Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.zweite, die zum Teil von denselben Voraussetzungen ausging, aber zu andern Die großen Parteien der späteren Jahrzehnte, die in den Glaubens¬ zweite, die zum Teil von denselben Voraussetzungen ausging, aber zu andern Die großen Parteien der späteren Jahrzehnte, die in den Glaubens¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0454" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203889"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1153" prev="#ID_1152"> zweite, die zum Teil von denselben Voraussetzungen ausging, aber zu andern<lb/> Meinungen und Wünschen gelangte. Sie beruhte, wie jene, auf Idealismus<lb/> und Haß der gegenwärtigen Zustände und Verhältnisse, aber sie kannte keine<lb/> Vorliebe für das Urrussentum und das byzantinische Kirchenwesen. „Ihre An¬<lb/> hänger erkannten vielmehr die Aneignung der europäischen Bildung und die<lb/> Verwirklichung des europäischen Freiheitsgedankens als notwendige Bedingung<lb/> für das Gedeihen der russischen Nation, und daß dabei das neueste Erzeugnis<lb/> des Westens, die von Se. Simon gepredigte Reform der Gesellschaft, die Haupt¬<lb/> rolle spielte, daß eine blos politische, nicht zugleich soziale Umgestaltung als<lb/> Halbgnt verworfen wurde, war selbstverständlich." Entsprechend den Grund¬<lb/> sätzen des Liberalismus und unter dem Einflüsse der polenfreuudlichen Stellung,<lb/> die dessen Heimat, der europäische Westen, einnahm, gestaltete sich das Staats¬<lb/> ideal dieser panslawistischen Richtung oder Schule zu einem Bunde von Re¬<lb/> publiken der slawischen Stämme des Reiches und der Nachbarländer.</p><lb/> <p xml:id="ID_1154" next="#ID_1155"> Die großen Parteien der späteren Jahrzehnte, die in den Glaubens¬<lb/> bekenntnissen dieser akademischen Kreise keimten, haben hier die Persönlichkeiten<lb/> gefunden, welche ihre Führer wurden. Bclinski, Herzen, Ogarew, Bakunin,<lb/> die beiden Aksakow, Katkow und Chomjakow sind, was sie waren, sämtlich hier<lb/> geworden. Übrigens fühlten sich die beiden Gruppen, die romantische und die<lb/> republikanisch-sozialistische, damals nicht so wohl durch ihre abweichenden Mei¬<lb/> nungen geschieden, als vielmehr durch ihren Idealismus und die gemeinsame<lb/> Gefahr verbunden, und mit Haxthcmsens Entdeckung des russischen Gemeinde¬<lb/> besitzes vereinigte sie auch ein sachliches Bindeglied. Diese bisher von den<lb/> werdenden Parteien nicht beachtete Einrichtung ist ein in Großrußland erhalten<lb/> gebliebener uralter Brauch, nach welchem die zu einer Gemeinde vereinigten<lb/> Bauern ihr Land gemeinschaftlich besaßen, und zwar so, daß Wald, Weide<lb/> und Wasser ungeteilt blieben, während die Ackerfläche aller neun Jahre unter<lb/> alle Gemeindeglieder zu möglichst gleichen Teilen neu verlost wurde. Die Leib¬<lb/> eigenschaft hatte daran nur insofern geändert, daß das Land von da an aus<lb/> Ritter- und Domänengütcrn bestand. Der Gutsherr war Eigentümer des Gutes<lb/> und der auf ihm gebornen Bauern, denen er einen beträchtlichen Teil des<lb/> Landes zur Nutzung überließ, und die wieder die alte Vcrteilnngsweise an¬<lb/> wendeten. Neu war eigentlich nur die persönliche Abhängigkeit des Bauern vom<lb/> Gutsbesitzer, seine Pflicht, ihm zu fröhnen. und dessen Verpflichtung, ihn in<lb/> Notfällen zu unterstützen. In Moskau machte die Haxthausensche Entdeckung<lb/> sowohl bei den Slawophilen als bei den sozialistischen Pcmslawisten großes Auf¬<lb/> sehen. Die Slawenfrcunde sahen darin die herrlichste Offenbarung des russischen<lb/> Volksgeistes, die volkswirtschaftliche Verwirklichung der christlichen Nächstenliebe,<lb/> ein unschätzbares Kleinod, das der Bauernstand, das echte Volk, durch die<lb/> Jahrhunderte der Knechtschaft gerettet hatte, das bisher nur geahnte „Prinzip,"<lb/> mit dem das Slawentum die Nachwelt zu beglücken berufen sei, sobald es</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0454]
zweite, die zum Teil von denselben Voraussetzungen ausging, aber zu andern
Meinungen und Wünschen gelangte. Sie beruhte, wie jene, auf Idealismus
und Haß der gegenwärtigen Zustände und Verhältnisse, aber sie kannte keine
Vorliebe für das Urrussentum und das byzantinische Kirchenwesen. „Ihre An¬
hänger erkannten vielmehr die Aneignung der europäischen Bildung und die
Verwirklichung des europäischen Freiheitsgedankens als notwendige Bedingung
für das Gedeihen der russischen Nation, und daß dabei das neueste Erzeugnis
des Westens, die von Se. Simon gepredigte Reform der Gesellschaft, die Haupt¬
rolle spielte, daß eine blos politische, nicht zugleich soziale Umgestaltung als
Halbgnt verworfen wurde, war selbstverständlich." Entsprechend den Grund¬
sätzen des Liberalismus und unter dem Einflüsse der polenfreuudlichen Stellung,
die dessen Heimat, der europäische Westen, einnahm, gestaltete sich das Staats¬
ideal dieser panslawistischen Richtung oder Schule zu einem Bunde von Re¬
publiken der slawischen Stämme des Reiches und der Nachbarländer.
Die großen Parteien der späteren Jahrzehnte, die in den Glaubens¬
bekenntnissen dieser akademischen Kreise keimten, haben hier die Persönlichkeiten
gefunden, welche ihre Führer wurden. Bclinski, Herzen, Ogarew, Bakunin,
die beiden Aksakow, Katkow und Chomjakow sind, was sie waren, sämtlich hier
geworden. Übrigens fühlten sich die beiden Gruppen, die romantische und die
republikanisch-sozialistische, damals nicht so wohl durch ihre abweichenden Mei¬
nungen geschieden, als vielmehr durch ihren Idealismus und die gemeinsame
Gefahr verbunden, und mit Haxthcmsens Entdeckung des russischen Gemeinde¬
besitzes vereinigte sie auch ein sachliches Bindeglied. Diese bisher von den
werdenden Parteien nicht beachtete Einrichtung ist ein in Großrußland erhalten
gebliebener uralter Brauch, nach welchem die zu einer Gemeinde vereinigten
Bauern ihr Land gemeinschaftlich besaßen, und zwar so, daß Wald, Weide
und Wasser ungeteilt blieben, während die Ackerfläche aller neun Jahre unter
alle Gemeindeglieder zu möglichst gleichen Teilen neu verlost wurde. Die Leib¬
eigenschaft hatte daran nur insofern geändert, daß das Land von da an aus
Ritter- und Domänengütcrn bestand. Der Gutsherr war Eigentümer des Gutes
und der auf ihm gebornen Bauern, denen er einen beträchtlichen Teil des
Landes zur Nutzung überließ, und die wieder die alte Vcrteilnngsweise an¬
wendeten. Neu war eigentlich nur die persönliche Abhängigkeit des Bauern vom
Gutsbesitzer, seine Pflicht, ihm zu fröhnen. und dessen Verpflichtung, ihn in
Notfällen zu unterstützen. In Moskau machte die Haxthausensche Entdeckung
sowohl bei den Slawophilen als bei den sozialistischen Pcmslawisten großes Auf¬
sehen. Die Slawenfrcunde sahen darin die herrlichste Offenbarung des russischen
Volksgeistes, die volkswirtschaftliche Verwirklichung der christlichen Nächstenliebe,
ein unschätzbares Kleinod, das der Bauernstand, das echte Volk, durch die
Jahrhunderte der Knechtschaft gerettet hatte, das bisher nur geahnte „Prinzip,"
mit dem das Slawentum die Nachwelt zu beglücken berufen sei, sobald es
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