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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Heiligen von Lecco.

auf das Schloß Don Nodrigos, das Dorf Renzos und die Burg des Unbekannten
zu deuten nicht müde werden. Glücklicherweise thut dabei einer den andern ab,
und Camen wird für die unerträgliche Langeweile, die er seinen Lesern verur¬
sacht, durch Fumagalli bestraft, der als Verfasser eines Führers in die Um¬
gegend der Stadt an Unwissenheit und Albernheit selbst unter seinesgleichen
unerreicht dasteht.

Eine andre Eigentümlichkeit der Gegend sind die merkwürdigen Heiligen,
die sie beherbergt. Wie es Bischöfe in x^rtidus Inlläölinin, außerordentliche
Professoren und Geheime Räte giebt, die niemandem auf Erden etwas zu raten
haben, so scheint es auch Heilige zu geben, die niemand heilig gesprochen hat,
Hausexzcllenzen, denen das Volk in der Umgegend ihres Heiligenscheines den
Namen Santo aus eigner Machtvollkommenheit verleiht.

Zu ihnen gehört San Gerolamo Miami, der eine Kirche und zahlreiche
Kapellen oberhalb von Vercurago, einem Dörfchen des Addathales, etwa fünf
Kilometer südlich von Lecco, sein eigen nennt. Ungefähr hundert Meter über
der Thalsohle liegt die kleine Kirche mit der entzückendsten Aussicht auf Thal
und Bergwände. Kommt man oben an, so läßt der zu dem Heiligtume gehörige
Wirt sein Bocciaspiel einen Augenblick ruhen und fragt, ob man nicht "zu
Ehren des Heiligen" ein Glas Wein trinken wolle -- ein Genuß, der nicht
gerade dadurch erhöht wird, daß die Bocciakugeln fortwährend um die Füße
des Ausruhenden herumrollen, von dem furchtbaren, landesüblichen Geschrei,
welches das Spiel begleitet, ganz abzusehen.

Vom Thale bis zur Kirche führt eine Kapellenstraße -- wenn man sie so
nennen darf --, ein Marterweg, wie man ihn nicht schlimmer denken kann.
Nur wer eifrig deutsches Kunstgewerbe betrachtet und dessen entsetzliche Lands'
knechte mit ihren wallenden Federn und ähnlichem Zubehör anzusehen gewöhnt
ist, wird diese Kapellen mit ihrem Inhalte ohne Schaden auf sich wirken lassen.
Auf den buntbemalten Hinterwänden der Kapellen heben sich nämlich sogenannte
Skulpturen aus Holz ab, die den Heiligen in verschiedenen Lebenslagen und
Thaten darstellen; sie sind von einem Bergamasker Künstler Namens Carminati
im Jahre 1882 hergestellt worden und ein Muster ungeschminkter, prätensions-
loser Häßlichkeit.

Von der Mitte dieses Weges führt eine steile Bußtreppe mit steinernen
Stufen etwa dreißig Meter in die Höhe, die Neigung dürfte 45 Grad betragen.
Wer diese Treppe auf den Knieen hinaufrutscht, erhält laut einer unten an¬
gebrachten Bekanntmachung Pius des Neunten aus dem Jahre 1372 sieben
Jahre und sieben mal vierzig Tage Ablaß, der auch für die Seelen Verstor¬
bener anwendbar (axxlioMlö) ist.

Ich sah zwei arme Frauen die Treppen hinaufkriechen. Nachher gingen
sie in die Kirche und wandten sich darauf an den Wirt der daneben liegenden
Osterie, um eine Messe lesen zu lassen. Da der Priester nicht zugegen war,


Die Heiligen von Lecco.

auf das Schloß Don Nodrigos, das Dorf Renzos und die Burg des Unbekannten
zu deuten nicht müde werden. Glücklicherweise thut dabei einer den andern ab,
und Camen wird für die unerträgliche Langeweile, die er seinen Lesern verur¬
sacht, durch Fumagalli bestraft, der als Verfasser eines Führers in die Um¬
gegend der Stadt an Unwissenheit und Albernheit selbst unter seinesgleichen
unerreicht dasteht.

Eine andre Eigentümlichkeit der Gegend sind die merkwürdigen Heiligen,
die sie beherbergt. Wie es Bischöfe in x^rtidus Inlläölinin, außerordentliche
Professoren und Geheime Räte giebt, die niemandem auf Erden etwas zu raten
haben, so scheint es auch Heilige zu geben, die niemand heilig gesprochen hat,
Hausexzcllenzen, denen das Volk in der Umgegend ihres Heiligenscheines den
Namen Santo aus eigner Machtvollkommenheit verleiht.

Zu ihnen gehört San Gerolamo Miami, der eine Kirche und zahlreiche
Kapellen oberhalb von Vercurago, einem Dörfchen des Addathales, etwa fünf
Kilometer südlich von Lecco, sein eigen nennt. Ungefähr hundert Meter über
der Thalsohle liegt die kleine Kirche mit der entzückendsten Aussicht auf Thal
und Bergwände. Kommt man oben an, so läßt der zu dem Heiligtume gehörige
Wirt sein Bocciaspiel einen Augenblick ruhen und fragt, ob man nicht „zu
Ehren des Heiligen" ein Glas Wein trinken wolle — ein Genuß, der nicht
gerade dadurch erhöht wird, daß die Bocciakugeln fortwährend um die Füße
des Ausruhenden herumrollen, von dem furchtbaren, landesüblichen Geschrei,
welches das Spiel begleitet, ganz abzusehen.

Vom Thale bis zur Kirche führt eine Kapellenstraße — wenn man sie so
nennen darf —, ein Marterweg, wie man ihn nicht schlimmer denken kann.
Nur wer eifrig deutsches Kunstgewerbe betrachtet und dessen entsetzliche Lands'
knechte mit ihren wallenden Federn und ähnlichem Zubehör anzusehen gewöhnt
ist, wird diese Kapellen mit ihrem Inhalte ohne Schaden auf sich wirken lassen.
Auf den buntbemalten Hinterwänden der Kapellen heben sich nämlich sogenannte
Skulpturen aus Holz ab, die den Heiligen in verschiedenen Lebenslagen und
Thaten darstellen; sie sind von einem Bergamasker Künstler Namens Carminati
im Jahre 1882 hergestellt worden und ein Muster ungeschminkter, prätensions-
loser Häßlichkeit.

Von der Mitte dieses Weges führt eine steile Bußtreppe mit steinernen
Stufen etwa dreißig Meter in die Höhe, die Neigung dürfte 45 Grad betragen.
Wer diese Treppe auf den Knieen hinaufrutscht, erhält laut einer unten an¬
gebrachten Bekanntmachung Pius des Neunten aus dem Jahre 1372 sieben
Jahre und sieben mal vierzig Tage Ablaß, der auch für die Seelen Verstor¬
bener anwendbar (axxlioMlö) ist.

Ich sah zwei arme Frauen die Treppen hinaufkriechen. Nachher gingen
sie in die Kirche und wandten sich darauf an den Wirt der daneben liegenden
Osterie, um eine Messe lesen zu lassen. Da der Priester nicht zugegen war,


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[0526] Die Heiligen von Lecco. auf das Schloß Don Nodrigos, das Dorf Renzos und die Burg des Unbekannten zu deuten nicht müde werden. Glücklicherweise thut dabei einer den andern ab, und Camen wird für die unerträgliche Langeweile, die er seinen Lesern verur¬ sacht, durch Fumagalli bestraft, der als Verfasser eines Führers in die Um¬ gegend der Stadt an Unwissenheit und Albernheit selbst unter seinesgleichen unerreicht dasteht. Eine andre Eigentümlichkeit der Gegend sind die merkwürdigen Heiligen, die sie beherbergt. Wie es Bischöfe in x^rtidus Inlläölinin, außerordentliche Professoren und Geheime Räte giebt, die niemandem auf Erden etwas zu raten haben, so scheint es auch Heilige zu geben, die niemand heilig gesprochen hat, Hausexzcllenzen, denen das Volk in der Umgegend ihres Heiligenscheines den Namen Santo aus eigner Machtvollkommenheit verleiht. Zu ihnen gehört San Gerolamo Miami, der eine Kirche und zahlreiche Kapellen oberhalb von Vercurago, einem Dörfchen des Addathales, etwa fünf Kilometer südlich von Lecco, sein eigen nennt. Ungefähr hundert Meter über der Thalsohle liegt die kleine Kirche mit der entzückendsten Aussicht auf Thal und Bergwände. Kommt man oben an, so läßt der zu dem Heiligtume gehörige Wirt sein Bocciaspiel einen Augenblick ruhen und fragt, ob man nicht „zu Ehren des Heiligen" ein Glas Wein trinken wolle — ein Genuß, der nicht gerade dadurch erhöht wird, daß die Bocciakugeln fortwährend um die Füße des Ausruhenden herumrollen, von dem furchtbaren, landesüblichen Geschrei, welches das Spiel begleitet, ganz abzusehen. Vom Thale bis zur Kirche führt eine Kapellenstraße — wenn man sie so nennen darf —, ein Marterweg, wie man ihn nicht schlimmer denken kann. Nur wer eifrig deutsches Kunstgewerbe betrachtet und dessen entsetzliche Lands' knechte mit ihren wallenden Federn und ähnlichem Zubehör anzusehen gewöhnt ist, wird diese Kapellen mit ihrem Inhalte ohne Schaden auf sich wirken lassen. Auf den buntbemalten Hinterwänden der Kapellen heben sich nämlich sogenannte Skulpturen aus Holz ab, die den Heiligen in verschiedenen Lebenslagen und Thaten darstellen; sie sind von einem Bergamasker Künstler Namens Carminati im Jahre 1882 hergestellt worden und ein Muster ungeschminkter, prätensions- loser Häßlichkeit. Von der Mitte dieses Weges führt eine steile Bußtreppe mit steinernen Stufen etwa dreißig Meter in die Höhe, die Neigung dürfte 45 Grad betragen. Wer diese Treppe auf den Knieen hinaufrutscht, erhält laut einer unten an¬ gebrachten Bekanntmachung Pius des Neunten aus dem Jahre 1372 sieben Jahre und sieben mal vierzig Tage Ablaß, der auch für die Seelen Verstor¬ bener anwendbar (axxlioMlö) ist. Ich sah zwei arme Frauen die Treppen hinaufkriechen. Nachher gingen sie in die Kirche und wandten sich darauf an den Wirt der daneben liegenden Osterie, um eine Messe lesen zu lassen. Da der Priester nicht zugegen war,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/526>, abgerufen am 22.07.2024.