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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben.

dem Reinen Materie oder Stoff und Kraft zurecht zu machen, aber dergleichen
.Kunstgriffe halten auf die Dauer nicht vor, wenigstens nicht bei ernsteren
Männern. Der Zweifel erhebt sich bald auch gegen diese Götze", und nun
sieht man, wie sich die Grübler heimlich in das verbotene Feld der Philosphie
vertiefen. Der eine hat Schopenhauer, der andre Hartmann zu seinem
Heiligen erkoren, und selbst Hegel und Schelling spuken noch nach in den Kö¬
pfen der älteren. Daß aber einer dabei seine volle Befriedigung gefunden hätte,
habe ich allen Grund zu bezweifeln.

Werfen wir noch einen Blick auf das weite Gebiet dessen, was sich alles
unter der Rubrik der philosophischen Fakultät zusammen fassen läßt, so tritt
uns zunächst die Frage nach der besten Schule und Erziehung der Jugend
entgegen, da gerade sie in der letzten Zeit immer lebhafter besprochen wird. Es
muß dem ruhig betrachtenden fast unheimlich zu Mute werden, wenn er auf
den verwirrten zum Teil leidenschaftlich geführten Streit der entgegengesetzten
Parteien in dieser Frage hinsieht. Ob auf Gymnasium oder Realschule, ob
auf klassische Sprachen oder Naturwissenschaft das Hauptgewicht zu legen sei,
darüber hört man von hervorragenden Gelehrten ganz entgegengesetzte Ansichten,
und überall werden die Gemüter in Aufregung versetzt zur Stellung der weit¬
gehendsten Forderungen. Nicht nur Erfahrung wird gegen Erfahrung ins
Feld geführt, sondern auch allerlei spekulative Richtungen führen zu dem leb¬
haften Verlangen nach gründlichen Neuerungen. Auf einer Naturforscherver¬
sammlung wurde durch einen hervorragenden Redner der ganze Unterricht in
den alten Sprachen als unnötiger und schädlicher Ballast fürs Gehirn zum
Wegwerfen in die Rumpelkammer verurtheilt, und auf der folgenden Ver¬
sammlung in diesem Jahre setzte ein Professor der Philosophie auseinander,
daß die Darwinsche Entwicklungstheorie verlange: ebenso wie der menschliche
Körper als Embryo alle niederen Vorstufen früherer Entwicklungsformen durch¬
zumachen habe, so müsse auch der in der Schule zu bildende Geist erst die
früheren Entwicklungsstufen des Menschen im Altertum zurücklegen, also müsse
der griechische und lateinische Unterricht die Grundlage für alles andre Lernen
bilden. Es ist dabei nur zu verwundern, daß der gelehrte Herr die Entwick¬
lungstheorie nicht etwas weiter ausdehnte und die Forderung stellte, daß der
Unterricht mit den Sprachen und Kulturzuständen der rohesten Naturvölker be¬
ginnen müsse, um erst allmählich durch das Indische, Medische, Assyrische,
Persische, Ägyptische, Phönizische, Jüdische u. s. w. zu den Griechen und Rö¬
mern zu gelangen.

Sieht man etwas schärfer auf die streitenden Gegensätze und die unendlich
ausgebreitete Litteratur, die sich um diese Fragen entwickelt hat und stets weiter
entwickelt, so muß man notwendig bemerken, daß die Streiter oft von den
Hauptsachen, auf die es ankommt, außerordentlich unklare Vorstellungen haben.
Sie wissen weder etwas von den Eigenschaften des menschlichen Geistes, der


Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben.

dem Reinen Materie oder Stoff und Kraft zurecht zu machen, aber dergleichen
.Kunstgriffe halten auf die Dauer nicht vor, wenigstens nicht bei ernsteren
Männern. Der Zweifel erhebt sich bald auch gegen diese Götze», und nun
sieht man, wie sich die Grübler heimlich in das verbotene Feld der Philosphie
vertiefen. Der eine hat Schopenhauer, der andre Hartmann zu seinem
Heiligen erkoren, und selbst Hegel und Schelling spuken noch nach in den Kö¬
pfen der älteren. Daß aber einer dabei seine volle Befriedigung gefunden hätte,
habe ich allen Grund zu bezweifeln.

Werfen wir noch einen Blick auf das weite Gebiet dessen, was sich alles
unter der Rubrik der philosophischen Fakultät zusammen fassen läßt, so tritt
uns zunächst die Frage nach der besten Schule und Erziehung der Jugend
entgegen, da gerade sie in der letzten Zeit immer lebhafter besprochen wird. Es
muß dem ruhig betrachtenden fast unheimlich zu Mute werden, wenn er auf
den verwirrten zum Teil leidenschaftlich geführten Streit der entgegengesetzten
Parteien in dieser Frage hinsieht. Ob auf Gymnasium oder Realschule, ob
auf klassische Sprachen oder Naturwissenschaft das Hauptgewicht zu legen sei,
darüber hört man von hervorragenden Gelehrten ganz entgegengesetzte Ansichten,
und überall werden die Gemüter in Aufregung versetzt zur Stellung der weit¬
gehendsten Forderungen. Nicht nur Erfahrung wird gegen Erfahrung ins
Feld geführt, sondern auch allerlei spekulative Richtungen führen zu dem leb¬
haften Verlangen nach gründlichen Neuerungen. Auf einer Naturforscherver¬
sammlung wurde durch einen hervorragenden Redner der ganze Unterricht in
den alten Sprachen als unnötiger und schädlicher Ballast fürs Gehirn zum
Wegwerfen in die Rumpelkammer verurtheilt, und auf der folgenden Ver¬
sammlung in diesem Jahre setzte ein Professor der Philosophie auseinander,
daß die Darwinsche Entwicklungstheorie verlange: ebenso wie der menschliche
Körper als Embryo alle niederen Vorstufen früherer Entwicklungsformen durch¬
zumachen habe, so müsse auch der in der Schule zu bildende Geist erst die
früheren Entwicklungsstufen des Menschen im Altertum zurücklegen, also müsse
der griechische und lateinische Unterricht die Grundlage für alles andre Lernen
bilden. Es ist dabei nur zu verwundern, daß der gelehrte Herr die Entwick¬
lungstheorie nicht etwas weiter ausdehnte und die Forderung stellte, daß der
Unterricht mit den Sprachen und Kulturzuständen der rohesten Naturvölker be¬
ginnen müsse, um erst allmählich durch das Indische, Medische, Assyrische,
Persische, Ägyptische, Phönizische, Jüdische u. s. w. zu den Griechen und Rö¬
mern zu gelangen.

Sieht man etwas schärfer auf die streitenden Gegensätze und die unendlich
ausgebreitete Litteratur, die sich um diese Fragen entwickelt hat und stets weiter
entwickelt, so muß man notwendig bemerken, daß die Streiter oft von den
Hauptsachen, auf die es ankommt, außerordentlich unklare Vorstellungen haben.
Sie wissen weder etwas von den Eigenschaften des menschlichen Geistes, der


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[0322] Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben. dem Reinen Materie oder Stoff und Kraft zurecht zu machen, aber dergleichen .Kunstgriffe halten auf die Dauer nicht vor, wenigstens nicht bei ernsteren Männern. Der Zweifel erhebt sich bald auch gegen diese Götze», und nun sieht man, wie sich die Grübler heimlich in das verbotene Feld der Philosphie vertiefen. Der eine hat Schopenhauer, der andre Hartmann zu seinem Heiligen erkoren, und selbst Hegel und Schelling spuken noch nach in den Kö¬ pfen der älteren. Daß aber einer dabei seine volle Befriedigung gefunden hätte, habe ich allen Grund zu bezweifeln. Werfen wir noch einen Blick auf das weite Gebiet dessen, was sich alles unter der Rubrik der philosophischen Fakultät zusammen fassen läßt, so tritt uns zunächst die Frage nach der besten Schule und Erziehung der Jugend entgegen, da gerade sie in der letzten Zeit immer lebhafter besprochen wird. Es muß dem ruhig betrachtenden fast unheimlich zu Mute werden, wenn er auf den verwirrten zum Teil leidenschaftlich geführten Streit der entgegengesetzten Parteien in dieser Frage hinsieht. Ob auf Gymnasium oder Realschule, ob auf klassische Sprachen oder Naturwissenschaft das Hauptgewicht zu legen sei, darüber hört man von hervorragenden Gelehrten ganz entgegengesetzte Ansichten, und überall werden die Gemüter in Aufregung versetzt zur Stellung der weit¬ gehendsten Forderungen. Nicht nur Erfahrung wird gegen Erfahrung ins Feld geführt, sondern auch allerlei spekulative Richtungen führen zu dem leb¬ haften Verlangen nach gründlichen Neuerungen. Auf einer Naturforscherver¬ sammlung wurde durch einen hervorragenden Redner der ganze Unterricht in den alten Sprachen als unnötiger und schädlicher Ballast fürs Gehirn zum Wegwerfen in die Rumpelkammer verurtheilt, und auf der folgenden Ver¬ sammlung in diesem Jahre setzte ein Professor der Philosophie auseinander, daß die Darwinsche Entwicklungstheorie verlange: ebenso wie der menschliche Körper als Embryo alle niederen Vorstufen früherer Entwicklungsformen durch¬ zumachen habe, so müsse auch der in der Schule zu bildende Geist erst die früheren Entwicklungsstufen des Menschen im Altertum zurücklegen, also müsse der griechische und lateinische Unterricht die Grundlage für alles andre Lernen bilden. Es ist dabei nur zu verwundern, daß der gelehrte Herr die Entwick¬ lungstheorie nicht etwas weiter ausdehnte und die Forderung stellte, daß der Unterricht mit den Sprachen und Kulturzuständen der rohesten Naturvölker be¬ ginnen müsse, um erst allmählich durch das Indische, Medische, Assyrische, Persische, Ägyptische, Phönizische, Jüdische u. s. w. zu den Griechen und Rö¬ mern zu gelangen. Sieht man etwas schärfer auf die streitenden Gegensätze und die unendlich ausgebreitete Litteratur, die sich um diese Fragen entwickelt hat und stets weiter entwickelt, so muß man notwendig bemerken, daß die Streiter oft von den Hauptsachen, auf die es ankommt, außerordentlich unklare Vorstellungen haben. Sie wissen weder etwas von den Eigenschaften des menschlichen Geistes, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/322>, abgerufen am 25.08.2024.