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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Berechtigungen.

schule, für den Mittelstand die Bürgerschule, für die höhern und höch-
sten Klassen der Bevölkerung die Gymnasien (Real- und humanistische) --
ist naturgemäß und hat sich bewährt. Freilich verfolgt eine große An¬
zahl von Männern (an ihrer Spitze der Ausschuß für Schulreform) den
Plan, an die Stelle dieser drei neben einander herlaufenden Schulen eine Ein¬
heitsschule zu setzen, die auf ihrer untersten Stufe die Kinder aller Volksklassen
aufnehmen und von der sich später die Bürgerschule und zuletzt das Gymna¬
sium abzweigen soll. Ich behalte mir vor, die schweren Bedenken, die gegen
eine solche Einrichtung sprechen, später an passendem Orte auseinanderzusetzen.
Für jetzt halte ich mich an das Bestehende.

Der Wunsch, ja das Bedürfnis, die militärische Dienstpflicht nicht in drei,
sondern in einem Jahre abzuthun, reicht tief in den besitzenden Vürgerstand
hinab. Wer irgend in der Lage ist, die Kosten des einen Dienstjahrs zu be-
streiten, sucht seinem Sohne diese Erleichterung zu verschaffen. Dazu ist jetzt
Vorbedingung der mehrjährige Besuch eines Gymnasiums oder einer dem Gym¬
nasium gleichstehenden Anstalt. Seinen ganzen Verhältnissen nach gehörte
zwar der junge Mann auf die Bürgerschule. Diese hat aber nicht das Recht,
ihn zum Dienst als Einjährig-Freiwilliger zu entlassen. Des einen Dienstjahrs
wegen wird er also von der Bürgerschule aufs Gymnasium gedrängt.

Das ist sehr schlimm, zuvörderst für die jungen Leute selbst. Anstatt in
der lateinlosen Bürgerschule dasjenige zu lernen, was sie für ihren künftigen
Stand und Beruf brauchen, dies aber gründlich und tüchtig, werden sie mit
Lateinisch und Griechisch geplagt und erfahren sehr wenig von dem, was ihnen
später im praktischen Leben notthut. Die Bürgerschule (freilich auch noch
wesentlicher Verbesserungen fähig und bedürftig) würde ihnen einesteils eine
angemessene, andernteils eine abgeschlossene Bildung mitgeben. Statt dessen er¬
halten sie auf den untern Klassen des Gymnasiums eine ihren künftigen Lebens¬
verhältnissen durchaus nicht entsprechende Halbbildung. Sie wissen, wenn sie
Untersekunda verlassen, viel zu viel und viel zu wenig. Das macht sie ans der
einen Seite untüchtig, auf der andern anspruchsvoll. Es liegt auf der Hand,
daß die Bekanntschaft mit der altklassischer Litteratur und der Zug von Idea¬
lität, den das Gymnasium seinen Schülern einflößt, nicht damit zusammenpaßt,
daß man die Hände dann in die Lohgerbergrube steckt oder einen Handel mit
Kolonialwaaren betreibt. Daher bei so vielen jungen Leuten Geringschätzung
des eignen Berufs, Unzufriedenheit mit der sozialen Stellung und das Drän¬
gen nach etwas, das, wenn auch nicht in Wirklichkeit, so doch ihrer Auffassung
nach, höher und besser ist. Noch weit schlimmer aber gestaltet sich die Sache
meist bei solchen, denen das Gymnasium überhaupt die Lust verdorben hat,
das bürgerliche Gewerbe zu ergreifen, durch welches der, freilich kein Lateinisch
und Griechisch verstehende Vater ein geachteter, vielleicht auch wohlhabender
Mann geworden ist, die sich vielmehr berufen fühlen, es noch viel weiter zu


Die Berechtigungen.

schule, für den Mittelstand die Bürgerschule, für die höhern und höch-
sten Klassen der Bevölkerung die Gymnasien (Real- und humanistische) —
ist naturgemäß und hat sich bewährt. Freilich verfolgt eine große An¬
zahl von Männern (an ihrer Spitze der Ausschuß für Schulreform) den
Plan, an die Stelle dieser drei neben einander herlaufenden Schulen eine Ein¬
heitsschule zu setzen, die auf ihrer untersten Stufe die Kinder aller Volksklassen
aufnehmen und von der sich später die Bürgerschule und zuletzt das Gymna¬
sium abzweigen soll. Ich behalte mir vor, die schweren Bedenken, die gegen
eine solche Einrichtung sprechen, später an passendem Orte auseinanderzusetzen.
Für jetzt halte ich mich an das Bestehende.

Der Wunsch, ja das Bedürfnis, die militärische Dienstpflicht nicht in drei,
sondern in einem Jahre abzuthun, reicht tief in den besitzenden Vürgerstand
hinab. Wer irgend in der Lage ist, die Kosten des einen Dienstjahrs zu be-
streiten, sucht seinem Sohne diese Erleichterung zu verschaffen. Dazu ist jetzt
Vorbedingung der mehrjährige Besuch eines Gymnasiums oder einer dem Gym¬
nasium gleichstehenden Anstalt. Seinen ganzen Verhältnissen nach gehörte
zwar der junge Mann auf die Bürgerschule. Diese hat aber nicht das Recht,
ihn zum Dienst als Einjährig-Freiwilliger zu entlassen. Des einen Dienstjahrs
wegen wird er also von der Bürgerschule aufs Gymnasium gedrängt.

Das ist sehr schlimm, zuvörderst für die jungen Leute selbst. Anstatt in
der lateinlosen Bürgerschule dasjenige zu lernen, was sie für ihren künftigen
Stand und Beruf brauchen, dies aber gründlich und tüchtig, werden sie mit
Lateinisch und Griechisch geplagt und erfahren sehr wenig von dem, was ihnen
später im praktischen Leben notthut. Die Bürgerschule (freilich auch noch
wesentlicher Verbesserungen fähig und bedürftig) würde ihnen einesteils eine
angemessene, andernteils eine abgeschlossene Bildung mitgeben. Statt dessen er¬
halten sie auf den untern Klassen des Gymnasiums eine ihren künftigen Lebens¬
verhältnissen durchaus nicht entsprechende Halbbildung. Sie wissen, wenn sie
Untersekunda verlassen, viel zu viel und viel zu wenig. Das macht sie ans der
einen Seite untüchtig, auf der andern anspruchsvoll. Es liegt auf der Hand,
daß die Bekanntschaft mit der altklassischer Litteratur und der Zug von Idea¬
lität, den das Gymnasium seinen Schülern einflößt, nicht damit zusammenpaßt,
daß man die Hände dann in die Lohgerbergrube steckt oder einen Handel mit
Kolonialwaaren betreibt. Daher bei so vielen jungen Leuten Geringschätzung
des eignen Berufs, Unzufriedenheit mit der sozialen Stellung und das Drän¬
gen nach etwas, das, wenn auch nicht in Wirklichkeit, so doch ihrer Auffassung
nach, höher und besser ist. Noch weit schlimmer aber gestaltet sich die Sache
meist bei solchen, denen das Gymnasium überhaupt die Lust verdorben hat,
das bürgerliche Gewerbe zu ergreifen, durch welches der, freilich kein Lateinisch
und Griechisch verstehende Vater ein geachteter, vielleicht auch wohlhabender
Mann geworden ist, die sich vielmehr berufen fühlen, es noch viel weiter zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/460>, abgerufen am 03.07.2024.