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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Liseilbahnreform,

suchende aller Berufsklassen -- und wir leben ja in einer Zeit, wo die Stellcn-
suchenden stets einen großen Bruchteil der Bevölkerung ausmachen -- aus der
Tarifreform einen nicht zu unterschätzenden Vorteil ziehen, und auch ihre Arbeit¬
geber würden an diesem Vorteil teilnehmen. Denn die Besetzung einer auch
nur auf ein Vierteljahr hinaus festen Stelle ohne persönliche Bekanntschaft
mit dem Bewerber ist doch eigentlich ein Unding und führt selten zu gutem.
Wer eine Stelle zu vergeben hat, wird den Vorteil zu schätzen wissen, den es
ihm bieten würde, wenn er Gelegenheit hätte, alle ernstlichen Bewerber per¬
sönlich kennen zu lernen. Unter den heutigen Verhältnissen könnte aber ein
junger Kaufmann ein Vermögen in Reisekosten vergeuden, wenn er jede Be¬
werbung um eine Stelle persönlich anbringen wollte.

Was den Einfluß einer Tarifreform auf den Warenmarkt anlangt, so hat
wenigstens der Kaufmann nie verkannt, daß das persönliche Betreiben einer
Sache in der Regel allem brieflichen Verkehr vorzuziehen ist, und es unterliegt
keinem Zweifel, daß er in allererster Linie die Vorteile der Neuerung mit
Freuden begrüßen würde. Schon heute hält er es nicht für richtig, mit Reisen
allzu sparsam zu sein. Dennoch ist er oft genötigt, eine Ware, die er lieber
erst selbst gesehen hätte, nach einem kleinen Muster zu kaufen, das ihm kein
rechtes Urteil erlaubt, oder er zieht Erkundigungen ein über einen Mann, dem
er Kredit geben soll, und er wird getäuscht, indem die schriftliche Auskunft in
ihrer Kürze und Knappheit Bedenkliches verschweigt, während eine kurze münd¬
liche Unterredung mit dem Befragten alles wissenswerte ans Tageslicht ge¬
zogen hätte. Das sind nur zwei Beispiele aus der Fülle von denkbaren Fällen,
in denen die hohen Personenfahrpreise dem Geschäftsverkehr hinderlich sind.
Ähnliche Vorteile wie der Handel hätte natürlich auch die Industrie von der
Tarifreform. Freilich darf man nicht vergessen, daß Reisen nicht nur Geld,
sondern auch Zeit kosten, und daß im großen Verkehr eine Reise wohl häufig
anch wegen der Zeitersparnis unterbleibt. Sicherlich aber fiele die Geldersparnis
ins Gewicht bei den landwirtschaftlichen Produzenten und den kleinen Zwischen¬
händlern, die den Verkauf der landwirtschaftlichen Produkte vermitteln. Denn
bei dem geringen Nutzen, mit dem die Landwirtschaft arbeitet, spielen verhält¬
nismäßig kleine Unkostenbcträge oft eine große Rolle.

Und wie dem Landwirte, ergeht es auch den kleineren Produzenten aller
Klaffen. Daß endlich auch die Konsumenten sich besser dabei stehen würden,
wenn Kauf und Verkauf aller Waren in der Regel persönlich abgeschlossen
werden könnten, bedarf kaum der Erwähnung.

Dieser Überblick wird genügen, darzuthun, daß auf wirtschaftlichem Ge¬
biete die Tarifreform nach allen Seiten Vorteile verspricht. Freilich ist dies
nur der Fall unter der Voraussetzung, daß sie durchgeführt werden könnte, ohne
die Einnahmen der Eisenbahnen so weit zu schmälern, daß die Entlastung der
Reisenden wesentlich auf Kosten der Steuerzahler geschähe. Die Notwendigkeit


Liseilbahnreform,

suchende aller Berufsklassen — und wir leben ja in einer Zeit, wo die Stellcn-
suchenden stets einen großen Bruchteil der Bevölkerung ausmachen — aus der
Tarifreform einen nicht zu unterschätzenden Vorteil ziehen, und auch ihre Arbeit¬
geber würden an diesem Vorteil teilnehmen. Denn die Besetzung einer auch
nur auf ein Vierteljahr hinaus festen Stelle ohne persönliche Bekanntschaft
mit dem Bewerber ist doch eigentlich ein Unding und führt selten zu gutem.
Wer eine Stelle zu vergeben hat, wird den Vorteil zu schätzen wissen, den es
ihm bieten würde, wenn er Gelegenheit hätte, alle ernstlichen Bewerber per¬
sönlich kennen zu lernen. Unter den heutigen Verhältnissen könnte aber ein
junger Kaufmann ein Vermögen in Reisekosten vergeuden, wenn er jede Be¬
werbung um eine Stelle persönlich anbringen wollte.

Was den Einfluß einer Tarifreform auf den Warenmarkt anlangt, so hat
wenigstens der Kaufmann nie verkannt, daß das persönliche Betreiben einer
Sache in der Regel allem brieflichen Verkehr vorzuziehen ist, und es unterliegt
keinem Zweifel, daß er in allererster Linie die Vorteile der Neuerung mit
Freuden begrüßen würde. Schon heute hält er es nicht für richtig, mit Reisen
allzu sparsam zu sein. Dennoch ist er oft genötigt, eine Ware, die er lieber
erst selbst gesehen hätte, nach einem kleinen Muster zu kaufen, das ihm kein
rechtes Urteil erlaubt, oder er zieht Erkundigungen ein über einen Mann, dem
er Kredit geben soll, und er wird getäuscht, indem die schriftliche Auskunft in
ihrer Kürze und Knappheit Bedenkliches verschweigt, während eine kurze münd¬
liche Unterredung mit dem Befragten alles wissenswerte ans Tageslicht ge¬
zogen hätte. Das sind nur zwei Beispiele aus der Fülle von denkbaren Fällen,
in denen die hohen Personenfahrpreise dem Geschäftsverkehr hinderlich sind.
Ähnliche Vorteile wie der Handel hätte natürlich auch die Industrie von der
Tarifreform. Freilich darf man nicht vergessen, daß Reisen nicht nur Geld,
sondern auch Zeit kosten, und daß im großen Verkehr eine Reise wohl häufig
anch wegen der Zeitersparnis unterbleibt. Sicherlich aber fiele die Geldersparnis
ins Gewicht bei den landwirtschaftlichen Produzenten und den kleinen Zwischen¬
händlern, die den Verkauf der landwirtschaftlichen Produkte vermitteln. Denn
bei dem geringen Nutzen, mit dem die Landwirtschaft arbeitet, spielen verhält¬
nismäßig kleine Unkostenbcträge oft eine große Rolle.

Und wie dem Landwirte, ergeht es auch den kleineren Produzenten aller
Klaffen. Daß endlich auch die Konsumenten sich besser dabei stehen würden,
wenn Kauf und Verkauf aller Waren in der Regel persönlich abgeschlossen
werden könnten, bedarf kaum der Erwähnung.

Dieser Überblick wird genügen, darzuthun, daß auf wirtschaftlichem Ge¬
biete die Tarifreform nach allen Seiten Vorteile verspricht. Freilich ist dies
nur der Fall unter der Voraussetzung, daß sie durchgeführt werden könnte, ohne
die Einnahmen der Eisenbahnen so weit zu schmälern, daß die Entlastung der
Reisenden wesentlich auf Kosten der Steuerzahler geschähe. Die Notwendigkeit


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[0406] Liseilbahnreform, suchende aller Berufsklassen — und wir leben ja in einer Zeit, wo die Stellcn- suchenden stets einen großen Bruchteil der Bevölkerung ausmachen — aus der Tarifreform einen nicht zu unterschätzenden Vorteil ziehen, und auch ihre Arbeit¬ geber würden an diesem Vorteil teilnehmen. Denn die Besetzung einer auch nur auf ein Vierteljahr hinaus festen Stelle ohne persönliche Bekanntschaft mit dem Bewerber ist doch eigentlich ein Unding und führt selten zu gutem. Wer eine Stelle zu vergeben hat, wird den Vorteil zu schätzen wissen, den es ihm bieten würde, wenn er Gelegenheit hätte, alle ernstlichen Bewerber per¬ sönlich kennen zu lernen. Unter den heutigen Verhältnissen könnte aber ein junger Kaufmann ein Vermögen in Reisekosten vergeuden, wenn er jede Be¬ werbung um eine Stelle persönlich anbringen wollte. Was den Einfluß einer Tarifreform auf den Warenmarkt anlangt, so hat wenigstens der Kaufmann nie verkannt, daß das persönliche Betreiben einer Sache in der Regel allem brieflichen Verkehr vorzuziehen ist, und es unterliegt keinem Zweifel, daß er in allererster Linie die Vorteile der Neuerung mit Freuden begrüßen würde. Schon heute hält er es nicht für richtig, mit Reisen allzu sparsam zu sein. Dennoch ist er oft genötigt, eine Ware, die er lieber erst selbst gesehen hätte, nach einem kleinen Muster zu kaufen, das ihm kein rechtes Urteil erlaubt, oder er zieht Erkundigungen ein über einen Mann, dem er Kredit geben soll, und er wird getäuscht, indem die schriftliche Auskunft in ihrer Kürze und Knappheit Bedenkliches verschweigt, während eine kurze münd¬ liche Unterredung mit dem Befragten alles wissenswerte ans Tageslicht ge¬ zogen hätte. Das sind nur zwei Beispiele aus der Fülle von denkbaren Fällen, in denen die hohen Personenfahrpreise dem Geschäftsverkehr hinderlich sind. Ähnliche Vorteile wie der Handel hätte natürlich auch die Industrie von der Tarifreform. Freilich darf man nicht vergessen, daß Reisen nicht nur Geld, sondern auch Zeit kosten, und daß im großen Verkehr eine Reise wohl häufig anch wegen der Zeitersparnis unterbleibt. Sicherlich aber fiele die Geldersparnis ins Gewicht bei den landwirtschaftlichen Produzenten und den kleinen Zwischen¬ händlern, die den Verkauf der landwirtschaftlichen Produkte vermitteln. Denn bei dem geringen Nutzen, mit dem die Landwirtschaft arbeitet, spielen verhält¬ nismäßig kleine Unkostenbcträge oft eine große Rolle. Und wie dem Landwirte, ergeht es auch den kleineren Produzenten aller Klaffen. Daß endlich auch die Konsumenten sich besser dabei stehen würden, wenn Kauf und Verkauf aller Waren in der Regel persönlich abgeschlossen werden könnten, bedarf kaum der Erwähnung. Dieser Überblick wird genügen, darzuthun, daß auf wirtschaftlichem Ge¬ biete die Tarifreform nach allen Seiten Vorteile verspricht. Freilich ist dies nur der Fall unter der Voraussetzung, daß sie durchgeführt werden könnte, ohne die Einnahmen der Eisenbahnen so weit zu schmälern, daß die Entlastung der Reisenden wesentlich auf Kosten der Steuerzahler geschähe. Die Notwendigkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/406>, abgerufen am 22.07.2024.