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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Lebe".

Wenn sich die Schule wirklich ein solches Ziel steckte, so würden die Lehrer in
große Verlegenheit geraten, da niemand je eine vollständige Übersicht über alles
das haben kann, was möglicherweise im spätern Leben von den einzelnen ge¬
braucht wird. Eine solche Forderung würde geradezu unerfüllbar sein. Man
kann das Ziel der Schule gar nicht anders stellen, als daß man sagt: es
sollen die geistigen und körperlichen Fähigkeiten der Jugend so geübt und
ausgebildet werden, daß jeder im spätern Leben die verschiedensten an ihn
herantretenden Aufgaben möglichst leicht zu erfassen und zu bewältigen im
Stande ist.

Also die geistigen Fähigkeiten sollen ausgebildet werden. Man hat gewisse
praktisch versuchte Methoden dafür seit Jahrhunderten überliefert erhalten und
befolgt. Aber die Neuzeit ist mit ihnen unzufrieden und verlangt nach Refor¬
men. Aber wie soll reformirt werden, wenn man die geistigen Fähigkeiten
ihrem Wesen nach gar nicht kennt und auch über die möglichen Ziele der
Schule im Unklaren ist? Sollen wir die Prinzipien der Neugestaltung von
den Naturwissenschaften allein erwarten? Da würden wir so lange warten
müssen, bis die Physiologie der Gehirneentren vollständig aufgeklärt ist, und
alle Sinnesreize bekannt sind, durch welche die Gehirnfunktionen am zweck¬
müßigsten geübt werden; und schließlich, wenn das alles geduldig abgewartet
wäre, würden wir bei der Frage, was denn eigentlich das Wesen der Gehirn¬
funktionen sei, wieder vor ein großes iAnorauius und iAvorMnws gestellt sein,
das trotz aller staunenden Bewunderung, die ihm zu teil wird, doch keine Ent¬
schädigung für die unnütz mit Warten vergeudete Zeit bieten kann. Es geht
hier also bei den Pädagogen ebenso wie bei den Theologen, Juristen und Medi¬
zinern, daß sie vor sehr wichtige Fragen gestellt sind, die sie mit den Mitteln
ihrer eignen Disziplin nicht lösen können. Und da sie auch von der Natur¬
wissenschaft keine Hilfe zu erwarten haben, so müssen sie sich schon an die
Philosophie wenden. Freilich ist die Hilfe auf diesem Gebiete nicht von irgend
einem dogmatischen System zu hoffen, wie wir sie dutzendweise aus der Zeit
vor und nach Kant in Vorrat haben. Wenn eins derselben unzweifelhafte
Sicherheit für die Beantwortung dieser Fragen gewähren könnte, so müßte es
längst geschehen sein. Aber wir haben schon angedeutet, daß es uns hier nicht
darauf ankommen kann, über den letzten Grund der Welt und aller Dinge be¬
lehrt zu werden, als vielmehr nur darauf, die Fähigkeiten des menschlichen Er¬
kenntnisvermögens kennen zu lernen, die eben durch den Schulunterricht zweck¬
mäßig entwickelt und ausgebildet werden sollen. Wir müssen uns also an eine
solche Philosophie wenden, welche die Analyse des menschlichen Erkenntnisver¬
mögens allem andern vorausschickt. Solche giebt es aber nur eine, man nennt
sie die kritische, und sie stammt von Kant und ist noch von keinem Professor
der Philosophie verbessert worden. Sie allein baut niemals Dogmen auf, ohne
sich von den Vorbedingungen dazu in den ursprünglichen Kräften der Vernunft


Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Lebe».

Wenn sich die Schule wirklich ein solches Ziel steckte, so würden die Lehrer in
große Verlegenheit geraten, da niemand je eine vollständige Übersicht über alles
das haben kann, was möglicherweise im spätern Leben von den einzelnen ge¬
braucht wird. Eine solche Forderung würde geradezu unerfüllbar sein. Man
kann das Ziel der Schule gar nicht anders stellen, als daß man sagt: es
sollen die geistigen und körperlichen Fähigkeiten der Jugend so geübt und
ausgebildet werden, daß jeder im spätern Leben die verschiedensten an ihn
herantretenden Aufgaben möglichst leicht zu erfassen und zu bewältigen im
Stande ist.

Also die geistigen Fähigkeiten sollen ausgebildet werden. Man hat gewisse
praktisch versuchte Methoden dafür seit Jahrhunderten überliefert erhalten und
befolgt. Aber die Neuzeit ist mit ihnen unzufrieden und verlangt nach Refor¬
men. Aber wie soll reformirt werden, wenn man die geistigen Fähigkeiten
ihrem Wesen nach gar nicht kennt und auch über die möglichen Ziele der
Schule im Unklaren ist? Sollen wir die Prinzipien der Neugestaltung von
den Naturwissenschaften allein erwarten? Da würden wir so lange warten
müssen, bis die Physiologie der Gehirneentren vollständig aufgeklärt ist, und
alle Sinnesreize bekannt sind, durch welche die Gehirnfunktionen am zweck¬
müßigsten geübt werden; und schließlich, wenn das alles geduldig abgewartet
wäre, würden wir bei der Frage, was denn eigentlich das Wesen der Gehirn¬
funktionen sei, wieder vor ein großes iAnorauius und iAvorMnws gestellt sein,
das trotz aller staunenden Bewunderung, die ihm zu teil wird, doch keine Ent¬
schädigung für die unnütz mit Warten vergeudete Zeit bieten kann. Es geht
hier also bei den Pädagogen ebenso wie bei den Theologen, Juristen und Medi¬
zinern, daß sie vor sehr wichtige Fragen gestellt sind, die sie mit den Mitteln
ihrer eignen Disziplin nicht lösen können. Und da sie auch von der Natur¬
wissenschaft keine Hilfe zu erwarten haben, so müssen sie sich schon an die
Philosophie wenden. Freilich ist die Hilfe auf diesem Gebiete nicht von irgend
einem dogmatischen System zu hoffen, wie wir sie dutzendweise aus der Zeit
vor und nach Kant in Vorrat haben. Wenn eins derselben unzweifelhafte
Sicherheit für die Beantwortung dieser Fragen gewähren könnte, so müßte es
längst geschehen sein. Aber wir haben schon angedeutet, daß es uns hier nicht
darauf ankommen kann, über den letzten Grund der Welt und aller Dinge be¬
lehrt zu werden, als vielmehr nur darauf, die Fähigkeiten des menschlichen Er¬
kenntnisvermögens kennen zu lernen, die eben durch den Schulunterricht zweck¬
mäßig entwickelt und ausgebildet werden sollen. Wir müssen uns also an eine
solche Philosophie wenden, welche die Analyse des menschlichen Erkenntnisver¬
mögens allem andern vorausschickt. Solche giebt es aber nur eine, man nennt
sie die kritische, und sie stammt von Kant und ist noch von keinem Professor
der Philosophie verbessert worden. Sie allein baut niemals Dogmen auf, ohne
sich von den Vorbedingungen dazu in den ursprünglichen Kräften der Vernunft


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[0324] Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Lebe». Wenn sich die Schule wirklich ein solches Ziel steckte, so würden die Lehrer in große Verlegenheit geraten, da niemand je eine vollständige Übersicht über alles das haben kann, was möglicherweise im spätern Leben von den einzelnen ge¬ braucht wird. Eine solche Forderung würde geradezu unerfüllbar sein. Man kann das Ziel der Schule gar nicht anders stellen, als daß man sagt: es sollen die geistigen und körperlichen Fähigkeiten der Jugend so geübt und ausgebildet werden, daß jeder im spätern Leben die verschiedensten an ihn herantretenden Aufgaben möglichst leicht zu erfassen und zu bewältigen im Stande ist. Also die geistigen Fähigkeiten sollen ausgebildet werden. Man hat gewisse praktisch versuchte Methoden dafür seit Jahrhunderten überliefert erhalten und befolgt. Aber die Neuzeit ist mit ihnen unzufrieden und verlangt nach Refor¬ men. Aber wie soll reformirt werden, wenn man die geistigen Fähigkeiten ihrem Wesen nach gar nicht kennt und auch über die möglichen Ziele der Schule im Unklaren ist? Sollen wir die Prinzipien der Neugestaltung von den Naturwissenschaften allein erwarten? Da würden wir so lange warten müssen, bis die Physiologie der Gehirneentren vollständig aufgeklärt ist, und alle Sinnesreize bekannt sind, durch welche die Gehirnfunktionen am zweck¬ müßigsten geübt werden; und schließlich, wenn das alles geduldig abgewartet wäre, würden wir bei der Frage, was denn eigentlich das Wesen der Gehirn¬ funktionen sei, wieder vor ein großes iAnorauius und iAvorMnws gestellt sein, das trotz aller staunenden Bewunderung, die ihm zu teil wird, doch keine Ent¬ schädigung für die unnütz mit Warten vergeudete Zeit bieten kann. Es geht hier also bei den Pädagogen ebenso wie bei den Theologen, Juristen und Medi¬ zinern, daß sie vor sehr wichtige Fragen gestellt sind, die sie mit den Mitteln ihrer eignen Disziplin nicht lösen können. Und da sie auch von der Natur¬ wissenschaft keine Hilfe zu erwarten haben, so müssen sie sich schon an die Philosophie wenden. Freilich ist die Hilfe auf diesem Gebiete nicht von irgend einem dogmatischen System zu hoffen, wie wir sie dutzendweise aus der Zeit vor und nach Kant in Vorrat haben. Wenn eins derselben unzweifelhafte Sicherheit für die Beantwortung dieser Fragen gewähren könnte, so müßte es längst geschehen sein. Aber wir haben schon angedeutet, daß es uns hier nicht darauf ankommen kann, über den letzten Grund der Welt und aller Dinge be¬ lehrt zu werden, als vielmehr nur darauf, die Fähigkeiten des menschlichen Er¬ kenntnisvermögens kennen zu lernen, die eben durch den Schulunterricht zweck¬ mäßig entwickelt und ausgebildet werden sollen. Wir müssen uns also an eine solche Philosophie wenden, welche die Analyse des menschlichen Erkenntnisver¬ mögens allem andern vorausschickt. Solche giebt es aber nur eine, man nennt sie die kritische, und sie stammt von Kant und ist noch von keinem Professor der Philosophie verbessert worden. Sie allein baut niemals Dogmen auf, ohne sich von den Vorbedingungen dazu in den ursprünglichen Kräften der Vernunft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/324>, abgerufen am 25.08.2024.