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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart.

wenn man sie nicht an der eignen Person ausführt? Wie kann der Naturalist
nach seinen eignen Theorien z. B. die Gedankenkctten und Gcfühlswirbel eines
Trunkenbolds wahrheitsgetreu schildern, wenn er die Erfahrungen nicht aus
seiner eignen Natur schöpft, d. h. selbst schon ein leidliches Delirium trsraevs
durchgemacht hat?

Mit der LxpErimentÄtion ist es also eitel Spiegelfechterei, und die ovser-
vation, die vielgerühmte Beobachtung, bildet doch oft einen ziemlich faden¬
scheinigen Deckmantel für Geister ohne zeugungsfähige Einbildungskraft und
ohne klare Einsicht in das geistige Schaffen. Ist denn ein Gegenstand, eine
Person, eine Handlung mit der bloßen Beobachtung durch die sinnliche Anschauung
bereits nach jeder Richtung hin erkannt und gewürdigt? Muß nicht jedesmal
der ganze Mechanismus unsers Denkvermögens, Zerlegung, Gegenüberstellung.
Vergleichung, Abstraktion, d. h. ein wechselvolles Spiel unsrer ganzen Phantasie
in Bewegung gesetzt werden, um zu einer klaren Erkenntnis zu gelangen?
spiegelt sich nicht die gesamte Erscheinungswelt in verschiedenen Geistern ver¬
schiedenartig? Wo ist da Natur und Wahrheit? So viel man auch reden
mag, Zolas roro.a,u. et'ovsöivatioll et et'exxvrwisiitMvn ist eine offenbare Un¬
möglichkeit, ein bloßes Hirngespinnst; und seltsam, Zolas Romane beruhen
garnicht auf Beobachtung und Experiment. Sie sind, einer wie der andre, das
Erzeugnis eines kalten, klügelnden Verstandes, der die Fähigkeit besitzt,
gewisse von einer krankhaften Phantasie bereits geschaffene, auch schon von
andern Schriftstellern benutzte sinnliche Reizmittel wirkungsvoll aneinander zu
reihen. Weder seine zum Überdruß ausführlichen und daher zwecklosen Beschrei¬
bungen, deren geschickte Mache man ja anerkennen muß, noch der Stoff und
die Handlung, deren Dürftigkeit oft gähnende Langweile erzeugt, noch die
Sprache, die von abgebrauchter Metaphern, gezierten Vergleichen und roman¬
tischen Umkehrungen, besonders an Theophile Gautier wimmelt, halten das
Interesse bei der großen Masse der Leser rege; nein, die Oasen, die aufgesucht
werden, in denen sich der Lesepöbcl mit Wohlbehagen lagert, das sind doch
nur die Stellen, in denen Szenen geschlechtlicher Ausschweifungen, tierischer
Verirrungen und andrer Gemeinheiten geschildert werden.

Es ist richtig, Zola erzählt keineswegs mit cynischen Lächeln und lüsternen
Andeutungen, sondern ganz sachlich, scheinbar unbewußt und absichtslos mit
der feierlichen Ruhe eines indischen Priesters. Aber gerade hierin liegt das
einzig Originelle an ihm. Was die große Masse in Frankreich dem Schrift¬
steller entgegenbringt, ist immer nur die nervöse Freude an der Mosxliorssocmec:
eis ig, xourriture-, der sogenannte esxril Akmlois, oder, um mit Bischer deut¬
licher zu sprechen, "die alte, keltische Geilheit." Dieses Leitmotiv des Ge-
schechtlich-Sinnlichen hält schon im elften Jahrhundert mit der Ong-rhor An
vo^gM as OdarlemÄAne seinen Einzug in die französische Litteratur und hat
sich auch durch alle Jahrhunderte mit wechselnder Stärke behauptet. "Wir


Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart.

wenn man sie nicht an der eignen Person ausführt? Wie kann der Naturalist
nach seinen eignen Theorien z. B. die Gedankenkctten und Gcfühlswirbel eines
Trunkenbolds wahrheitsgetreu schildern, wenn er die Erfahrungen nicht aus
seiner eignen Natur schöpft, d. h. selbst schon ein leidliches Delirium trsraevs
durchgemacht hat?

Mit der LxpErimentÄtion ist es also eitel Spiegelfechterei, und die ovser-
vation, die vielgerühmte Beobachtung, bildet doch oft einen ziemlich faden¬
scheinigen Deckmantel für Geister ohne zeugungsfähige Einbildungskraft und
ohne klare Einsicht in das geistige Schaffen. Ist denn ein Gegenstand, eine
Person, eine Handlung mit der bloßen Beobachtung durch die sinnliche Anschauung
bereits nach jeder Richtung hin erkannt und gewürdigt? Muß nicht jedesmal
der ganze Mechanismus unsers Denkvermögens, Zerlegung, Gegenüberstellung.
Vergleichung, Abstraktion, d. h. ein wechselvolles Spiel unsrer ganzen Phantasie
in Bewegung gesetzt werden, um zu einer klaren Erkenntnis zu gelangen?
spiegelt sich nicht die gesamte Erscheinungswelt in verschiedenen Geistern ver¬
schiedenartig? Wo ist da Natur und Wahrheit? So viel man auch reden
mag, Zolas roro.a,u. et'ovsöivatioll et et'exxvrwisiitMvn ist eine offenbare Un¬
möglichkeit, ein bloßes Hirngespinnst; und seltsam, Zolas Romane beruhen
garnicht auf Beobachtung und Experiment. Sie sind, einer wie der andre, das
Erzeugnis eines kalten, klügelnden Verstandes, der die Fähigkeit besitzt,
gewisse von einer krankhaften Phantasie bereits geschaffene, auch schon von
andern Schriftstellern benutzte sinnliche Reizmittel wirkungsvoll aneinander zu
reihen. Weder seine zum Überdruß ausführlichen und daher zwecklosen Beschrei¬
bungen, deren geschickte Mache man ja anerkennen muß, noch der Stoff und
die Handlung, deren Dürftigkeit oft gähnende Langweile erzeugt, noch die
Sprache, die von abgebrauchter Metaphern, gezierten Vergleichen und roman¬
tischen Umkehrungen, besonders an Theophile Gautier wimmelt, halten das
Interesse bei der großen Masse der Leser rege; nein, die Oasen, die aufgesucht
werden, in denen sich der Lesepöbcl mit Wohlbehagen lagert, das sind doch
nur die Stellen, in denen Szenen geschlechtlicher Ausschweifungen, tierischer
Verirrungen und andrer Gemeinheiten geschildert werden.

Es ist richtig, Zola erzählt keineswegs mit cynischen Lächeln und lüsternen
Andeutungen, sondern ganz sachlich, scheinbar unbewußt und absichtslos mit
der feierlichen Ruhe eines indischen Priesters. Aber gerade hierin liegt das
einzig Originelle an ihm. Was die große Masse in Frankreich dem Schrift¬
steller entgegenbringt, ist immer nur die nervöse Freude an der Mosxliorssocmec:
eis ig, xourriture-, der sogenannte esxril Akmlois, oder, um mit Bischer deut¬
licher zu sprechen, „die alte, keltische Geilheit." Dieses Leitmotiv des Ge-
schechtlich-Sinnlichen hält schon im elften Jahrhundert mit der Ong-rhor An
vo^gM as OdarlemÄAne seinen Einzug in die französische Litteratur und hat
sich auch durch alle Jahrhunderte mit wechselnder Stärke behauptet. „Wir


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[0515] Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart. wenn man sie nicht an der eignen Person ausführt? Wie kann der Naturalist nach seinen eignen Theorien z. B. die Gedankenkctten und Gcfühlswirbel eines Trunkenbolds wahrheitsgetreu schildern, wenn er die Erfahrungen nicht aus seiner eignen Natur schöpft, d. h. selbst schon ein leidliches Delirium trsraevs durchgemacht hat? Mit der LxpErimentÄtion ist es also eitel Spiegelfechterei, und die ovser- vation, die vielgerühmte Beobachtung, bildet doch oft einen ziemlich faden¬ scheinigen Deckmantel für Geister ohne zeugungsfähige Einbildungskraft und ohne klare Einsicht in das geistige Schaffen. Ist denn ein Gegenstand, eine Person, eine Handlung mit der bloßen Beobachtung durch die sinnliche Anschauung bereits nach jeder Richtung hin erkannt und gewürdigt? Muß nicht jedesmal der ganze Mechanismus unsers Denkvermögens, Zerlegung, Gegenüberstellung. Vergleichung, Abstraktion, d. h. ein wechselvolles Spiel unsrer ganzen Phantasie in Bewegung gesetzt werden, um zu einer klaren Erkenntnis zu gelangen? spiegelt sich nicht die gesamte Erscheinungswelt in verschiedenen Geistern ver¬ schiedenartig? Wo ist da Natur und Wahrheit? So viel man auch reden mag, Zolas roro.a,u. et'ovsöivatioll et et'exxvrwisiitMvn ist eine offenbare Un¬ möglichkeit, ein bloßes Hirngespinnst; und seltsam, Zolas Romane beruhen garnicht auf Beobachtung und Experiment. Sie sind, einer wie der andre, das Erzeugnis eines kalten, klügelnden Verstandes, der die Fähigkeit besitzt, gewisse von einer krankhaften Phantasie bereits geschaffene, auch schon von andern Schriftstellern benutzte sinnliche Reizmittel wirkungsvoll aneinander zu reihen. Weder seine zum Überdruß ausführlichen und daher zwecklosen Beschrei¬ bungen, deren geschickte Mache man ja anerkennen muß, noch der Stoff und die Handlung, deren Dürftigkeit oft gähnende Langweile erzeugt, noch die Sprache, die von abgebrauchter Metaphern, gezierten Vergleichen und roman¬ tischen Umkehrungen, besonders an Theophile Gautier wimmelt, halten das Interesse bei der großen Masse der Leser rege; nein, die Oasen, die aufgesucht werden, in denen sich der Lesepöbcl mit Wohlbehagen lagert, das sind doch nur die Stellen, in denen Szenen geschlechtlicher Ausschweifungen, tierischer Verirrungen und andrer Gemeinheiten geschildert werden. Es ist richtig, Zola erzählt keineswegs mit cynischen Lächeln und lüsternen Andeutungen, sondern ganz sachlich, scheinbar unbewußt und absichtslos mit der feierlichen Ruhe eines indischen Priesters. Aber gerade hierin liegt das einzig Originelle an ihm. Was die große Masse in Frankreich dem Schrift¬ steller entgegenbringt, ist immer nur die nervöse Freude an der Mosxliorssocmec: eis ig, xourriture-, der sogenannte esxril Akmlois, oder, um mit Bischer deut¬ licher zu sprechen, „die alte, keltische Geilheit." Dieses Leitmotiv des Ge- schechtlich-Sinnlichen hält schon im elften Jahrhundert mit der Ong-rhor An vo^gM as OdarlemÄAne seinen Einzug in die französische Litteratur und hat sich auch durch alle Jahrhunderte mit wechselnder Stärke behauptet. „Wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/515>, abgerufen am 22.07.2024.