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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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unständiger Mensch gewesen. Es geschah ihm überflüssig Ehre, wenn man ihn
nicht standrechtlich behandelte, oder vielmehr (da er sich ergeben hat) ihn bei
mäßiger Kost einsperrte. . --" Das ganze Jahrzehnt hindurch gab es Kriege
in Europa, oder man steckte in Kriegsbefürchtungen. Zuerst erschütterte die
fchleswig-holsteinische Frage den Frieden, dann der Krieg von 1866, und endlich
der große Krieg des Jahres 1870, der die deutsche Einheit gebar. Bischer
nahm an allen diesen Vorgängen den lebhaftesten Anteil; er schrieb Zeitungs¬
artikel, Broschüren, die freilich bald von den Ereignissen überholt wurden. Vor
dem Kriege gegen Dänemark schreibt er am 14. August 1863: "Ich kann von
dem Laster des politischen Schriftstellers nicht lassen; so wird dem Artikel in
der Allg. Ztg. gegen die Schwätzer in I^olmnx as ?ora8 mit nächstem eine
Broschüre folgen, die unsre zwei Parteien, kleindentsch und großdentsch, zu einem
Kompromiß auf: Parlament mit verbesserter föderativer Zentralgewalt zu be¬
stimmen sucht." Am 23. August: "Das Reformprojekt hat mich weniger herab¬
gestimmt als Sie. Eine einheitliche Spitze ist jetzt rein unmöglich, wir müssen
uns mit der föderativem noch begnügen. Die Einheit muß im Volkswillen,
d. h. im Parlament liegen. Dahin müssen wir den moralischen Druck legen."
Günthert, der Soldat, trat hingegen für einen die Militärgewalt vereinigenden
Kaiser an der Spitze der Nation ein. In dieser Zeit seines Aufenthaltes in
der Schweiz ärgerte sich Bischer nicht wenig über den Mangel an National¬
gefühl bei den Deutschen. Am 2. November 1863 erzählte er eine Szene, die
vielleicht die Anregung zu der bekannten Stelle in dem Romane "Martin
Salander" seines Freundes Gottfried Keller gegeben hat, in der ein deutscher
Handwerker sich über seine eigne Nation verächtlich äußert und derb zurecht¬
gewiesen wird. Er schreibt: "Von der Ehrlosigkeit der Deutschen, der Selbst-
wegwerfung vor den Schweizern mache ich immer neue Erfahrungen. Erst vor
einigen Tagen schimpfte vor mir ein ganz anständiger Kaufmann ans Preußen,
daß es noch nicht revolutionire, und sagte zu einem Schweizer: ja, wenn wir
nur einige 100 Schweizer drüben hätten, da ging's anders. Ich konnte dazu
nicht schweigen, aber was hilft es, wenn man den einzelnen zurechtweist? Was
seit 200 Jahren über unser Volk ergangen ist, hat doch eine arge Gesinnungs¬
losigkeit hervorgebracht; es kommt mir oft vor wie die Juden." Dann aber,
als die deutsche Einheit in blutigen Kriegen geschmiedet wird, ist ihm dieses
deutsche Volk noch immer nicht lebhaft genug. Am Vorabend des Krieges von
1866 schreibt er ans Zürich: "Den grauenhaften Krieg, der uns droht, würde
ich nicht beklagen, wenn der deutsche Michel --. Jetzt fängt er an, unter Gähnen
sich an der Stirn zu reiben. Die ganze Zeit her, da seit manchem Monat ein
Volk, das Feuer im Leib hat, mit Stachelsporen hinter seinen Regierungen
gewesen wäre, schlief es den zähen Schlaf der Kröte, die in einen Stein ein¬
geschlossen in Starrsucht Jahrhunderte leben kann. Ein Kind konnte längst
sehen, was uns droht. Der Michel kartelte, fr--, s--, tanzte und glotzte den,


unständiger Mensch gewesen. Es geschah ihm überflüssig Ehre, wenn man ihn
nicht standrechtlich behandelte, oder vielmehr (da er sich ergeben hat) ihn bei
mäßiger Kost einsperrte. . —" Das ganze Jahrzehnt hindurch gab es Kriege
in Europa, oder man steckte in Kriegsbefürchtungen. Zuerst erschütterte die
fchleswig-holsteinische Frage den Frieden, dann der Krieg von 1866, und endlich
der große Krieg des Jahres 1870, der die deutsche Einheit gebar. Bischer
nahm an allen diesen Vorgängen den lebhaftesten Anteil; er schrieb Zeitungs¬
artikel, Broschüren, die freilich bald von den Ereignissen überholt wurden. Vor
dem Kriege gegen Dänemark schreibt er am 14. August 1863: „Ich kann von
dem Laster des politischen Schriftstellers nicht lassen; so wird dem Artikel in
der Allg. Ztg. gegen die Schwätzer in I^olmnx as ?ora8 mit nächstem eine
Broschüre folgen, die unsre zwei Parteien, kleindentsch und großdentsch, zu einem
Kompromiß auf: Parlament mit verbesserter föderativer Zentralgewalt zu be¬
stimmen sucht." Am 23. August: „Das Reformprojekt hat mich weniger herab¬
gestimmt als Sie. Eine einheitliche Spitze ist jetzt rein unmöglich, wir müssen
uns mit der föderativem noch begnügen. Die Einheit muß im Volkswillen,
d. h. im Parlament liegen. Dahin müssen wir den moralischen Druck legen."
Günthert, der Soldat, trat hingegen für einen die Militärgewalt vereinigenden
Kaiser an der Spitze der Nation ein. In dieser Zeit seines Aufenthaltes in
der Schweiz ärgerte sich Bischer nicht wenig über den Mangel an National¬
gefühl bei den Deutschen. Am 2. November 1863 erzählte er eine Szene, die
vielleicht die Anregung zu der bekannten Stelle in dem Romane „Martin
Salander" seines Freundes Gottfried Keller gegeben hat, in der ein deutscher
Handwerker sich über seine eigne Nation verächtlich äußert und derb zurecht¬
gewiesen wird. Er schreibt: „Von der Ehrlosigkeit der Deutschen, der Selbst-
wegwerfung vor den Schweizern mache ich immer neue Erfahrungen. Erst vor
einigen Tagen schimpfte vor mir ein ganz anständiger Kaufmann ans Preußen,
daß es noch nicht revolutionire, und sagte zu einem Schweizer: ja, wenn wir
nur einige 100 Schweizer drüben hätten, da ging's anders. Ich konnte dazu
nicht schweigen, aber was hilft es, wenn man den einzelnen zurechtweist? Was
seit 200 Jahren über unser Volk ergangen ist, hat doch eine arge Gesinnungs¬
losigkeit hervorgebracht; es kommt mir oft vor wie die Juden." Dann aber,
als die deutsche Einheit in blutigen Kriegen geschmiedet wird, ist ihm dieses
deutsche Volk noch immer nicht lebhaft genug. Am Vorabend des Krieges von
1866 schreibt er ans Zürich: „Den grauenhaften Krieg, der uns droht, würde
ich nicht beklagen, wenn der deutsche Michel —. Jetzt fängt er an, unter Gähnen
sich an der Stirn zu reiben. Die ganze Zeit her, da seit manchem Monat ein
Volk, das Feuer im Leib hat, mit Stachelsporen hinter seinen Regierungen
gewesen wäre, schlief es den zähen Schlaf der Kröte, die in einen Stein ein¬
geschlossen in Starrsucht Jahrhunderte leben kann. Ein Kind konnte längst
sehen, was uns droht. Der Michel kartelte, fr—, s—, tanzte und glotzte den,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/421>, abgerufen am 22.07.2024.