Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

nommer hat. Die vorliegende Schrift vermeidet diesen Mangel und führt die
Darstellung bis zur Gegenwart fort, sodasz wir in ihr ein vollständiges Bild
der interessanten Erscheinung besitzen, der sich außerdem gute Kritik des dabei
benutzten Materials und geschickte Gruppirung der Thatsachen nachrühmen läßt.

Von höchster Wichtigkeit für die Geschichte Rußlands war es, daß seine
Einführung in die geistige Sphäre der westlichen Völker mit den Mitteln und
auf den Wegen des aufgeklärten Despotismus begonnen wurde. Peter der
Große stellte sich die Aufgabe, die gesamte Denk- und Lebensweise seines Volkes
von Grund aus umzubilden, und scheute dabei dem seinen Neuerungen wenig
geneigten Adel gegenüber selbst vor den rücksichtslosesten Maßregeln nicht
zurück. Durch Zwang zum Staatsdienste bei Verlust der Adelsrechte, durch
Einführung des Dienstadels, durch allerlei Förderung des Streberthums, durch
halbmilitärische Drillung des Zivildienstes wurde ein Beamtenst-ab geschaffen,
dessen Charakter sich aus knechtischer Fügsamkeit, aus unaufhörlicher Sorge um
Gönnerschaft und Emporkommen und aus brutalem Hochmut im Verkehr mit
Untergebnen zusammensetzt, dessen Unredlichkeit im Amte zum Sprichworte ge¬
worden ist, und dem als höchstes Lebensziel eine Stellung in den Peters¬
burger Salons gilt. Diese sittliche Entartung des russischen Adels, die wie
ein Sauerteig das gesamte gesellschaftliche und staatliche Leben durchdringt,
wurde später durch massenhafte Zufuhr ausländischer Kultur vollendet. Das
Eindringen des Deutschtums gerade in die höheren Würdeustellen gewöhnte die
russische Gesellschaft daran, das Fremdländische als überlegen anzusehen, und
chüele der französischen Bildung und Sitte die Bahnen für ihren Siegeszug,
der sich unter Katharina II., der Freundin Voltaires und der Enzyklopädisten,
vollendete. Die durch den Glanz ihrer Außenseite gewinnende, aus Aufklärung
und Empfindsamkeit gemischte Litteratur der Franzosen verschlang die heimischen
Bildungselemente ohne ernsthaften Widerstand. Blasirtheit, Frivolität und
eine stets zunehmende Unfähigkeit zu selbständigem Urteil, eine hoffnungslose
geistige Leere bildeten fortan die Charakterzüge dieser Gesellschaft, die trotz
ihrer Verfeinerung allen barbarischen Lastern und Leidenschaften den freiesten
Spielraum ließ. Die höheren Klassen in Nußland waren einer doppelten Ab¬
hängigkeit verfallen, sie wurden in ihrem Denken und Streben vom Hofe in
Petersburg und von dem, was in Paris Tagesordnung und Mode war, be¬
stimmt. Doch entwickelte sich dagegen schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts
allmählich eine gewisse Gegenwirkung, und zwar von zwei Seiten her; auf der
einen standen die Vertreter des unverdorbenen altrussischen Adels, derbe Naturen,
erfüllt von Verachtung und Haß gegen die entnervende Herrschaft des Fremdlän¬
dischen, die in der Einsamkeit ihrer Landwirtschaft oder im Soldatendienst ihre Be¬
friedigung suchten, auf der andern Seite erhob sich, vom Geiste der romantischen
Schule in Deutschland angeregt, ein Kreis von Schriftstellern, der, weniger radikal
als jener, sich auf kritische Sondirung der sittlichen Schäden beschränkte, an


nommer hat. Die vorliegende Schrift vermeidet diesen Mangel und führt die
Darstellung bis zur Gegenwart fort, sodasz wir in ihr ein vollständiges Bild
der interessanten Erscheinung besitzen, der sich außerdem gute Kritik des dabei
benutzten Materials und geschickte Gruppirung der Thatsachen nachrühmen läßt.

Von höchster Wichtigkeit für die Geschichte Rußlands war es, daß seine
Einführung in die geistige Sphäre der westlichen Völker mit den Mitteln und
auf den Wegen des aufgeklärten Despotismus begonnen wurde. Peter der
Große stellte sich die Aufgabe, die gesamte Denk- und Lebensweise seines Volkes
von Grund aus umzubilden, und scheute dabei dem seinen Neuerungen wenig
geneigten Adel gegenüber selbst vor den rücksichtslosesten Maßregeln nicht
zurück. Durch Zwang zum Staatsdienste bei Verlust der Adelsrechte, durch
Einführung des Dienstadels, durch allerlei Förderung des Streberthums, durch
halbmilitärische Drillung des Zivildienstes wurde ein Beamtenst-ab geschaffen,
dessen Charakter sich aus knechtischer Fügsamkeit, aus unaufhörlicher Sorge um
Gönnerschaft und Emporkommen und aus brutalem Hochmut im Verkehr mit
Untergebnen zusammensetzt, dessen Unredlichkeit im Amte zum Sprichworte ge¬
worden ist, und dem als höchstes Lebensziel eine Stellung in den Peters¬
burger Salons gilt. Diese sittliche Entartung des russischen Adels, die wie
ein Sauerteig das gesamte gesellschaftliche und staatliche Leben durchdringt,
wurde später durch massenhafte Zufuhr ausländischer Kultur vollendet. Das
Eindringen des Deutschtums gerade in die höheren Würdeustellen gewöhnte die
russische Gesellschaft daran, das Fremdländische als überlegen anzusehen, und
chüele der französischen Bildung und Sitte die Bahnen für ihren Siegeszug,
der sich unter Katharina II., der Freundin Voltaires und der Enzyklopädisten,
vollendete. Die durch den Glanz ihrer Außenseite gewinnende, aus Aufklärung
und Empfindsamkeit gemischte Litteratur der Franzosen verschlang die heimischen
Bildungselemente ohne ernsthaften Widerstand. Blasirtheit, Frivolität und
eine stets zunehmende Unfähigkeit zu selbständigem Urteil, eine hoffnungslose
geistige Leere bildeten fortan die Charakterzüge dieser Gesellschaft, die trotz
ihrer Verfeinerung allen barbarischen Lastern und Leidenschaften den freiesten
Spielraum ließ. Die höheren Klassen in Nußland waren einer doppelten Ab¬
hängigkeit verfallen, sie wurden in ihrem Denken und Streben vom Hofe in
Petersburg und von dem, was in Paris Tagesordnung und Mode war, be¬
stimmt. Doch entwickelte sich dagegen schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts
allmählich eine gewisse Gegenwirkung, und zwar von zwei Seiten her; auf der
einen standen die Vertreter des unverdorbenen altrussischen Adels, derbe Naturen,
erfüllt von Verachtung und Haß gegen die entnervende Herrschaft des Fremdlän¬
dischen, die in der Einsamkeit ihrer Landwirtschaft oder im Soldatendienst ihre Be¬
friedigung suchten, auf der andern Seite erhob sich, vom Geiste der romantischen
Schule in Deutschland angeregt, ein Kreis von Schriftstellern, der, weniger radikal
als jener, sich auf kritische Sondirung der sittlichen Schäden beschränkte, an


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0450" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203885"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1146" prev="#ID_1145"> nommer hat. Die vorliegende Schrift vermeidet diesen Mangel und führt die<lb/>
Darstellung bis zur Gegenwart fort, sodasz wir in ihr ein vollständiges Bild<lb/>
der interessanten Erscheinung besitzen, der sich außerdem gute Kritik des dabei<lb/>
benutzten Materials und geschickte Gruppirung der Thatsachen nachrühmen läßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1147" next="#ID_1148"> Von höchster Wichtigkeit für die Geschichte Rußlands war es, daß seine<lb/>
Einführung in die geistige Sphäre der westlichen Völker mit den Mitteln und<lb/>
auf den Wegen des aufgeklärten Despotismus begonnen wurde. Peter der<lb/>
Große stellte sich die Aufgabe, die gesamte Denk- und Lebensweise seines Volkes<lb/>
von Grund aus umzubilden, und scheute dabei dem seinen Neuerungen wenig<lb/>
geneigten Adel gegenüber selbst vor den rücksichtslosesten Maßregeln nicht<lb/>
zurück. Durch Zwang zum Staatsdienste bei Verlust der Adelsrechte, durch<lb/>
Einführung des Dienstadels, durch allerlei Förderung des Streberthums, durch<lb/>
halbmilitärische Drillung des Zivildienstes wurde ein Beamtenst-ab geschaffen,<lb/>
dessen Charakter sich aus knechtischer Fügsamkeit, aus unaufhörlicher Sorge um<lb/>
Gönnerschaft und Emporkommen und aus brutalem Hochmut im Verkehr mit<lb/>
Untergebnen zusammensetzt, dessen Unredlichkeit im Amte zum Sprichworte ge¬<lb/>
worden ist, und dem als höchstes Lebensziel eine Stellung in den Peters¬<lb/>
burger Salons gilt. Diese sittliche Entartung des russischen Adels, die wie<lb/>
ein Sauerteig das gesamte gesellschaftliche und staatliche Leben durchdringt,<lb/>
wurde später durch massenhafte Zufuhr ausländischer Kultur vollendet. Das<lb/>
Eindringen des Deutschtums gerade in die höheren Würdeustellen gewöhnte die<lb/>
russische Gesellschaft daran, das Fremdländische als überlegen anzusehen, und<lb/>
chüele der französischen Bildung und Sitte die Bahnen für ihren Siegeszug,<lb/>
der sich unter Katharina II., der Freundin Voltaires und der Enzyklopädisten,<lb/>
vollendete. Die durch den Glanz ihrer Außenseite gewinnende, aus Aufklärung<lb/>
und Empfindsamkeit gemischte Litteratur der Franzosen verschlang die heimischen<lb/>
Bildungselemente ohne ernsthaften Widerstand. Blasirtheit, Frivolität und<lb/>
eine stets zunehmende Unfähigkeit zu selbständigem Urteil, eine hoffnungslose<lb/>
geistige Leere bildeten fortan die Charakterzüge dieser Gesellschaft, die trotz<lb/>
ihrer Verfeinerung allen barbarischen Lastern und Leidenschaften den freiesten<lb/>
Spielraum ließ. Die höheren Klassen in Nußland waren einer doppelten Ab¬<lb/>
hängigkeit verfallen, sie wurden in ihrem Denken und Streben vom Hofe in<lb/>
Petersburg und von dem, was in Paris Tagesordnung und Mode war, be¬<lb/>
stimmt. Doch entwickelte sich dagegen schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts<lb/>
allmählich eine gewisse Gegenwirkung, und zwar von zwei Seiten her; auf der<lb/>
einen standen die Vertreter des unverdorbenen altrussischen Adels, derbe Naturen,<lb/>
erfüllt von Verachtung und Haß gegen die entnervende Herrschaft des Fremdlän¬<lb/>
dischen, die in der Einsamkeit ihrer Landwirtschaft oder im Soldatendienst ihre Be¬<lb/>
friedigung suchten, auf der andern Seite erhob sich, vom Geiste der romantischen<lb/>
Schule in Deutschland angeregt, ein Kreis von Schriftstellern, der, weniger radikal<lb/>
als jener, sich auf kritische Sondirung der sittlichen Schäden beschränkte, an</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0450] nommer hat. Die vorliegende Schrift vermeidet diesen Mangel und führt die Darstellung bis zur Gegenwart fort, sodasz wir in ihr ein vollständiges Bild der interessanten Erscheinung besitzen, der sich außerdem gute Kritik des dabei benutzten Materials und geschickte Gruppirung der Thatsachen nachrühmen läßt. Von höchster Wichtigkeit für die Geschichte Rußlands war es, daß seine Einführung in die geistige Sphäre der westlichen Völker mit den Mitteln und auf den Wegen des aufgeklärten Despotismus begonnen wurde. Peter der Große stellte sich die Aufgabe, die gesamte Denk- und Lebensweise seines Volkes von Grund aus umzubilden, und scheute dabei dem seinen Neuerungen wenig geneigten Adel gegenüber selbst vor den rücksichtslosesten Maßregeln nicht zurück. Durch Zwang zum Staatsdienste bei Verlust der Adelsrechte, durch Einführung des Dienstadels, durch allerlei Förderung des Streberthums, durch halbmilitärische Drillung des Zivildienstes wurde ein Beamtenst-ab geschaffen, dessen Charakter sich aus knechtischer Fügsamkeit, aus unaufhörlicher Sorge um Gönnerschaft und Emporkommen und aus brutalem Hochmut im Verkehr mit Untergebnen zusammensetzt, dessen Unredlichkeit im Amte zum Sprichworte ge¬ worden ist, und dem als höchstes Lebensziel eine Stellung in den Peters¬ burger Salons gilt. Diese sittliche Entartung des russischen Adels, die wie ein Sauerteig das gesamte gesellschaftliche und staatliche Leben durchdringt, wurde später durch massenhafte Zufuhr ausländischer Kultur vollendet. Das Eindringen des Deutschtums gerade in die höheren Würdeustellen gewöhnte die russische Gesellschaft daran, das Fremdländische als überlegen anzusehen, und chüele der französischen Bildung und Sitte die Bahnen für ihren Siegeszug, der sich unter Katharina II., der Freundin Voltaires und der Enzyklopädisten, vollendete. Die durch den Glanz ihrer Außenseite gewinnende, aus Aufklärung und Empfindsamkeit gemischte Litteratur der Franzosen verschlang die heimischen Bildungselemente ohne ernsthaften Widerstand. Blasirtheit, Frivolität und eine stets zunehmende Unfähigkeit zu selbständigem Urteil, eine hoffnungslose geistige Leere bildeten fortan die Charakterzüge dieser Gesellschaft, die trotz ihrer Verfeinerung allen barbarischen Lastern und Leidenschaften den freiesten Spielraum ließ. Die höheren Klassen in Nußland waren einer doppelten Ab¬ hängigkeit verfallen, sie wurden in ihrem Denken und Streben vom Hofe in Petersburg und von dem, was in Paris Tagesordnung und Mode war, be¬ stimmt. Doch entwickelte sich dagegen schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts allmählich eine gewisse Gegenwirkung, und zwar von zwei Seiten her; auf der einen standen die Vertreter des unverdorbenen altrussischen Adels, derbe Naturen, erfüllt von Verachtung und Haß gegen die entnervende Herrschaft des Fremdlän¬ dischen, die in der Einsamkeit ihrer Landwirtschaft oder im Soldatendienst ihre Be¬ friedigung suchten, auf der andern Seite erhob sich, vom Geiste der romantischen Schule in Deutschland angeregt, ein Kreis von Schriftstellern, der, weniger radikal als jener, sich auf kritische Sondirung der sittlichen Schäden beschränkte, an

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/450
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/450>, abgerufen am 22.07.2024.