisermord plante. Sie wurde
jedoch entdeckt, als Netschajew einen Mitverschwörer, den Studenten Jwanow,
der sich widerspenstig gegen seine unbedingte Vollmacht gezeigt hatte, ermorden
ließ (November 1869), eine Untersuchung wurde eingeleitet und im Sommer
1871 siebenundachtzig Personen der Prozeß gemacht. Netschajew entfloh in
die Schweiz, wurde aber 1872 an Nußland ausgeliefert und verurteilt.

Eine neue Bewegung ging von den Vereinen zum Selbststudium aus, die
sich an den Universitäten und Gymnasien gebildet hatten, und die entscheidende
Wendung gab derselben das Bekanntwerden der Thatsache, daß die Emanzipation
der Bauern Unheil für diese zur Folge gehabt hatte. Sie waren nicht im
Stande, ihre Freiheit zu benutzen, indem sie Selbstzucht übten. Faulheit und
Vernachlässigung, Trunksucht und Verschuldung nahmen, besonders im Norden,
auf erschreckende Weise überhand. Mehrere Mißernten waren die Folgen
schlechter Bestellung der Felder, der Viehstand ging zurück, gemeinnützige An¬
stalten, Krankenhäuser u. tgi. wurden geschlossen, dagegen mehrten sich die
Schenken. Die Lesevereine, unter denen die 1869 in Petersburg gegründeten
und bald in Hunderten von Zweigverbänden über das ganze Reich verbreiteten
Tschaikvwzen die erste Stelle einnahmen, beantworteten die Frage nach der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/550>, abgerufen am 25.08.2024.