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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Berlin als Theaterhcmptstadt.

über sich, noch ein kolossales, unbehilfliches London in seiner Mitte. Und was
Berlin selbst betrifft, so zeigt es uns von Tag zu Tage, auch leider allzu
schroff, daß es den Vorzug, Vertreter des einheitlichen Deutschlands und Sitz
seines Kaisers zu sein, ganz und gar nicht mit dem Opfer seiner angestammten
städtischen Eigenart und Unart zu bezahlen gedenkt. Sei es darum. Das
übrige Deutschland wird sie ihm, soweit sie unschädlich ist, gewiß nicht wehren,
aber noch weniger wird es sie sich zur geistigen Richtschnur wählen. Die
Stadt Berlin, wie sie als solche (seitdem sie den Hohenzollern ihren Eintritt
in die Reihe der deutschen Mittelpunkte verdankt) im deutschen Geistesleben
bisher aufgetreten ist, hat sich nichts weniger als das Recht erworben, die
deutsche Gesamtbildung und Weltanschauung darzustellen. Ganz im Gegenteil
hat sie sich als Typus bisher mit Vorliebe in Opposition zu ihr und in ein¬
seitiger Herausarbeitung einzelner ihrer Züge geübt und scheint diese Vorliebe
(die wir ihr nicht verkümmern wollen, ohne daß wir sie darum beneiden) als
Neichshciuptstadt keineswegs verloren zu haben und verlieren zu wollen. Die
Berliner Theaterverhältnisse können also nichts anders darstellen als. auf der
einen Seite die stereotypen Theaterverhältnisse einer Weltstadt, auf der andern
die ganz besondern eines deutsche" Bildungsmittelpunktes. Und nichts andres
als eine sehr unerfreuliche Mischung beider haben sie eben bis jetzt dargestellt.
Ein forterbendes Produkt dieser Mischung soll von nun an die Zukunft der
deutschen dramatischen Dichtung sein? Das glaube wer will, "ud wer die
Deutschen, das Neformationsvolk, nicht kennt. Einige Zeit vielleicht, die Zeit
der ersten Verblüffung, und der Deutsche braucht Zeit, bis er sich von einer
solchen erholt hat. Aber schon konnten wir auf die ersten Regungen der er¬
wachenden Selbstbesinnung auf diesem Gebiete hinweisen, und wir sind über¬
zeugt, sie werden sich mehren. Weder die Bevormundung durch ein bestimmtes
Publikum, noch die Diktatur durch einen bestimmten Stand, noch die Aus¬
artung in weltstüdtisches Bumswesen*) wird sich das Volk Goethes und Schillers,
der Erbe und treue Hüter der antiken klassischen Kunst, in einem wichtigen
Zweige seines Kunstlebens auf die Dauer gefallen lassen.

Wenn auch vielleicht kein Schiller und Goethe und Lessing, noch der
berufene "deutsche dramatische Genius," so doch eine ihrer würdige selbst¬
ständige Wiederherstellung der Bühncnverhältnissc in ihrem Sinne wird sich
erzeugen lassen, und das hoffentlich in nicht zu ferner Zeit. Zu einer solchen



Wie es bekanntlich die Engländer und Amerikaner, nicht zu ihrem Vorteile, aus¬
zeichnet. Daß Neigung dazu in Deutschland vorhanden ist und stets war, wer wollte sich
das verhehlen! Dafür fehlte hier aber nie das nötige Gegengewicht. Den Berliner Theater¬
leitern und ihren Agenten sind die kleinen "Gesellschaftstheater", wie sie sich in den ameri¬
kanischen Städten fast auf jeder Straße finden und die sich wenig im Zweck vom Bums
unterscheiden, ein Ideal. Hier arabes dann allerdings im Vertrieb die "Masse", und der
Theaterfabrikant kann "verdienen."
Berlin als Theaterhcmptstadt.

über sich, noch ein kolossales, unbehilfliches London in seiner Mitte. Und was
Berlin selbst betrifft, so zeigt es uns von Tag zu Tage, auch leider allzu
schroff, daß es den Vorzug, Vertreter des einheitlichen Deutschlands und Sitz
seines Kaisers zu sein, ganz und gar nicht mit dem Opfer seiner angestammten
städtischen Eigenart und Unart zu bezahlen gedenkt. Sei es darum. Das
übrige Deutschland wird sie ihm, soweit sie unschädlich ist, gewiß nicht wehren,
aber noch weniger wird es sie sich zur geistigen Richtschnur wählen. Die
Stadt Berlin, wie sie als solche (seitdem sie den Hohenzollern ihren Eintritt
in die Reihe der deutschen Mittelpunkte verdankt) im deutschen Geistesleben
bisher aufgetreten ist, hat sich nichts weniger als das Recht erworben, die
deutsche Gesamtbildung und Weltanschauung darzustellen. Ganz im Gegenteil
hat sie sich als Typus bisher mit Vorliebe in Opposition zu ihr und in ein¬
seitiger Herausarbeitung einzelner ihrer Züge geübt und scheint diese Vorliebe
(die wir ihr nicht verkümmern wollen, ohne daß wir sie darum beneiden) als
Neichshciuptstadt keineswegs verloren zu haben und verlieren zu wollen. Die
Berliner Theaterverhältnisse können also nichts anders darstellen als. auf der
einen Seite die stereotypen Theaterverhältnisse einer Weltstadt, auf der andern
die ganz besondern eines deutsche» Bildungsmittelpunktes. Und nichts andres
als eine sehr unerfreuliche Mischung beider haben sie eben bis jetzt dargestellt.
Ein forterbendes Produkt dieser Mischung soll von nun an die Zukunft der
deutschen dramatischen Dichtung sein? Das glaube wer will, »ud wer die
Deutschen, das Neformationsvolk, nicht kennt. Einige Zeit vielleicht, die Zeit
der ersten Verblüffung, und der Deutsche braucht Zeit, bis er sich von einer
solchen erholt hat. Aber schon konnten wir auf die ersten Regungen der er¬
wachenden Selbstbesinnung auf diesem Gebiete hinweisen, und wir sind über¬
zeugt, sie werden sich mehren. Weder die Bevormundung durch ein bestimmtes
Publikum, noch die Diktatur durch einen bestimmten Stand, noch die Aus¬
artung in weltstüdtisches Bumswesen*) wird sich das Volk Goethes und Schillers,
der Erbe und treue Hüter der antiken klassischen Kunst, in einem wichtigen
Zweige seines Kunstlebens auf die Dauer gefallen lassen.

Wenn auch vielleicht kein Schiller und Goethe und Lessing, noch der
berufene „deutsche dramatische Genius," so doch eine ihrer würdige selbst¬
ständige Wiederherstellung der Bühncnverhältnissc in ihrem Sinne wird sich
erzeugen lassen, und das hoffentlich in nicht zu ferner Zeit. Zu einer solchen



Wie es bekanntlich die Engländer und Amerikaner, nicht zu ihrem Vorteile, aus¬
zeichnet. Daß Neigung dazu in Deutschland vorhanden ist und stets war, wer wollte sich
das verhehlen! Dafür fehlte hier aber nie das nötige Gegengewicht. Den Berliner Theater¬
leitern und ihren Agenten sind die kleinen „Gesellschaftstheater", wie sie sich in den ameri¬
kanischen Städten fast auf jeder Straße finden und die sich wenig im Zweck vom Bums
unterscheiden, ein Ideal. Hier arabes dann allerdings im Vertrieb die „Masse", und der
Theaterfabrikant kann „verdienen."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/371>, abgerufen am 22.07.2024.